Die Zeit endet hier

Erzählung zum Thema Sterben

von  Alias

Ich hänge an den Geräten und schlafe viel. Wenn ich aufwache, erkenne ich kaum jemanden, bis auf meine Tochter. Ich kann den Kopf nicht drehen, liege da, vollkommen bewegungslos, bin gefangen in meinem kranken Körper. Ich kann noch nicht einmal weinen, dazu fehlt mir die Kraft.
In den Momenten, wo es mir etwas besser geht und ich klar im Kopf bin, versuche ich mich aufzurichten, das klappt natürlich nicht. Ich frage meine Tochter, sie ist immer da, ich liebe sie so sehr, sie ist so ein gutes Mädchen, so eine gute Mutter, ich frage sie nicht nach meinen Enkeln, es ist besser, wenn die Kleinen mich nicht so sehen, aber ich frage meine Tochter, ob es nun so weit ist.
Sie zögert, dann nimmt sie meine Hand und drückt einen Kuss darauf. „Ja Mama, es ist soweit“, ich sehe, dass sie mit den Tränen kämpft und versuche tröstend ihre Hand zu drücken. Wahrscheinlich ohne Erfolg.
„Wie willst du es haben, Mama? Willst du bei Bewusstsein sein?“
Oh nein, oh nein! Kraftlos versuche ich den Kopf zu schütteln, aber wahrscheinlich bewegen sich nur meine Augen.
„Du wirst nichts spüren“, sagt sie.
Und ich glaube ihr. Kurz danach schlafe ich wieder ein, diesmal ist es kein tiefer Schlaf, diesmal ist er leicht, durchsetzt mit Träumen. Haben sie mir nicht genug Morphium gegeben? Wohl nicht, denn Schmerzen habe ich keine. Ich träume von meiner Kindheit, träume von meinem ersten Freund, träume von der Geburt meines Kindes, träume von der Liebe, ich habe viel geliebt, doch irgendwie immer Pech dabei gehabt, manche Männer haben mich verlassen, manche habe ich verlassen, an manchen bin ich kleben geblieben für lange Zeit. Warum? Was erhoffte ich mir? Vielleicht wollte ich einfach nicht loslassen, genauso wie jetzt. Ich will nicht loslassen. Das Leben nicht loslassen, obwohl ich weiß, dass es nicht mehr geht. Ich bin eben stur, ich bin stark, nein falsch, ich war stark, jetzt kann ich nicht einmal mehr einen Finger krümmen. Ich weiß nicht, ob ich wach bin oder schlafe, ich schließe die Augen, oder schließen sie sich von selbst?

Jemand tritt zu mir. Wer bist du? Bist du es, auf den ich mein ganzes Leben gewartet habe? Der den ich bedingungslos lieben würde und der mich auch bedingungslos liebt? Liebster, bist du endlich da? Was sagst du, ich kann dich nicht verstehen... Sprich lauter.
Und dann auf einmal spricht er ganz deutlich zu mir, Worte der Liebe, Worte des Trostes, Worte der Hoffnung.

Wunderschön siehst du aus, meine Geliebte
du hast eine Ahnung, lächelst in deinem Schlaf
denn du weißt nun, dass ich gekommen bin
langsam ganz sachte ergreife ich Besitz von dir
bis du nur noch an MICH denken kannst
nur ICH kenne dich, nur ICH weiß alles von dir
warum hast du dich so lange gegen mich gewehrt
ich liebe dich, und du liebst mich, meine Schöne
wir werden von nun an immer zusammen sein
sie sitzen schon an deinem Bett und trauern
du kannst nichts sagen, bist stumm und auch taub
lass es los und gehe mit mir, ich habe die Macht
warum wehrst du dich noch gegen unsere Liebe
es kann nur besser werden – die Zeit endet hier
und eine neue beginnt, eine Zeit ohne Schmerzen
ich bin der Tod, bin dein Geliebter, vertraue mir...

Einer, der mich annimmt als das was ich war und bin der mir immer zur Seite stehen wird, auch wenn die Zeit hier endet. Ich kann nicht anders, ich muss ihm vertrauen. Zaghaft lege ich meine Hand in die Hand meines Geliebten.

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