Gute Zeiten, schlechte Zeiten

Prosagedicht

von  Kama

Es hat immer schon Zeiten und Staaten gegeben

In denen, so lange sie währten,

Die Zeilen in den Büchern

So eng standen, dass sie sich berührten

und kein Platz für Gedanken dazwischen

und jede Geschichte war eine Paraphrase

der einen Geschichte.

Das sind die Zeiten 

der Mustermänner und Musterfrauen

des Gefühlkollektivs,

in denen selbst Liebe 

eines staatlichen Segens bedarf

und die Verleugnung des Freundes

Bürgerpflicht ist

(manchmal auch die Verleumdung)

In denen es kein Ich gibt, nur wir.

In denen der Staat das Privatleben frisst.

 

Dies sind die schlechtesten Zeiten und Staaten. 

Wer behauptet, sie wären nur anders,

lügt.

Es gibt bessere und schlechtere Zeiten. 

 

Wie gut eine Zeit und ein Staat ist

bemisst sich an der begründeten Hoffnung 

der Jugendlichen:

egal, wie groß ihre Nase

egal, wie weiß ihre Haut

egal, welches Geld ihre Eltern



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Kommentare zu diesem Text


 S4SCH4 (06.11.25, 14:32)
Interessant und stimmig. Das Werk ergreift Initiative und ist deutlich, lyrisch und und offen. Einzig und allein das „begründete“ bei der Hoffnung schmälert mir den Eindruck am Ende. Vielleicht soll es so sein, wenn nicht: Es kommt wie ein Rückzieher, ein Disclaimer rüber, ein: na ja, aber sprechen müssen wir darüber schon ... was vollkommen richtig ist, aber sich ein wenig hinter nur einem Wort versteckt. Sollte es gewollt sein: ein unscheinbarer Stolperstein.

 Kama meinte dazu am 06.11.25 um 14:51:
Hallo S4SCHA, ich kann das Stolpersteingefühl nachvollziehen, dennoch finde ich, dass es sich bei der Hoffnung notwendigerweise um eine begründete handeln muss, im Sinne von Grund zur Hoffnung. Natürlich kann man auch als 16-jähriger Jugendlicher im KZ Steine rollen und hoffen, dass er lebend rauskommt, es ist sogar jedem zu wünschen, in so einer Situation noch Hoffnung zu haben. Diese (individuelle) Fähigkeit auch in der grausamsten Situation noch Hoffnung zu haben, ist aber nicht gemeint. Das wollte ich deutlich machen. Die Nachkriegsgeneration zum Beispiel hatte sehr viel mehr Grund zur Hoffnung als die heutigen Jugendlichen. LG, Kama.

 S4SCH4 antwortete darauf am 06.11.25 um 14:59:
Begründet sollte sie sein, ja. Die Frage war nur: wie verhält es sich so direkt in den Zeilen. Es klingt mir wie eine stille Rechtfertigung (der Jugend), „ein ja Mama und Papa, ich weiß was ich tue, denn…“. Bitte nicht falsch verstehen, ich mag es ja. 

Was die Hoffnung der Nachkriegsgen. anbetrifft, da habe ich letztens schonmal überlegt: die Gen. ist, nachdem sie abgebrannt war, vollgesteckt mit US Dollars und einem „nun aber“ aufgewachsen. Die heutige Gen. tauscht ihre Hoffnung m.E. ein wenig ein, indem sie mehr jetzt lebt. Das ist auch okay. Just saying.

PS Hallo und herzlich willkommen :)

Antwort geändert am 06.11.2025 um 15:00 Uhr

 Kama schrieb daraufhin am 06.11.25 um 15:10:
Ach so, nein, ich meine das nicht als Rechtfertigung, ich finde es ist einfach ein crucial point. Dass die heutige Jugend mehr im Jetzt lebt, stimmt vielleicht im Verhältnis zur Zukunft. Das ist der Beschleunigung des Wandels geschuldet. Aber vielleicht lebt sie auch nicht im Jetzt, vielleicht lebt sie in einer Art Jenseits, weil das Jetzt durch die unberechenbare Zukunft an Substanz verliert.

 S4SCH4 äußerte darauf am 06.11.25 um 15:11:
Sehr gut in Worte gefasst, dein letzter Satz. Chapeau.

 Isensee (17.11.25, 21:37)
Ah, Kama, merke sofort: Du hast die Muse gepackt und ihr direkt den Ausweis abgenommen. Dein Text ist wie ein literarisches Kombi-Pack aus politischer Philosophie, Gedankensalto und leichtem Jugendbuch-Touch. Es fühlt sich wie bei „1984“ auf Espresso.
Ich muss gestehen: Ich liebe die Klarheit, mit der du die Gefangenschaft des Individuums im Kollektiv sezierst „kein Ich, nur wir“ trifft härter als jeder Montagmorgen. Die Vorstellung, dass Liebe staatlich geprüft werden müsste, ist herrlich absurd und doch so erschreckend plausibel. Du jonglierst mit Paraphrasen, Mustermenschen und Bürgerpflichten wie ein Zirkusartist auf Hochseil und ich gebe zu, ich habe manchmal den Boden unter den Füßen verloren.
Aber, und jetzt kommt der kleine, spitze Nadelstich: Dein Prosagedicht bleibt an manchen Stellen fast zu nobel im Abstrakten hängen. Manchmal wünscht man sich, dass die Zeilen nicht nur das große Ganze sezieren, sondern auch ein bisschen Dreck unter den Fingernägeln zeigen. Konkrete Momente, die einen kalt erwischen, statt nur die systemische Kälte zu beschreiben. Sonst läuft es Gefahr, wie eine perfekt gekleidete Theorie zu wirken, die nach dem Aufstehen sofort wieder zerknittert.
Nichtsdestotrotz: Dein Text ist ein Schlag ins Gesicht der bequem-dämonischen Normalität – elegant, intelligent und bitter nötig.
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