Am Grund

Kurzgeschichte zum Thema Ausweglosigkeit/ Dilemma

von  RainerMScholz

Am Grund



Ich weiß schon gar nicht mehr, weshalb ich eigentlich hier stehe, in dieser klaren, winterlichen weißen Weite, die das Grau des sinnlosen Himmels klauenhart umschließt, unter mir die Tiefe, auf eine seltsam verwirrende Weise auch über mir, die Tiefe, und der Abgrund. Meine Hände umklammern das Eisen der Brüstung. Der Himmel ist der Abgrund und dreiunddreißig Stockwerke unter mir geht die Sonne auf.
Aus welchem umnächtigten Grund bin ich auf diesen häßlichen Klotz aus verglastem Stahlbeton gestiegen, den sie hier in dieser Stadt zu einer ominösen omnipotenten Skyline zählen. Wieso stehe ich hier alleine auf einem dampfstrahlgeschwängerten Zementdach? Nicht wegen der Aussicht, soviel ist klar, die kriege ich auf jeder billigen Postkarte schöngeglänzt. Sonnenaufgänge hole ich mir an der Trinkhalle, und der Wind zerzaust nicht nur mein Haar, sondern schneidet mir auch den Atem ab.
Ich scheine es wohl vergessen zu haben.
Vielleicht wollte ich mich des Lebens berauben, aber das ist im Grunde so abgrundtief banal und irgendwie - langweilig.
Außerdem ist es scheißegal - equal!*
Bei der Arbeit wollten sie, daß ich diese lächerliche 'Stoßkappe' aufsetze, um die Werkssicherheit zu wahren. Ein lächerliches Hütchen, das mich vor mir selbst beschütze (?) und außerdem vollends der Absurdität preisgibt. Eine Narrenkappe auf und dann ab in die Mensa. Den Blicken aller ausgesetzt. Ich mußte kündigen und ihnen mitteilen, daß sie sich ihren dreckigen verlausten unterbezahlten Job in den Arsch schieben können. Obschon es natürlich nicht an der Kleiderordnung gelegen hat. Na schön, was soll's. Blödheit ist keine Entschuldigung.  Nichts ist das.
Die Sonne geht nicht auf. Nicht einmal ein Lichtschein am Himmel. An welchem auch immer.  Nur das rote pulsierende Leuchten in meinem Kopf, wie eine durchgebrannte Ampel auf einer nächtlichen, menschenleeren Kreuzung in einer toten Stadt. Nicht weiter gehen! Halt! Ende der Ausbaustrecke in jeder Richtung.
Alles letzte Ausflüchte, letzte Gründe, Fassüberlauftropfen und letzte Ölungen und Abschmierereien. Ausreden im Grunde vor dem Ausgeredethaben.
Immer noch besser, als seine letzten Habseligkeiten in einem verbeulten, von Aldi gestohlenen Einkaufswagen durch die Fußgängerzonen zu rollen, wenn die Räder quietschen und eiern und die Schulkinder mit Fingern auf einen deuten. Karlskrone ist die Macht, die die Nacht zum Tag macht! Wozu stand ich gleich hier oben, wo Himmel und Himmel sich treffen? Es ist beinahe so gleichgültig, daß ich mir die Antwort besser auf den Arm tätowiert hätte, als ich sie noch wußte.
Ich habe den Fernseher vergessen.  Ich wollte immer schon sehen, wie so ein verdammter Lügenzauberkasten mit seiner protzigen Vermattungsscheibe aus großer Höhe auf dem Pflaster zerschellt. In tausend Teile und Splitter. Ich glaube, sie sind unzerstörbar.
Silikon hält zwanzig Jahre länger, als die aufgemotzten Plastikschlampen, die jetzt auf dem Friedhof verfaulen. Ihre Titten überleben den thermonuklearen Krieg. Nein, ich will nicht über den Wahnsinn auf der anderen Seite der Welt reden. Und nicht über Penisimplantate.
Und nicht von Wahrheit, die nicht mehr stimmt.
  Ein nächstes Mal wird es nicht geben.
  ‚Napalm Death’ singen, daß sie in einer Welt ' full of shit ' leben - na bitte. Was brauche ich schon solche Aussagen. Ich lese einfach die Bibel der täglichen Selbstaufgabe, der erniedrigenden Demütigung und der unzähligen Gesichtsverluste, um zu wissen, daß es das nicht wert ist.  Schrödingers Katze hatte recht, aber ich sehe keine anderen Welten, keine nächste Galaxie, nicht einmal eine andere, als diese einzigartig öde und stupide Dimension.
Was ist schon vernünftig. Dieser Begriff existiert in humanistischen Gedankenwolken, deren Halter sich etwas Besseres leisten können. Wer kann schon.
Alles geht unter in einem riesigen, glühenden, blutenden Atomstrudel.  Die Schönheit eines einzigen, alles verzehrenden Augenblicks. Ich träumte davon sehenden Auges; doch das wäre wohl zu einfach. Ein langsames, quälendes erbärmliches Siechtum der Kreatur haben wir befohlen!  Im Altersheim versteckt, krepiert die Pest der Offenbarung. Wen kümmert das noch,
außer den lustig massakrierenden Seelenraubrittern, die bei Caritas im Helft-den-Vampiren-Ausschuß des Blutspendedienstes sitzen.
Vergessen wir das.
Meine Finger sind schon ganz klamm. Es ist kalt, zwischen den Horizonten. Schon längst frage ich nicht mehr, welche Grade in tieferen Sphären zählen. Nur das Rollen der Räder vernehme ich aus einer Ferne, die mir doch so unheimlich vertraut, so nah erscheint. So nebenbei und durch mich hindurch.
Vielleicht werde ich ein Engel sein. Oder einfach tot.
Ich erwarte den freien Fall, wie der Henker den Strom für den Stuhl einschaltet. Ich bin nicht ich, aber näher war ich nie. Wie auch.
Ich fiebere den freien Fall. Gott hält die Enden meines Bungee-Seils um seinen kleinen Finger gewickelt.



© Rainer M. Scholz

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