der mann aus der schlucht

Text zum Thema Abgrund

von  pArAdoX

sie rennt. sie schluchzt. salzige tränen rinnen an ihrem markanten gesicht hinunter. stundenlang schon rennt sie umher. übers feld. durch den wald. durch eine dunkle landschaft, immer tiefer rein, als würde sie sie auffressen wollen. endlich bleibt sie stehen. keuchend. sie kann nicht mehr. sie spürt ihre beine nicht mehr. das war zu viel. sie setzt sich auf einen umgefallenen baumstamm. es ist eine warme sommernacht. die luft ist perfekt. sie durchwühlt ihre tasche, als würde sie etwas bestimmtes suchen, es aber nicht auf anhieb finden. sie ist verzweifelt, kippt ihre tasche aus. jetzt hat sie's: eine zigarette. so, nun fehlt noch ein feuerzeug. zwischen einem kajalstift, ihrem schlüssel, handy, portemonnaie, einem brief und ihrem mp3-player findet sie auch das endlich. sie will sich die zigarette anzünden. es funktioniert nicht. es geht einfach nicht an. sie fäng an zu schreien, zu kreischen, zu weinen und feuert dieses verdammte feuerzeug auf den weg. da liegt es nun. neidisch guckt sie es an. "du kannst nicht fühlen, dir tut es nicht weh, wenn man dich wegwirft, wie müll. dafür haben wir etwas anderes gemeinsam: wir sind beide leer. leer, verbraucht und nicht ohne hilfe wieder aufzufüllen." sie blickt in den himmel. der mond lächelt sie mitleidig an. keiner weiß, was ihr widerfahren ist. nur sie.
plötzlich springt sie auf und stürzt sich auf das feuerzeug, versucht es weiter. nach abertausenden versuchen hat sie es nun endlich geschafft, ihre zigarette anzuzünden. sie zieht. ein wohliges gefühl steigt in ihr auf. wenigstens dadurch fühlt sie sich ansatzweise beruhigt, zufrieden, geborgen. etwas oder jemand anderes kann ihr solch ein gefühl nicht geben. schon lange nicht mehr. früher hat sie jedem und allem vertraut, hat immer das positive in allem gesehen - seit jenem tag jedoch, kann sie das nicht mehr. seit jenem tag ist die schönste blume hässlich, ist sex ekelhaft, ist musik lärm, ist theater widerlich, sind reisen zeitverschwendung, sind freundschaft und jegliche beziehungen das letzte was ein mensch braucht, -seit jenem tag ist alles positive negativ. seit jenem tag ist sie verloren. sie muss in eine schlucht gefallen sein, niemand konnte oder wollte sie auffangen. sie hat mit sicherheit lange, lange zeit versucht wieder hinaufzuklettern - doch sie ist immer wieder hinutergefallen. immer wieder. also hat sie aufgegeben, hat sich mit ihrer situation abgefunden für immer in dieser schlucht gefangen zu sein. sie sieht zwar jeden tag die sonne aufgehen, jeden tag ein licht am ende der schlucht, aber das berührt sie nicht mehr. es interessiert sie nicht mehr. das einzige, was sie hier unten tag für tag tut, ist, ein seil, ein strick, irgendwas zu suchen, um diesem hoffnungslosen leben ein ende zu setzen. doch wie? wie nur? wahrscheinlich würde sie, selbst wenn sie es schafft die schlucht wieder raufzuklettern, würde sie von oben wieder runterspringen.
das denkt sie also während sie da so neben ihrem feuerzeug liegt. als sie den letzten zug genommen hat, drückt sie die zigarette aus und erhebt sich. steht jetzt wieder. ihre beine zittern nicht mehr. sie hat sich wieder beruhigt.

so nimmt sie den rückweg in angriff. ganz langsam läuft sie zu ihrem haus am meer. angekomen, schließt sie still und heimlich die tür auf. geht die treppe hoch, schaut nach ihren kindern, sie schlafen. tapselt weiter ins schlafzimmer, zieht sich bis auf die unterwäsche aus. guckt aus dem fenster während sie ihre gute-nacht-zigarette raucht. angezündet mit einem vollem feuerzeug.
aufgeraucht. sie legt sich ins bett. legt sich zu dem mann, dem sie es zu verdanken hat, in der schlucht zu sein. legt sich zu dem, der sie damals reingeschubst hat. legt sich zu dem mann, der damals jedes seil, jeden strick von dort entfernt hat.

zu dem mann, der es niemals zulassen wird, dass sie flüchten kann.


Anmerkung von pArAdoX:

entstanden: Januar 2007

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Kommentare zu diesem Text


 RainerMScholz (16.04.07)
...würde sie von oben wieder runterspringen.
Der Satz, der die ganze Ausweglosigkeit beschreibt, eingebettet in eine wunderbar einfache Szene, extrapoliert anhand des defekten Feuerzeugs.
Grüße,
R.
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