S-Bahn Impressionen.

Text

von  Elén

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Ich habe keine Bürgschaft übernommen, nicht für den einen, nicht für den anderen, nicht für mich. Wo soll es hingehen, fragt mich die alte Ergraute am Schalter, blickt erfroren über den oberen Brillenrand, rückt ihre dicken Hüften hinter dem Glasfenster zurecht. Sie ist blass um die Stirn, ihre Finger teilen unruhig die Luft, auf dem Kopf zerstreut sich Neonlicht und splittert in die nächtlichen Bahnhofshallen. Wo ich hin will? Mein Blick will ihr, so scheint es, undeutbar gewesen sein, sie wurde sichtlich steifer im Mundwinkel, hob die Brauen und schnaubt ungeduldig in die fleischigen Nasenflügel.

Wien, ich will nach Wien. 23. Dezember 01.34, nach Wien. Macht dreiunddreißig Euro, sie zieht das Ticket aus dem Gerät, schiebt das Papier unter dem Panzerglas durch und wünscht mir nichts weiter. Ich wünsche mir auch nichts.

Es ist kalt, die Tage liegen im Eis, der Gefrierpunkt längst unterschritten. In den alten Gemäuern hat sich der Winter eingenistet und, obwohl ich gut bekleidet bin, mag die Kälte durch den Stoff kriechen, ich friere. Langsam gehe ich Richtung 'Gleis Sieben', dort soll der Zug in genau zwanzig Minuten ankommen. Züge haben immer Verspätung, so ist die Welt gebaut.

Wenn Mutter nicht tot wäre, wenn sie wäre, wie die Märchen aus meinen Kindertagen, könnte ich Weihnachten feiern. Ich grabe in der Erinnerung, schichte den der Zeit komprimierten Hirnstoff, Gesternballast um, wühle im Dunklen: ich habe keine Mutter. Als ich von zuhause wegging sagte sie, es würde mir noch einmal leid tut. Seit Jahren warte ich auf diesen Augenblick, vielleicht sehne ich ihn sogar herbei. Kennst du eine Fremde, die behauptet Kinder zu haben?

In der Ecke hinter den Mülltonnen, genau dort, wo die grünstichige Mauer steil vorspringt, ihren langen Schatten auf den Asphalt wirft, liegt ein Penner. Er blutet aus der Nase, lehnt den Rücken knöchern an die Wand, hält in der rechten Hand eine Wodkaflasche. Ich sehe kurz hin, wende den Blick wieder ab, man starrt nicht auf arme Leute. Ob er heute Nacht erfrieren wird? Sein Mantel scheint nass, seine Schuhe liegen zerschlissen am Bein und nur manchmal, wenn eilige Passanten über seine Füße stolpern, hebt er kaum merklich die Lider und äugt teilnahmslos aus den Augenschlitzen. Seine Ohren sind weiß, weiß wie gebleichtes Papier. Über seine linke Hand, sie liegt vergessen am Boden, läuft eine Ratte. Es gibt hier Ratten, das hätte ich nicht gedacht. Noch sieben Minuten.

Als ich die Wohnung aufgelöst, als ich die Arbeitsstelle gekündigt, den Wagen verkauft habe, um das Geld auszugeben für Leben, für irgend etwas, hauptsächlich für ziellose Zugtickets, setzte sie mich vor die Tür. Scher dich zum Teufel. So ist das also, dachte ich und mir gingen die Augen über vor Erkenntnis. Ich besitze nichts mehr, keine Wertpapiere, kein Dach über dem Kopf, ein paar speckige Euroscheine knittern in der Manteltasche; wenn ich dir sage ich fühle mich leichter, du würdest mich auslachen.

Ich bin viel gereist um das Geld. Gereist, oder durch die Gegend gefahren, zumeist mit der S-Bahn, ICE.  Was ich gesehen habe: ich erinnere mich nicht. Vielleicht Landschaften, oder Städte mit ihren berühmten Wahrzeichen, Gebirgszüge, Meere, Strände, oder Straßen, Gleise, Himmel, Schnee, viel Regen. Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Denkst du es ist von Bedeutung?

02.14, es beginnt wieder zu schneien, mein ausgehauchter Atem gefriert in der Luft und das Brausen, jenes mit dem Zug durch die Einfahrtsschneise sprengt, beißt sich hart in die Wangen. Morgen um diese Zeit werden sie alle reich beschenkt sein und genau so wenig besitzen wie zuvor; werden mit vollen Bäuchen in ihrer feierlichen Weihnachtsbettwäsche schlafen und einfach träumen. Manche Leben sind einfach, manche eben nicht. Ich steige aufs Trittbrett, verlasse den Bahnsteig: keine Bürgschaft, nicht für mich, nicht für irgendwen. Sogar die Märchen habe ich vergessen.



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Anmerkung von Elén:

(alter Text)

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Kommentare zu diesem Text

angyal (44)
(06.01.08)
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 Elén meinte dazu am 06.01.08:
ist das als pos. od. negat. zu werten? :)

dank fürs lesen/hören

lg Dir
angyal (44) antwortete darauf am 06.01.08:
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 Elén schrieb daraufhin am 07.01.08:
Dank für die Erläuterung. _ Obwohl, ich persönlich die Vertonung nicht so berauschend finde. Eben: die erste. Versuch Versuch..

liebe Grüsse Dir,
A.
jovanjovanovic (61)
(06.01.08)
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leipo (42)
(06.01.08)
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minze (21) äußerte darauf am 06.01.08:
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leipo (42) ergänzte dazu am 06.01.08:
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AbeggRichard (44)
(06.01.08)
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 Bergmann (06.01.08)
Stark formuliert. Deine Welt.
myrddin (47)
(07.01.08)
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locido (21)
(09.01.08)
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 Elén meinte dazu am 09.01.08:
eher weniger denn mehr. -

dank fürs lesen/hören.

lg :)
locido (21) meinte dazu am 10.01.08:
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 Reliwette (12.01.08)
Ein Text, der von großer schriftstellerischer Reife zeugt. Auch die Rezitation ist "entwaffnend" . Ein großes Kompliment an Dich, Elén!
Der alte Kunstmeister
octave (24)
(19.01.08)
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 Elén meinte dazu am 19.01.08:
Dank fürs Lesen. - Ich möcht gern nachfragen: Findest du das ges. "Penner-Bild" banal od. unerwähnenswert oder bzw. was ist mit 'banal' gemeint oder lediglich die nachgeschobene Bemerkung. Dieses, `Nun, das hätte ich nicht gedacht`.

liebe Grüsse.
octave (24) meinte dazu am 31.01.08:
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neinneigung (33)
(27.06.08)
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Müller (45)
(30.01.09)
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 obar75 (01.08.10)
Am besten hat mir der Satz „Manche Leben sind einfach, manche eben nicht“.
Finde auch gut, das du nicht das glitzernde Schöne in diesem Text beschreibst, sondern das Warten und das Wahrnehmen, was um einen herum passiert. Das Negative, vielleicht auch Abstoßende, was die Menschen gerne verdrängen und nicht wahrnehmen wollen.
Sardinenfischer (48)
(20.11.13)
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