15. Oktober: Wir sind am Ziel

Tagebuch

von  Raggiodisole

15. Oktober: Wir sind am Ziel

Von Pedrouzo nach Santiago de Compostela

Um 15. 25  stehen wir vor der Kathedrale von Santiago de Compostela und können es nicht fassen – wir sind am Ziel angekommen. Fast fünf Wochen waren wir unterwegs, in las botas und mit einem 12-14 kg schweren Rucksack auf den Schultern, der unser ganzes Leben enthielt.

Es ist schwer die Gefühle in Worte zu fassen.
Die letzten 17 (?) km sind auch irgendwie verwischt – bergauf und bergab, irgendwann in San Paio einen Kaffee getrunken. Beim Gehen immer wieder der Gedanke, dass du heute dein Ziel erreichst.
Die letzten Kilometer ziehen sich, wie immer. Ich kann es kaum erwarten, endlich auf dem Monte do Gozo, dem  Berg der Freude zu stehen und wie Millionen Pilger vor mir das erste Mal auf Santiago zu schauen.
Aber es kommt immer wieder noch eine Kurve und es geht noch ein kleines Stück weiter. Dann endlich gehen wir durch das Dorf und kommen zu dem kleinen Hügel, auf dem das Denkmal steht. Gitti als die Fittere von uns beiden stürmt gleich hinauf. Ich schmeiß erst mal den Rucksack und krall mir die Kamera. Und dann kann auch ich den so heiß ersehnten ersten Blick auf die Stadt werfen. Also, würde ich können, wenn da nicht ein paar Bäume im Weg wären. Man sieht schon ein paar Häuser, und da alle sagen, dort liegt Santiago, sehen wir es halt auch.
Aber wir wissen, dass es bis dahin noch 5 Kilometer zu gehen sind. Also beschließen wir, nur eine kurze Rast zu machen. Auf einmal kommen die beiden älteren Damen, die wir schon vor ein paar Tagen in Begleitung ihres „guides“ gesehen haben. Sie sind allein. Wir begrüßen uns herzlich, obwohl wir ja eigentlich noch keine fünf Worte mit ihnen gewechselt haben. Aber das ist auch eines der Caminowunder (sag ich mal): man sieht sich ein paar Mal, grüßt oft nur im Vorbeigehen, aber wenn man sich dann wieder trifft ist eine Verbundenheit da, die es nur auf dem Camino gibt. Zumindest ist mir so was vorher noch nie passiert. Nein, nein, das ist schon ein Zeichen des Caminos, er verbindet. Verbindet auf eine ganz eigene Weise. So auch die beiden Damen mit ihrem Begleiter. Sie erzählten uns nämlich, dass er ein Weggefährte gewesen sei, der eine Woche einfach mit ihnen mitgegangen sei. Sie selber machen eine organisierte Pilgerreise. Die Etappenziele sind vorgegeben und das Hotel für den Abend ist reserviert. Sie seien beide schon weit über die 60 und es wäre für sie die einfachere Art zu pilgern. Warum nicht? Jeder soll auf seine Art und Weise den Camino gehen. Es gibt nicht nur „einen“ Camino, es gibt hunderttausende Caminos.
Wir wünschen ihnen ein letztes Mal „Buen camino“, dann schultern wir unsere Rucksäcke. Fünf scheinbar nie enden wollende Kilometer laufen wir auf die Stadt zu. Bei der Ortstafel nehmen wir uns an den Händen und machen miteinander die ersten Schritte nach Santiago hinein. Und es kommen noch einmal ein paar Kilometer dazu, zumindest kommt es uns so vor. Wir sehen äußerst selten gelbe Pfeile oder Muscheln und nur ein paar markante Punkte, die wir aus unserem Adi herauslesen, beweisen uns, dass wir doch auf dem richtigen Weg sind.
Dann stehen wir plötzlich auf einen großen Platz, vor uns eine große Kirche – und wir realisieren es im ersten Moment gar nicht – wir sind am Ziel. Wir stehen vor der Kathedrale von Santiago de Compostela.

Wir setzen uns erst einmal auf eine Steinbank, zu aufgewühlt sind wir. Die Tränen rollen uns über das Gesicht und wir umarmen uns. Dann gehe ich in die Kathedrale. Pilger aus aller Herren Länder sitzen hier und danken für den glücklichen Ausgang ihrer Pilgerfahrt, suchen Momente der Ruhe und Besinnung, begrüßen Mitpilger.
Daniel ist auch schon da und wir fallen uns in die Arme. Dann setz ich mich ein wenig in eine Bank und lass meinen Gedanken freien Lauf.
Schließlich kommt auch Gitti in die Kathedrale und eine ganze Weile sitzen wir einfach nur da.
Dann wird es Zeit, ein Zimmer zu suchen. Die Pilgerherberge liegt am Stadtrand und wir haben keine Lust, noch mal zurück zu gehen. Die Suche gestaltet sich schwierig, weil die Hostals in der Nähe der Kathedrale schon alle ausgebucht sind. Aber wir finden doch noch ein Hotel in einer kleinen Seitengasse. Schnell geduscht und einen Kaffe getrunken. Es treibt uns wieder zur Kathedrale. Auf dem Weg dorthin treffen wir den deutschen Radfahrer aus Azofra, in der Kathedrale dann die beiden Mädls aus der Steiermark. Birgit, mit der wir in Sarría und Portomarín zusammen waren, läuft uns auch über den Weg. Groß ist die Freude über das Wiedersehen.

Die Compostela haben wir uns natürlich auch gleich geholt. Dieses Schriftstück wird im Pilgerbüro von der Erzdiözese Santiago ausgestellt und bescheinigt, dass und von wo aus man den Camino gegangen ist. Es war ein erhebendes Gefühl, sie zum ersten Mal in Händen zu halten. Sie bekommt auch einen Ehrenplatz bei mir zuhause. Genauso wie eine Wandfliese mit der gelben Muschel, die kommt an die Hausmauer.

Wir spazieren noch ein wenig durch die Altstadt von Santiago und sehen immer wieder bekannte Gesichter. Hunger haben wir nicht wirklich, also begnügen wir uns mit einem Kebab. Ja, ehrlich, Kebab in Spanien, auch das gibt’s.
Schließlich schlendern wir zurück zu unserem Hotel. Es war ein langer Tag. Und es war ein schöner und wichtiger Tag. Ein Traum ist wahr geworden – wir sind in Santiago

Illustration zum Text
(von Raggiodisole)
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