6. Juni: Von Altbekanntem und dem Gegenteil

Tagebuch

von  Raggiodisole

Von El Acebo nach Ponferrada


„Vor 6:30 Uhr steht keiner auf.“ Mit diesen Worten beendete Marian, die nette Schweizer Hospitalera gestern das gemeinsame Abendessen. Das war übrigens, im Vergleich zum Vorjahr hervorragend. Ein kastillischer Fischeintopf, Tomatensalat und Obst zum Nachtisch. Die Tischgemeinschaft bestand aus acht Nationen: Schweiz, Kolumbien, Brasilien, Portugal, Deutschland, Ungarn, Österreich und Italien.
Wir waren sehr froh über diese Herbergsregel, konnten wir so alle einmal ohne lästiges frühmorgendliches „Knistertütenrucksackpacken“  länger schlafen.
Nach einem spartanischen Frühstück, das wir vom Vorjahr gewohnt waren, geht es los Richtung Riego de Ambros. Dann kommen wir ins Tal der Nachtigallen. Ich habe es vom Herbst noch sehr gut in Erinnerung. Nicht nur wegen der „Guccitaschen“-Pilgerinnen*, sondern vor allem wegen der Stille und der schönen Landschaft. Ganz schmal windet sich der Pfad ins Tal hinunter, wo ein großer, alter Baum Schatten spendet und zum Ausruhen einlädt. Dort treffen wir Roberta wieder und machen gemeinsam eine kurze Pause. Weiter geht es nach Molinasecca, wo es heute Fließwasser gibt und wir in der Bar  problemlos unseren geliebten caffè con leche bekommen*.
Und dann zieht es sich wie beim  letzten Mal bis nach Ponferrada hinein und es ist genau so heiß wie im Oktober. Ein deutsches Ehepaar holt uns ein und die Frau spricht mich an. Sie hätte mich in Molinasecca Spanisch reden gehört und sie hätte da ein Problem, bei dem ich ihr vielleicht helfen könnte. Ob ich denn zufällig das spanische Wort für Verstopfung wüsste?

Schon vor meinem ersten camino hab ich mir ein paar Wörter ganz besonders eingeprägt, von denen ich angenommen habe, dass sie vielleicht wichtig sein könnte. Also auch ein paar Ausdrücke für diverse Krankheiten. Da ich öfter mal in verschiedenen Foren gelesen hatte, dass Pilger manchmal unter Durchfall leiden, war natürlich das spanische diarrea auch in meinem Vokabular. Aber leider nicht das spanische Wort für das Gegenteil. Und mein kleines Wörterbuch ruht irgendwo in den Tiefen meines Rucksackes, schließlich braucht meinereiner das ja nicht mehr wirklich.
Aber was solls, in der Apotheke erklärte ich der Verkäuferin einfach, „que la señora tiene lo contrario de la diarrea y quiere pastillas.” und die Frau bekam ihre „Tabletten für das Gegenteil von Durchfall“.
Problem gelöst und wir können uns um ein Bett kümmern. In der Herberge „Nikolaus von der Flue“ müssen wir das erste Mal anstellen für unser Nachtlager. Heuer  betreut ein Ehepaar aus Bayern die Pilger und wir werden sehr nett aufgenommen. Wir bekommen ein Vierbettzimmer und gerade als wir zum supermercado gehen wollen, trudelt Roberta ein und wir lotsen sie zu uns ins Zimmer.
Dann wird eingekauft, weil heute kocht „el jefe Lukas“ ein richtiges menu do peregrino – ja klar: Maccaroni con atun, ensalada de tomates und zum Nachtisch una macedonia, also ensalada de frutas. Ich darf die niedrigen Arbeiten verrichten, Zwiebel, Tomaten und  das Obst für den Nachtisch schneiden  und dann den Abwasch erledigen. Aber so ist nun mal das Los von Müttern von Chefköchen. Es bleibt noch was übrig vom köstlichen Mahl und wir laden einen deutschen Pilger ein, sich doch zu bedienen. Er humpelt ziemlich und erzählt mir dann beim Essen, dass er seit Tagen seinen Freunden mit dem Bus hinterher fährt, weil er eine schmerzhafte Tendenitis hat. Ich gebe ihm von den Tabletten, die mir der Arzt im Vorjahr in St. Domingo de la Calzada dafür verschrieben hat in der Hoffnung, dass sie bei ihm genauso gut helfen wie bei mir.
Nach dem Essen wird gefaulenzt und ein wenig Kreuzworträtsel gelöst. Der Masseur ist auch wieder in Einsatz und Lukas lässt sich seine Wade massieren. Ich lass mir meine Blase verarzten und dann genehmigen wir uns ein Bier.
Inzwischen ist auch Roberta wieder „zivilisiert“ und lädt uns zu Spaghetti ein, die sie gemeinsam mit Claire, einer Kanadierin gekocht hat.
Wir nehmen dankend an und plaudern dann noch eine ganze Weile: Englisch, Französisch, Deutsch und Italienisch, und wir verstehen uns alle sehr gut.
Ich lasse die beiden auch eine Karte ziehen.
„El camino es la meta“ -  „Der Weg ist das Ziel“ lautet der Spruch von Roberta.
Genau darüber haben wir uns am Vormittag im Tal der Nachtigallen unterhalten. Roberta meinte, dass sie am Anfang ihres Weges eigentlich kein Ziel vor Augen gehabt hätte, aber im Laufe des Weges hätte sich das geändert.
Ist schon eigenartig mit diesen Karten.

Ich hab heute übrigens folgenden Spruch:

No sueños tu vida,
vive tu sueño.

Und genau das tue ich gerade, ich lebe meinen Traum, wieder auf dem Weg zu sein. Und es wird bestimmt nicht das letzte Mal sein.

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