Am Bahnsteig

Bild zum Thema Mitmenschen

von  NormanM.

Nun steh ich am Bahnsteig und warte auf den Zug. Ich habe noch Zeit, mehr als genug, um mich zu langweilen, nachzudenken und zu beobachten.
Ich lasse meinen Blick über den Bahnsteig schweifen, auch über die Nachbarbahnsteige, und auch die Treppe herunter, die zu meinem Gleis führt. Überall Leute um mich herum, die warten, und es kommen immer wieder Leute zum Gleis hoch, um zu warten. Alle warten auf ihren Zug, alles verschiedene Leute.

Ein paar Meter von mir entfernt steht eine junge Frau. Nachdenklich blickt sie vor sich hin. Ihr Gesichtsausdruck scheint traurig. Woran sie wohl denkt? Was ist wohl passiert, dass sie so traurig aussieht? Vielleicht hat ihr Freund sie verlassen oder sie ist unglücklich verliebt. Vielleicht ist auch etwas ganz anderes passiert, was sie so grübeln lässt.
Ich kenne diese Frau nicht, aber ich hoffe, dass sie bald wieder lachen kann.

Wenige Meter neben dieser Frau steht ein Jugendlicher. Zurückgelehnt steht er da und sieht ebenfalls nur so vor sich hin. Traurig wirkt er nicht, nur gelangweilt. Mit ihm ist offensichtlich alles okay, außer dass ihn die Warterei auf diesen Zug nervt. Dann hoffen wir mal, dass der Zug bald kommt und nicht auch noch Verspätung hat.

Weiter daneben sehe ich eine Gruppe von Menschen mittlerem Alters, hauptsächlich Frauen. Sie unterhalten sich fröhlich, ich verstehe zwar kein Wort, aber das Gelächter ist nicht zu überhören. Vielleicht ein Kegelclub oder so, der einen Ausflug macht oder eher von einem Ausflug zurückkehrt, es ist ja schon Sonntagnachmittag. Auf jeden Fall scheinen sie gut gelaunt zu sein und einen schönen Tag gehabt zu haben. Ich freue mich für diese Leute. Es gibt nichts Schöneres als gutgelaunt zu sein und zu lachen.
Ich hatte auch einen schönen Tag und habe viel gelacht, was mir auch richtig gut tat.

Rechts neben mir unterhält sich ein junges Paar. Oder es kann sein, dass es Freunde sind. Freundschaft ist etwas Schönes.

Unten an der Treppe steht eine Frau. Sie steht mit dem Rücken zur Treppe, so als sei sie schüchtern und traue sich nicht hochzugehen. Vielleicht wartet sie auch auf jemanden.
So von hinten mit ihren langen schwarzen Haaren sieht sie aus wie eine Frau, die ich kenne, auch von der Statur und der Kleidung passt es. Ob sie es wohl ist?
Gerade als ich hinuntergehen möchte, um nachzusehen, ob sie es ist, dreht sie sich um und sieht zum Gleis hoch. Sie ist es doch nicht. Schade. Hätte dann nämlich ein wenig mit ihr plaudern können, ich hab sie schon länger nicht mehr gesehen. Da gäbe es mit Sicherheit einiges zu erzählen.
Wie es ihr wohl geht? Vielleicht melde ich mich die Tage mal bei ihr.

Auf dem Bahnsteig gegenüber steht ein Typ, und wie er dort steht. Mit coolem Blick geht er sich durch die Haare, richtet seine Frisur, während er sich in alle Richtungen umsieht. Er muss sich wohl vergewissern, dass ihn alle sehen. Besonders zu dem Mädchen, dass neben ihm steht, sieht er ständig rüber als warte er darauf, dass er ihr auffällt. Sie würdigt ihn jedoch keines Blickes.
Einen Moment später kommt seine Bahn. End of Showtime für ihn.

Am Nachbargleis geht ein junges Mädchen herum und spricht nacheinander einige Leute an. Vermutlich fragt sie nach etwas Kleingeld. Sie ist vielleicht 16 Jahre alt, noch so jung, traurig, dass sie so ein Leben hat. Was ihr wohl passiert ist? Vielleicht kam sie mit ihren Eltern nicht klar und ist abgehauen, weil sie es dort nicht mehr aushielt. Oder vielleicht wurde sie auch rausgeschmissen. Was für Eltern schmeißen ihr Kind raus und lassen es zu, dass sie auf der Straße lebt? Vielleicht hatte sie auch gar keine Eltern und war im Heim aufgewachsen. Und irgendwann hat sie es da nicht ausgehalten. Ich glaube, dass wird es sein. Ich glaube nicht, dass irgendwelche Eltern es übers Herz bringen, ihr eigenes Kind rauszuschmeißen, auch wenn es noch so großen Mist gebaut hat.
Ich hoffe, dass sie eines Tages ihre Chance bekommt und ein normales Leben führen kann.

Die junge Frau an meinem Bahnsteig steht noch genauso da mit unveränderten Blick. Die Frauen aus der Gruppe höre ich immer noch lachen. Das Warten nervt sie gar nicht. Gemeinsam zu warten ist auch nicht so schlimm und lässt die Zeit schneller vergehen. Aber wenn man alleine warten muss, dann erscheint eine einzige Minute so lang.

Der Typ neben der jungen Frau, der so gelangweilt vor sich hingesehen hat, telefoniert jetzt. Und dabei unterhält er den ganzen Bahnhof, zumindest den Bahnsteig. Redet die ganze Zeit davon, wie viel Kohle er noch hat. Selbst die junge Frau wird aus ihren Gedanken herausgerissen und sieht genervt zu ihm hinüber. Sie denkt wohl dasselbe wie ich.

Auf den ersten Blick sieht ein Bahnhof einfach nur so aus, als würde dort eine riesige Menschenmasse auf die Züge warten. Doch wenn man etwas genauer hinsieht, stellt man fest, dass diese Menschenmasse aus verschiedenen einzelnen Menschen besteht, die alle ihre eigene Geschichte haben, die sich hinter ihnen verbirgt.

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Kommentare zu diesem Text


 Omnahmashivaya (18.01.08)
Hallo, interessante, alltägliche Beobachtungen, denen du durch das Nachdenken Beachtung schenkst. Lg Sabine
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