Die Nacht über konnte er kaum schlafen, weil sich seine Gedanken nur um Nadja drehten. Am nächsten Morgen war er immer noch total aufgeregt, spätestens in den letzten beiden Stunden würde er sie wieder sehen. Er konnte nicht verstehen, wieso sie nicht aus seinem Kopf ging, weil er ja nichts von ihr wollte.
Die ersten beiden Stunden waren die Hölle. Sie schienen einfach nicht herumgehen zu wollen und er verstand mal wieder nichts. Aber kein Wunder, wenn er sich nicht konzentrieren konnte. Aber auf Mathe und Physik konnte er sich sowieso nie konzentrieren, wie auch, wenn man nichts versteht. Es ist so, als wenn man in einem Fremdsprachenkurs für Fortgeschrittene einsteigt, ohne ein einziges Wort von dieser Sprache zu kennen. Er war jedenfalls froh, als die ersten Stunden vorbei waren und ging in die Cafeteria, wo er auch Nadja sah. Er spürte, wie sein Herz plötzlich wieder schneller zu schlagen begann. Bei ihr war natürlich Grünwald, wie konnte es auch anders sein. Er überlegte, ob er sich trotzdem zu ihnen gesellen sollte, aber in dem Moment sah er Dobring und Katja, die sich schon auf die beiden zu bewegten, und damit hatte es sich auch schon für ihn erledigt. Bei zwei hübschen Mädchen und zwei Weiberhelden war er einfach überflüssig, und außerdem war Ulrichsen gerade im Anmarsch, und das bedeutete sofort fliehen. Es gelang ihm glücklicherweise noch so gerade eben unbemerkt – oder auch nicht – ihm zu umgehen und ging in den Kursraum, wo er jetzt Französisch hatte.
In diesen zwei Stunden konnte er sich endlich ablenken, denn da galt sein Interesse wieder nur ausschließlich Frau Langers. Der Vorfall mit ihr war für ihn inzwischen Schnee von Gestern, als sei es nie passiert. Allerdings endete diese Ablenkung bereits in der nächsten großen Pause, als er Nadja über dem Weg lief. Sie lächelte ihn im vorbeigehen an, er lächelte zurück und grüßte, erschrak aber, da er sie so unvorbereitet traf. Er hoffte, dass sie es nicht gemerkt hatte. Dobring war dabei, ihn grüßte er auch.
Auf den „Schreck“ brauchte er erst mal ein Eis, das er sich an der Tankstelle gegenüber der Schule holte. Es war zwar noch lange kein Sommerwetter, aber das störte ihn nicht, er aß auch im Winter Eis, warum auch nicht, Eis schmeckt doch das ganze Jahr über gleich gut.
Obwohl er sich Zeit ließ, war er wieder der erste, der den Kursraum betrat. Der Nächste, der rein kam, war Andreas Behrens, ein altmodischer Typ, der herumlief, als käme er aus den 70ern. Seine Haare trug er wie ein Kind aus der Grundschule. Mit ihm hatte Thomas in den ganzen Jahren vielleicht zehn Wörter gewechselt. Behrens gehörte zu den guten Schülern, war fast so gut wie Pannek, aber ein richtiger Streber. In der elften Klasse hatte er einmal eine „3“ geschrieben und wandte sich damit ganz verzweifelt an den Lehrer und beteuerte, dass dies doch gar nicht sein könne. Diese Note, die für jeden normalen Menschen ein gutes Mittelmaß bedeutet, bedeutete für ihn, dass man noch so gerade durchkommt. Er war jenes Mal also noch so gerade eben durchgekommen. Während er in den Raum kam, nickte er Thomas zu. Das war seine typische Art zu grüßen, ohne etwas zu sagen. Aber immerhin grüßte er überhaupt, im Gegensatz zu anderen.
Es schellte, nach und nach kamen auch die anderen Schüler herein, Nadja kam zum Schluss. Kurz traf auch schon Frau Maihold ein, und der Unterricht konnte beginnen.
Pädagogik war Thomas´ drittes Abifach, und er war auch ganz gut darin, schriftlich stand er meistens „3“, manche Klausuren waren auch besser und mündlich stand er immer „2“, so dass auf dem Zeugnis auch schon mal eine „2“ stand. Da es sein drittes Abifach war, musste er eine schriftliche Prüfung machen, demnach würde er es wahrscheinlich auch mit der Note „3“ abschließen, was ihm auch vollkommen genügte, Hauptsache, er würde sein Abi schaffen. Er ärgerte sich, dass er nicht Pädagogik und Englisch als Leistungskurse gewählt hatte, dann hätte er sich keine so großen Sorgen machen müssen.
Das Thema der Stunde war die Psychoanalyse. Dieses Thema wurde in der zwölften Klasse schon behandelt, aber ein halbes Jahr vor den Abiprüfungen wurden alle Themen noch einmal wiederholt und vertieft. Es war eins der interessantesten Themen, aber auch so ziemlich das umfangreichste und komplizierteste. Thomas wusste, dass er dafür sehr viel tun musste, denn er konnte sich nicht mehr an alles so genau erinnern. Er traute sich heute auch kaum irgendetwas zu sagen, und der Grund dafür war, was ihm langsam Sorgen bereitete: Nadja. Er traute sich plötzlich nicht mehr zu sprechen, weil sie im Raum war, aus Angst, etwas Falsches zu sagen, sich zu blamieren. Sie saß ihm direkt gegenüber, irgendwie traute er sich nicht einmal, in ihre Richtung zu sehen.
Zwischendurch kam der Kurs ein wenig vom Thema ab und Frau Maihold fragte dann, ob sich noch jemand daran erinnere, was in der allerersten Pädagogikstunde behandelt wurde. Das lag nun über zweieinhalb Jahre zurück, niemand schien sich zu erinnern. Doch Thomas wusste es noch genau, er traute sich erst nicht, sich zu melden, doch es gelang ihm doch noch, seine Angst zu überwinden.
„Jeder hat sich einen Partner gesucht und ihn dann nach Namen, Hobbys und Grund für die Wahl des Fachs Pädagogik gefragt. Anschließend wurde der Partner vorgestellt“, erzählte er.
„Sie haben wirklich ein wunderbares Langzeitgedächtnis“, lobte ihn die Lehrerin. Gern hätte er gesehen, wie Nadja reagierte, aber er traute sich nicht, sie anzusehen. Durch das Lob der Lehrerin aber ein wenig sicherer, traute er sich später sogar noch, einen kleinen Vortrag über das Unterbewusstsein des Menschen vorzutragen anhand eines Fallbeispiels, dass es gar nicht gab.
Als er nach Schulschluss den Flur entlang spazierte, ging Nadja plötzlich neben ihm her.
„Du hast wirklich ein gutes Gedächtnis“, fand auch sie. „Ich konnte mich gar nicht mehr an die erste Stunde erinnern, erst als du es erzählt hast, ist es mir so langsam wieder eingefallen.“
„Doch, wenn du mehr Zeit zum Überlegen gehabt hättest, wäre es dir auch wieder eingefallen“, entgegnete Thomas.
„Ach, ich glaube nicht. Und das, was du vorhin erklärt hast, fand ich auch total interessant. Selbst Frau Maihold schien davon gar nichts gewusst zu haben. Woher weißt du das alles?“
„Ach, das hab ich mal zufällig in einer Fernsehsendung gesehen, aber ob ich das alles richtig verstanden hatte, weiß ich auch nicht“, meinte er.
„Ach, du bist immer so bescheiden“, fand Nadja. Sie waren inzwischen draußen bei den Parkplätzen angekommen. „Nur noch eine Woche, dann sind erstmal Ferien, dann noch eine Woche, dann sind die Prüfungen und danach nie wieder Schule, hoffentlich“, freute sie sich.
„Ach, du wirst es schaffen, du bist doch gut in der Schule“, machte Thomas ihr Mut.
„Naja, aber man kann dann ja trotzdem ´nen Blackout kriegen und nichts mehr wissen.“
„Denk da jetzt noch nicht drüber nach, genieß erstmal die Ferien“, sprach Thomas. Sie kamen an seinem Auto vorbei.
„Dann erstmal ein schönes Wochenende“, wünschte er ihr.
„Danke, das wünsche ich dir auch, bis Montag“, erwiderte sie.
Thomas sah ihr, während er einstieg, hinterher. Sie stieg sechs Autos weiter ein, er konnte nicht erkennen, was es für ein Auto war. Sie kam auch selten mit dem Auto zur Schule, meistens kam sie mit dem Bus oder fuhr woanders mit, im Sommer kam sie auch manchmal mit dem Rad. Was sie wohl am Wochenende macht, fragte sich Thomas. Sicherlich geht sie mit Freunden in die Disco oder ins Kino. Er wusste, dass er wieder zwei langweilige Tage zu Hause vor dem Fernseher verbringen würde und fuhr unzufrieden los. Er hatte gar keine Lust auf zwei freie Tage, auf die Schule hatte er zwar auch keine Lust, aber da würde der Tag wenigstens schneller vergehen und außerdem sah er dann Nadja wieder. Sie hatte es ihm wirklich angetan. In der Nacht träumte er wieder von ihr, wieder alles nur konfuse Szenen. Plötzlich spürte er sein Herz, er musste also wach sein, denn im Traum konnte man ja bekanntlich nicht fühlen. Er war dann halbwach, halb träumend. Schließlich wachte er ganz auf und musste nachdenken. So langsam wurde ihm eines klar, was er vorher immer wieder versucht hatte zu unterdrücken: Er war verliebt. Verliebt in Nadja.