Über Menschen, die morgen nicht Fußball, sondern Deutschland gucken
Es gibt Menschen, die sehen sich jede Wiederholung eines bedeutungslosen Zweitligaspiels an. Die stellen sich bei strömendem Regen auf die baufällige Tribüne irgendeines brandenburgischen Verbandsligisten, um ein Vorbereitungsspiel ihrer Hertha zu sehen. Die fiebern mit Oberligateams mit, von denen der Durchschnittsbürger nicht mal weiß, dass es sie gibt. Und dann gibt es Menschen, die interessieren sich „eigentlich“ nicht für den Fußballsport, außer „wenn Deutschland spielt“, also „bei der EM und... wie heißt das andere, wo die Brasilianer mitspielen?“. Und am besten nur, wenn Deutschland im Finale spielt, versteht sich. So wie morgen. Dann wird nicht „Fußball“, sondern „Deutschland“ geguckt. Ein Sommermärchen.
Das ist in Ordnung. Das hält schließlich auch Angela Merkel so. Und auch ich habe mich schon dabei ertappt, wie ich um 4 Uhr morgens aus patriotischen Gründen den olympischen Mannschaftswettbewerb im Dressurreiten verfolgt habe (Es ging gegen Holland, wir haben gewonnen.). Oder 12 Stunden Daviscup. Und warum schaue ich Biathlon und Frauenrodeln? Genau!
Das ist alles so lange in Ordnung als man Dritte nicht ob deren relativen Expertenstatus’ als Co-Kommentatoren einspannt, sprich: mit Fragen überhäuft, die auf einem derart niedrigen Niveau liegen, dass man zur Abseitsregel erst kommt, wenn das Duo Delling und „der, der aussieht wie Gérard Depardieu“ schon jede Szene zum dritten Mal durchgekaut oder Urs Meier „schlussendlich“ gesagt hat. Zum dritten Mal.
Schlimmer noch als Nachfragen („Wieso darf der jetzt mit der Hand...?“ – „Einwurf.“ – „Ach, dann darf...“ – „Ja.“) ist das angelesene Halbwissen bestimmter Akademiker-Freunde, das diese sich einige Stunden zuvor aus dem Sportteil der FAZ gesaugt haben, um „mitreden“ zu können.
Am meisten nerven unter diesen die Altphilologen, die ständig auf die griechisch-lateinischen Wurzeln bestimmter Fußballbegriffe anspielen. „Der hat bei Borussia Dor...“ – „Borussia ist der lateinische Name von Preußen, der sich von boreus, also: ,nördlich’, ,im Norden gelegen’ ableitet.“ – „Jedenfalls hat er schon Champions-League gespielt und...“ –„Campio: ,Kämpfer’, ligamen: ,Verband’. Ich kenn mich aus, oder?!“ – „Ja. Im DFB-Pokal hingegen...“ – Von poculum: ,Becher’, ,Trinkgefäß’.“ – „Du kriegst gleich Stadionverbot!“ – „Ein Stadion war in der Antike ein Längenmaß. Wusstest du das? In Olympia betrug es umgerechnet 192,28 m, in Delphi nur 177,35 m und in Athen 184,30 m. Das hing damit zusammen, dass die einzelnen Stadtstaaten...“ Zumeist sind sie erst ruhig, wenn sie erfahren, dass heutzutage ohne „Libero“ gespielt wird.
Ihnen auf den Fersen sind Historiker, denen die dämlichen Floskeln von den „Türken vor Wien“ Anlass zu langen und breiten Exkursen geben. Natürlich läuft das Spiel währenddessen weiter. Und natürlich sagt man als gut erzogener Jesuitenschüler nicht einfach „Mund halten!“. Oder schlimmeres. Man hört geduldig zu und zeigt Interesse („Wie hieß der Kämmerer des Sultans und warum hat Papst... äh... wie war noch mal der Name...?“), dicht gefolgt von Juristen („Das war streng genommen Körperverletzung. In Tateinheit mit Nötigung.“ – „Und beim Löw?“ – „Da war’s Nötigung mit Freiheitsberaubung im Amt. Mindestens.“), während Mediziner einem wenigstens noch erklären können, warum man Wadenkrämpfe bekommt, wenn man zwei Stunden rennt. Irgendwas mit Magnesium. Den Rest hab’ ich vergessen.
Was sang einst Franz Beckenbauer: „Gute Freunde kann niemand usw.“. Richtig. Ich für meinen Teil freu’ mich auf’s Spiel. Ach, so. Ein letzter Hinweis: Das Runde ist der Ball.