Die Schränke im Arbeitszimmer des Barons beherbergten in prächtige, mit Goldschrift und Ornamenten verziertes Leder gebundene Werke der Weltliteratur. Verschiedene berühmte Lexika und die bedeutendsten Schriftsteller der letzten Jahrhunderte gaben sich ein Stelldichein.
Hatte sich abends der Baron zur Ruhe begeben, erwachten die Bücher zum Leben. Sorgfältig prüften sie, ob sich auch nirgends auf ihrem Ledereinband ein Fleck eingeschlichen hatte.
„Es wäre eine Schande!“, meinte eines von ihnen.
„Nicht auszudenken!“, bekräftigte ein anderes.
Edle Bücher hatten sich tadellos sauber zu präsentieren.
Damit ihr elegantes Äußeres auch so blieb und sie nicht etwa an Staub-Verfettung erkrankten, war als nächstes ein ausgiebiges Fitnesstraining angesagt. Lebhaft flatterten die Bücher mit ihren Seiten.
Sie achteten jedoch streng darauf, dass dabei kein einziger ihrer hochgestochenen Buchstaben heraus fiel. Fehlende Buchstaben oder gar Wörter hätten sie zu Mängelexemplaren abgestempelt und ihren Ausschluss aus der illustren Buchgesellschaft bedeutet.
Dann beschäftigten sich diese Papier-Snobs stundenlang damit, Ihresgleichen und erst recht sich selber unentwegt zu bewundern und sich zu schmeicheln.
„Wir sind die Krönung aller Literatur!“
Die Lexika brüsteten sich gegenseitig mit dem in ihnen zusammen getragenen Wissen und versuchten, blasierter Goldschriftmiene ihren Konkurrenten gravierende Fehler bezüglich der Darstellung wichtiger Fakten zu unterschieben.
Die Belletristik-Werke gaben mit ihren berühmten Geschichten weltberühmter Schriftsteller und den Werken bedeutender Maler an.
Vor lauter Selbstbeweihräucherung beachtete keines von ihnen das schmale, unscheinbare Buch, das abseits in der hinteren Ecke mit seinem schlichten, braunen Rücken an der Seitenwand des Bücherschrankes lehnte.
Doch, wer annahm, dass es sich es seines unauffälligen Äußeren schämen würde, der irrte sich. Mit beinahe mitleidigem Blick beobachtete es seine vor Gold strotzenden Kameraden.
„Wenn Ihr wüsstet, wie lächerlich Ihr Euch macht!“
Abrupt hörten die Anderen auf, zu diskutieren und sich zu streiten. Wütend und von oben herab musterten sie jenes armselige Etwas.
„Was hast eigentlich Du in unseren erlauchten Reihen verloren?“
„Wie kannst Du es wagen, so mit uns zu reden?“
Ein gewaltiger Lexikon-Band setzte giftig noch eins drauf:
„Uund, was hast Du denn überhaupt zu bieten??“
Das kleine Buch ließ sich mitnichten beirren:
„Ihr vermittelt wichtiges Wissen. Ich aber entführe die Menschen ins Reich der Träume. Lesen sie meine Geschichten, wachsen ihrer Seele Flügel!“
Das höhnische Lachen darüber blieb den Bänden zwischen den Seiten stecken ...
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