Über geliebte Menschen und verwehrte Träume

Kurzgeschichte zum Thema Leben/Tod

von  Erdbeerkeks

„Kann... ich dich etwas...fragen?“ Seine Stimme klang gebrochen und rau, ganz anders als sonst. Sie konnte sich kaum noch daran erinnern, wie melodisch und sanft sie mal geklungen hatte. Die letzten Tage hatten ihn offensichtlich schwer mitgenommen.
„Ja…“, sagte sie, es war kaum mehr als ein leises Hauchen.
Eine erdrückende Traurigkeit legte sich über sie, von der keiner der beiden wusste, woher sie kam. Sie wagte nicht, etwas von ihr zu geben. Manchmal gibt es Momente, in denen man Angst hat, etwas zu sagen, weil man befürchtet, die Perfektion eines Momentes zu zerstören.
Und genau in diesem Augenblick, für einen Atemzug… Stimmte alles.
Er, wie er im feuchten Gras saß und dem Sterben der Sonne zusah, der Wind, wie er durch die hohen Wipfel der Bäume pfiff und ihnen an den Haaren zerrte, die Wolken, die getragen vom Wind über ihren Köpfen hinweg zogen, der Himmel, der sich wie ein blaues Tuch über sie spannte und sich langsam verfärbte und schließlich sie, wie sie sich an die zierliche Schulter ihres Freundes lehnte und weinen wollte, weil sie sich nichts sehnlicher wünschte, als das ewige Andauern dieses Momentes, während sie wusste, dass ihr nicht mal mehr eine Woche mit ihm vergönnt war.
„Sag mal…“,brach er die Stille, vielleicht, weil das, was er sagen wollte, ihm schwer auf der Seele lag oder damit sie nicht ewig so weiterschwiegen, denn sie hätte es wohl getan. Sein Blick heftete sich auf seine Hände, die er im Schoß zusammengefaltet hatte. Mit einer bedächtigen Stetigkeit  drehte er den Ring an seinem Finger, den sie ihm einmal geschenkt hatte. Sie versuchte sich zurückzuerinnern. Es war lange her, sehr lange. War es nicht letzten Sommer? Die Zeit, die sie mit ihm verbracht hatte, war nur ein Wimpernschlag im Angesicht ihres gesamten Lebens gewesen und trotzdem so prägend, dass sie sich sicher war, sie so schnell nicht wieder zu vergessen. Oder nicht vergessen zu können.
„Wärst du traurig wenn ich nicht mehr da wäre?“, flüsterte er fast lautlos und schluckte.
Sie wusste die Antwort, genauso wie er sie wusste. Und wie sie wusste, dass ihre Antwort nicht komplett stimmte, nicht vollständig, dass sie einen Haken hatte. Und trotzdem wagte sie es mit zitternden Lippen ihre ungewollte Lüge zu formen.
„Ich…wäre todtraurig. Es wäre das Schlimmste, was mir passieren könnte. Ich würde ziemlich viel weinen… Ich weiß nicht einmal, ob ich damit fertig werden würde.“, wisperte sie.
„Ich würde dir gern glauben.“, sagte er mit einem unglücklichen Ausdruck. „Ich weiß, dass du nicht lügst. Nicht mit Absicht, aber… für wie lang würdest du trauern?
Du weißt, Menschen kommen und gehen und irgendwann wird es wohl auch mal für mich Zeit werden. Niemand ist dazu bestimmt, ewig zu leben und jeder Mensch muss das wohl oder übel verstehen. Und auch diese Forscher, die versuchen, euch alle unsterblich zu machen.
Aber sag mir, wofür lebst du, wenn du unendlich viel Zeit hast? Es gibt so viele Momente in denen ich euch nicht verstehe. Denn ist es nicht so…
Nur unglückliche Menschen wollen unsterblich sein, weil sie nicht glücklich sterben können.
Sie hatten einfach nicht das, was sie brauchten, um bis ans Ende ihrer Lebenszeit glücklich zu sein. Sie wollen länger leben, in der Hoffnung, diese Sache doch noch zu finden. Doch was sie nicht wissen, ist, dass dieses Etwas kein Gegenstand ist, nichts, was man kaufen könnte, nichts, was man einfach findet. Es ist das, was sie immer versuchten, zu erlangen und doch niemals bekamen.
Stell dir vor, ein Mann wollte von jungen Jahren an Lokomotivführer werden. Wird er es, so wird er sich sagen können, er habe seinen größten Traum erfüllt und nun könne er glücklich sterben.
Wird er es nicht, so wird er versuchen, sich mit anderen Dingen glücklich zu stimmen. In den letzten Minuten wird er denken, er habe alles gehabt, wonach er sich immer sehnte, doch tief im Innern weiß er, dass ihm sein größter Traum immer verwehrt geblieben ist. Ohne das ist er zufrieden, aber glücklich sterben kann er nicht…“
Er machte eine Pause, die er nutzte, um Luft zu holen und die sie nutzte, um sich ihre die Tränen aus den Augen zu wischen. Sie wusste, dass er es nicht mochte, wenn sie weinte.
„Und wenn Menschen sterben…“, brachte er heraus und griff nach ihrer Hand.
„Ist es natürlich schwer. Natürlich ist es traurig.
Du weinst und fragst dich immer und immer wieder, warum es gerade dich getroffen hat. Warum gerade dein Freund gehen musste. Und wie du dir wünschst, deinen Freund wieder zu sehen… Nur ein einziges, ein letztes Mal, nur damit du ihn bitten kannst, für dich zu lächeln, damit du ihn für immer so in deiner Erinnerung behalten kannst.
In der ersten Woche sind deine Augen geschwollen und rot vom Weinen, die ganzen Nächte hindurch. Jeder kann sehen wie du leidest, wie du ihn vermisst. Deine Freunde versuchen dich zu trösten, aber du willst nicht. Du denkst, du schaffst es alleine.
Einige Wochen nach dem Vorfall merkst du, wie schmerzhaft es ist, sich Tag für Tag, Stunde für Stunde, Minute für Minute, an ihn zu erinnern und ihn sich ins Gedächtnis zu rufen. Langsam aber sicher beginnst du, dich von ihm abzulenken, ohne dass du es wirklich merkst.
Und vielleicht wirst du einige Monate danach wieder so leben, wie zuvor. Oder du wirst es versuchen, weil du weißt, dass es niemals mehr so wird, wie früher. Als er noch bei dir war und dir zur Seite stand, du ihn fast jeden Tag sahst, mit ihm lachtest, mit ihm weintest, ihr euch alles erzähltet.  Aber du vermeidest es, über ihn zu denken, du sperrst die Worte über ihn tief in dir ein und verlierst nicht ein einziges.
Aber das traurigste daran ist, dass so viele Menschen es so machen, egal ob die Verstorbenen etwas anderes verdient hätten.
Aber sie sind zu schwach.
Doch es gibt die, die stärker sind, die anderen, die sich jeden Tag aufs Neue an den geliebten Menschen erinnern und auf die wunderschöne Zeit zurückblicken, die sie zusammen hatten.
Und diese Menschen weinen nicht, weil sie sich so krank vor Bedauern und so müde vom Trauern fühlen. Sie lächeln, weil sie wissen, dass sie großes Glück hatten, einen solchen Menschen kennenzulernen und soviel Zeit mit ihm verbringen zu dürfen.
Denn nur einige, nur wenige, sind stark genug, um jeden Tag an den vergangenen Menschen zu denken und dem Schmerz standzuhalten, den diese Erinnerung verursacht.“

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Kommentare zu diesem Text

Nemoria (19)
(14.03.09)
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lunaris von aquanta (23)
(24.03.09)
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 Erdbeerkeks meinte dazu am 27.08.09:
Einen Grund gibt's durchaus. Eigentlich ist das hier 'n Auszug aus meinem Buch, das dürfte wohl einiges erklären :D Wenn ich aber jetzt erzählen müsste warum er gehen muss, müsste ich das ganze Buch zusammenfassen (:
Träumerveve95 (17)
(18.04.10)
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Herzkönigin (16)
(22.05.11)
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 Erdbeerkeks antwortete darauf am 22.05.11:
danke, becci.
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