Der weiße Raum

Kurzgeschichte zum Thema Psyche

von  RainerMScholz

Die weiße Tür schließt sich langsam, fast zaghaft. Seltsamerweise entsteht kein Luftzug durch das Schließen des Türflügels, kein Hauch dringt zu mir. Das Geräusch, das durch das Einrasten des Schlosses verursacht wird, erinnert an das satte Schmatzen einer Kühlschranktür, deren Gummiverkleidung die Kälte hermetisch konservieren soll. Die Kälte im Innern.
Die Tür ist zu, ist wie von Geisterhand zugefallen. Und ich befinde mich allein in diesem weiten Raum mit diesen weißen Wänden. Kein Fenster, kein Bilderrahmen an der Wand, keine Ritzen oder Fugen. Kein Laut. Nur das weiße diffuse Licht, das aus einer nicht definierbaren Quelle wie klebriger Sirup hervorsickert und alles ausfüllt mit seiner penetranten, exorbitanten Allgegenwärtigkeit. Es ist überall.
Kein Schatten ist in diesem Raum. Keine Spinnweben in der Ecke, kein Staubkorn am Boden.
Der Raum scheint sich unendlich weit in die Tiefe zu erstrecken. Die Wände dehnen sich in die Ferne. Aber irgendwo da vorne muss doch der Horizont sein. Nur das Weiß des Lichtes, das Weiß der Leere, die mich zu umgeben scheint. Der Raum verschlingt meine Seele. Meine Seele. Jedes Denken und Handeln scheint absurd und überflüssig angesichts der grotesken Gottgewalt dieser mich einschließenden Wände. Ich denke, ich wurde hierher gebracht, damit der weiße Raum mich verschlingen kann. Er braucht ein Opfer. Er frisst Menschen. Er. Es.
Der Raum ist leer. Nur mein nackter Körper und mein nackter Geist - die einzig verbliebenen Bezugspunkte. Eckpunkte eines Systems, das gar keines ist. Hier ist nichts. Ich bin nichts. Ich bedeute dem Raum nichts. Abstriche auf einer Skala, deren Wertesystem so expansiv und überdimensional ist, dass es gleichbedeutend mit Null ist. Unendlichkeit. Alles. Nichts.
Den Stoff, aus dem der Raum gemacht ist, kann ich nicht benennen. Er ist rau und gibt doch irgendwie nach, wenn ich ihn berühre. Er bietet keinen Widerstand. Aber er verletzt doch. Ich habe Schürfwunden an den Händen. Glaube ich. Blutspuren auf dem weißen, unbefleckten Boden, die jedoch nicht ins Gewicht fallen im Angesicht der Unermesslichkeit des Raumes. Sie werden absorbiert, als wäre da nie etwas gewesen. Nie. Gewesen.
Die Tür, durch die ich hineingelangt sein muss, ist verschwunden. Ich kann sie nicht mehr finden, so sehr ich die Wände auch absuche. Die Decke des Raumes ist zu hoch, als dass ich sie erfassen könnte. Selbst durch angestrengtes Springen erreiche ich sie nicht. Ist dort überhaupt eine Decke? Es ist so weiß und hell.                   
Es gibt auch keinen Türknauf.
Ich habe kein Zeitgefühl mehr. Ich liege flach auf dem Boden, die Augen geschlossen, Arme und Beine weit von meinem Rumpf gestreckt. Alles ist ganz leicht und schwerelos. Ich schwebe. Ja, ich schwebe in der Mitte des Raumes. Ich bin das Zentrum, die Achse, um die sich der Raum bewegt. Ich bin der Mittelpunkt, die Sonne dieses weißen Universums.                                     
Ich muss wohl tot sein.
Etwas hat sich verändert. Ich kann mich nicht mehr bewegen. Es ist etwas geschehen, dass sich meinem Bewusstsein entzieht.
Etwas Weißes umschließt meinen Oberkörper. Meine Arme sind eigenartig schwer. Außerdem werden sie auf meinem Rücken festgehalten. Nur meine Beine kann ich noch frei bewegen. Ich kann also noch fliehen - doch wohin? Meine Beine. Sie laufen. Laufen von alleine.
Soweit ich auch renne und laufe, der Raum nimmt kein Ende. Wie lautet dieser verflixte Kinderreim, der mir nicht mehr aus dem Kopf gehen will. Nur den Schluss habe ich behalten. So ähnlich wie: ... immer an der Wand lang, immer an der Wand lang.. Aber was soll das? Ene meine muh – und weg bist du. Eins, zwei, drei, vier, Eckstein, alles muss versteckt sein. Jetzt ist nicht die Zeit dafür, denke ich, irgendwie. Meine Beine versagen allmählich den Dienst. Ich bin der Bibabutzemann. Ich bin schon zu weit gelaufen. Ich muss mich ausruhen. Der Raum erstreckt sich in alle Ewigkeit, jede Dimension, in die Ewigkeit, alle meine Entchen. Schwimmen auf dem See. Ich geh´ mit meiner Laterne. Und meine Laterne mit mir. Von oben da leuchten die Sterne und unten - da leuchte ich?!
Zeit und Raum verbinden sich zu einer inzestuösen Kopulation. Lichtficken. Lichtbumsen. Licht. Mehr Licht!
Die Wände starren mich an.
Die Sterne.
Und unten leuchten wir.

Männer treten ein. Die sind sehr groß und sind sehr stark, und sie sind ganz in Weiß. Sie sind die ganze Welt.
Das Universum bricht auseinander, in winzige, nicht mehr zu definierende Partikel. Teilchen, die so klein sind, dass sie jeder Erwähnung spotten. Alles zersetzt sich in jäher Diffusion. Eine implodierende Sonne in einem schwarzen All. Das Licht leuchtet heller denn je. So hell! Hell!

Die Jacke um meinen Körper ist so eng, als sie mich nach draußen bringen. So eng.
Das Licht geht aus. Das Licht geht aus! Licht!

© Rainer M. Scholz

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Kommentare zu diesem Text

Angelika Dirksen (62)
(09.07.09)
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 RainerMScholz meinte dazu am 10.07.09:
Danke für deinen wohlwollenden Kommentar. Merkwürdigerweise habe ich die Kinderreimstücke erst später eingefügt.
Grüße,
R.
AnnaKarenina (31)
(10.07.09)
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 RainerMScholz antwortete darauf am 10.07.09:
Ich dachte, ich wiederhole mich zu oft. Aber ich schau nochmal wegen der Kälte.
Sat-chid-ananda? Qu´est-ce que c´est?
Das Sandherz schlägt rau und schmeckt die Stille des Raumes. Absolut.
Grüße,
R.
AnnaKarenina (31) schrieb daraufhin am 10.07.09:
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 RainerMScholz äußerte darauf am 12.07.09:
Aha.
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