Die roten Lackschuhe

Märchen zum Thema Tanz(en)

von  theatralisch

Hatte seltsame Träume. Träumte davon, dass ich mit einigen anderen in Tschechien war. Verlor meine Sachen: Personalausweis. Führerschein und so weiter, suchte danach und gelangte zu einem alten Mann, den ich anscheinend zu kennen schien. Ja, er war einer der populärsten Schriftsteller Tschechiens. Ich grüßte ihn und fragte, ob er meine Sachen gefunden hätte. Er sagte, dass er sie hätte, dass ich aber, um sie zurückzuerlangen, teuer dafür bezahlen müsste. Zunächst war ich ziemlich sprachlos, dann schrie ich den alten Menschen (Alte Menschen in Tschechien sehen ganz anders aus als alte Menschen in Berlin oder so.) an und drohte ihm damit, dass ich ihn umbringen würde, wenn er mir nicht sofort meine Sachen wiedergeben würde. Ich zog meinen Revolver (Ja, genau!) und richtete ihn auf den Mann; doch der lachte nur: "Haha." Ich war ganz außer mir und drückte ab. Der Mann lachte noch mal kurz auf und knallte mit dem Kopf gegen die Wand. Das Müsli und den Wodka, den er vor sich stehen hatte, stieß er um.

Ich durchsuchte das Haus nach meinen Sachen und stellte fest, dass mich der Mann belogen hatte. Er hatte meine Sachen nicht, dafür aber ein bisschen Bargeld, womit ich schnell meine Taschen füllte, um dann das Weite zu suchen.

Wir lebten friedlich in einem Haus - meine Freunde und ich - bis eines Tages ein Kind verschwand. Es war ein zwölfjähriges Mädchen. Hatte an ebendiesem Tag eine bedeutsame Entdeckung gemacht. Sah einen Mann, der einen debilen Eindruck machte. Sein Gesichtsausdruck erinnerte mich an den von Michael Myers.

Sagte das den Leuten bei der Polizei, die mich nur ungläubig ansahen. Zu dieser Zeit (Irgendwie war alles so grau.) war es nicht unüblich, dass gelegentlich Kinder verschwanden. Die Eltern verkauften sie, töteten sie oder setzten sie im Wald aus. Aber in diesem Fall war ich davon überzeugt, dass der seltsame Mann etwas damit zu tun haben musste.

Ich streifte durch die Stadt, durch alle Wirtshäuser und Kneipen, bis ich den Mann wiederfand. Er saß abseits an einem kleinen Tisch, trank ein Bier, aß einen Braten mit böhmischen Knödeln und einer halben Birne mit Preiselbeer-Kompott.

Die Bedienung (Sagt man "Kellner"?) kam und fragte mich auf Tschechisch (Tja, plötzlich konnte ich es wieder sprechen; unterbewusst eben.), was ich denn wollte: "Bier und auch so einen Braten!", sagte ich und deutete dabei auf den Tisch des Mannes, der in ebendiesem Moment meinen Blick einfing. Er starrte mich an, als wäre ich etwas Besonderes oder dergleichen. Ich nickte ihm aber ungeachtet seiner skurrilen Blicke freundlich zu.

Das Bier und der Braten kamen recht schnell und ich schlang, so gut ich konnte, alles hinunter, als würde bald ein nächster Krieg ausbrechen.

Der Mann beobachtete mich unentwegt und ließ den Rest seines Essens kalt werden. Fühlte mich anfangs sicher, später nur noch bedroht. Ich hatte ehrlich gesagt eine ziemlich große Angst vor dem Mann, weil ich nicht wusste, worüber er nachdachte. Ich malte mir die schlimmsten Dinge aus, die er mit mir vorhaben könnte.

Als mir die Last der Blicke zu viel wurde, zahlte ich geschwind, gab viel zu viel Trinkgeld, weil ich den Blick nicht vom Michael-Myers-Verschnitt abwenden wollte und so nach irgendeinem Schein in meiner Tasche griff. Im Anschluss dazu machte ich mich auf und davon.

Als ich das Wirtshaus verließ, nahm ich, wie man so sagt, meine Beine in die Hand, blieb aber nach etwa 100 Metern stehen, drehte mich um, um mich zu vergewissern, ob der Mann mir etwa folgte. Ich ging den Weg zurück und kurze Zeit später stieß ich auch schon auf ihn. Hätte in diesem Moment mit allem gerechnet und machte mich schon darauf gefasst, ein paar Minuten später in einem stickigen Kellerverließ mitsamt ein paar Mädchenleichen festzusitzen.

Der Mann sah mich und blieb stehen; ich versuchte, mir nichts von meiner Angst anmerken zu lassen und setzte ein starres Lächeln auf. Doch innerlich zitterte ich vor Angst und der Schweiß brach auch schon aus. Der Mann kam auf mich zu - ich durchbohrte ihn mit meinen Blicken. Er hatte mich fast erreicht, da konnte ich mich nicht mehr gegen mich selbst zur Wehr setzen und sprintete davon.

Insgeheim wusste ich, dass dieser Mann eine große Gefahr für mich darstellte und mich töten wollte. Ich wusste es einfach, wusste es einfach!

Als ich am nächsten Morgen die Türe öffnete, um das Haus zu verlassen, drückte mir jemand einen Lappen aufs Gesicht und beförderte mich in seinen Wagen. Es war der besagte Mann, wie man vielleicht ahnte, aber darüber konnte ich natürlich in dem Moment noch nicht nachdenken.

Nachdem ich mein Bewusstsein wiedererlangt hatte, sah ich mich um. Ich saß in einer überschaubaren Küche, meine Hände waren in Handschellen gelegt und vor mir auf dem Tisch stand ein Topf voller Kartoffeln, die geschält werden wollten.
Am Herd gegenüber stand der Mann und schnippelte Gemüse. Er sah mich an und strahlte: "Endlich, da bist du ja..!" Ich blickte ihn erzürnt an, wie, um ihm mitzuteilen, dass ich durchaus erbost über meine missliche Lage war.
"So schnell kann's gehen, Mädchen, wenn man sich in die Angelegenheiten anderer Leute einmischt."
"Was meinst du damit...was willst du...??", ballerte ich dem Mann ins Gesicht.
"Nichts will ich, eigentlich.", sagte der Mann beinahe resigniert.
"Aber...?"
"Ja, aber. Aber eigentlich will ich schon etwas. Ich will dich loswerden. Nur das.."

Völlig paralysiert starrte ich die Kartoffeln vor mir an und sah mich schon am Galgen baumeln. "Was würde nur meine Mutter dazu sagen, wenn ich nun, zu allem Übel, noch Opfer eines Verbrechens werden würde?"

Mir war in dem Moment alles egal und ich wollte es nur noch hinter mich bringen: "Dann mach es; werd mich los, du..." Aber die Worte blieben mir im Hals stecken.

Der Mann lachte nur und widmete sich wieder seiner Pfanne. Er steckte sich ein Stückchen Paprika in den Mund und murmelte einen tschechischen Reim.

Ich wollte sterben.
Nur sterben.
Hier und heute.
Am besten sofort.

Der Mann tat mir den Gefallen jedoch nicht, setzte sich, nachdem er das Essen zubereitet hatte, mir gegenüber und schaufelte alles ungehalten in sich rein. Währenddessen fletschte er immer mal wieder mit den Zähnen und stieß ein paar angsteinflößende Grunzer aus, die hämisches Lachen sein sollten.

Als der Teller geleert war, nahm er das Geschirr, die Pfanne und den Topf und spülte ab. Er ließ sich Zeit und ich sah mich zum ersten Mal richtig im Zimmer um. An den Wänden hingen selbstgemalte Bilder und tote Schmetterlinge in Glasrahmen. "Meine Oma hatte die auch.", dachte ich noch,  da drehte sich der Mann zu mir um und sagte: "Du kannst mich Tomasz nennen."

Tomasz wusch sich die Hände und kam auf mich zu: "Mitkommen!" Daraufhin packte er mich am Arm und zog mich hinter sich her. Wir stiegen eine Treppe hinunter und er öffnete eine Tür: "Hier, das ist meine Mutter.", sagte er und deutete auf eine verweste Leiche, die auf einem Bett lag und um deren Hals ein altrosafarbener Rosenkranz hing.

"Sag ihr guten Tag.", sagte er; und ich sagte: "Dobrý den."
Er zog mich aus dem Zimmer, zog die Türe hinter sich ins Schloss und führte mich den Gang entlang. Überall hingen diese selbstgemalten Bilder, die größtenteils Landschaften darstellten: Bäume und Kühe und Wolken und Wiesen und Täler und Berge...

Plötzlich blieb er abrupt stehen, drängte mich an die Wand, starrte mich mit scharzen Augen, die eigentlich blau waren, an und stieß hervor: "Blas mir einen; runter mit dir." Also musste ich mich ihm fügen. Das Sperma verteilte sich in meinem Mund und ronn mir über das Kinn. Ich würgte.

Er tat so, als wäre nichts gewesen, zog mich hoch und bugsierte mich wieder durch die Gänge. Hier und da erklärte er mir, was sich hinter den Zimmern verbarg und öffnete gelegentlich eine Türe. Am Ende des Ganges angekommen stiegen wir eine weitere Treppe hinunter, die, wie ich glaubte, in den Keller führte.

War das nicht immer so, dass Täter ihre Opfer in irgendwelchen umgebauten Kellerverließen gefangen hielten? Wahrscheinlich schon.

Anfangs nahm ich mir noch vor, mich überlegen zu fühlen, egal was passierte, aber indes war ich nur noch damit beschäftigt, mich innerlich tot zu stellen und meine Ängste abzuwehren.

Nun standen wir in einem Raum, der mit einer großen Deckenleuchte ausgeleuchtet war.
Ich sah mich um und mein Blick fiel kurze Zeit später auf eine Puppe, die auf einem Bett lag und ein seidiges Kleid trug. Er erkannte, worauf mein Blick ruhte, grinste und sagte: "Das ist sie!" Ich starrte ihn an. "Na...", und er zögerte, war fast schon verbittert, zerrte mich zu dem Bett, auf dem die Puppe lag. "Hier liegt sie. Danach hast du doch gesucht, oder nicht?" Und ich betrachtete die blutleere Gestalt, die in ihrem mit alten Blutflecken bedeckten Seidenkleid auf dem Holzbett lag.
"Das ist das Mädchen, nach dem niemand suchen wollte. Als ich dich zum ersten Mal sah, wusste ich, dass du meine Gedanken lesen konntest, also nahm ich mir vor, dich hierherzubringen. Das solltest du unbedingt gesehen haben, dachte ich mir."

Ich war vollkommen fassungslos, rang nach Luft und Verstand. Wollte kein Wort mehr mit dem brutalen Monster, das mich fest im Griff hatte, wechseln und taumelte rückwärts. Der Mann löste seinen Griff und ließ mich fallen. Ich stürzte auf den Boden und machte keine Anstalten, mich aufzufangen. Er ließ mich einfach liegen, verließ den Raum.

Ich war mir meiner Lage sehr wohl bewusst und ahnte, dass ich hier nicht mehr lebend rauskommen würde, also sprach ich ein letztes Mal zu Gott: "Das ist die Strafe, oder nicht? Die Strafe dafür, dass ich selbst nicht viel besser bin als dieser Mann. Oder fühle ich mich nur so?" Ich kämpfte mit den Tränen, fühlte zunächst Resignation, später wieder Wut. Die Wut steigerte sich und ich schrie, schrie mir die Lungen wund und rannte wie eine Irre durch den Raum, stürmte auf die Puppe zu, die in Wirklichkeit das vermisste zwölfjährige Mädchen war, das niemand suchen und nur noch vergessen wollte, schrie sie an: "Du bist schuld, du verdammte Göre. Du hast mich hierhergebracht; du bist..." Und ich musterte das Mädchen eingehender als zuvor: Es hatte hellbraune Haare, war zierlich und schön. Dazu trug es rote Lackschuhe. Und es war tot. Es war tot, tot. Seit ein paar Stunden schon. Ich kniete mich vor das Mädchen und starrte sie an, sog den süßlichen Geruch auf, den ich niemals wieder vergessen würde, egal, was mit mir passierte. Diesen Geruch und dieses Gesicht vergaß ich nie wieder. Sie war der Tod und die Vergänglichkeit. Die Sünde und das Laster.

Oft genug musste ich mir anhören, dass es das Laster eines Menschen sein konnte, sich an Kindern zu vergreifen. Nichts als ein Laster! Kann man sich das vorstellen? Ein Laster, etwas wie Rauchen oder Trinken. Natürlich nicht im Übermaß. Also was machte es schon, wenn man einmal pro Monat ein Kind umbrachte und sich an dessen Qualen erfreute, sich vorher, währenddessen und hinterher einen drauf abwichste. Nichts machte das. Kinder gab es wie Sand am Meer. Die Bedeutung dieses Satzes war in Deutschland gewichtiger als beispielsweise in Afrika, würde ich sagen. Wenn da Kinder vermisst werden, denkt man sich, dass man dann glücklicherweise eine Person weniger mit durchfüttern muss.
Aber wie dachte ich darüber; war es mir egal? Ich fühlte nichts. Menschen konnten mit mir machen, was sie wollten - schon immer; und: Ich fühlte nichts. Es war meistens keine große Sache und ich war mir meines Körpers ohnehin nicht mehr bewusst. Machte alles wie in Trance.

Ich strengte mich an, Wut oder Trauer zu empfinden, als ich meinen Blick immer eingehender auf die geschändete Mädchenleiche richtete. Schmerzlich, weil ich mich förmlich zu Gefühlsausbrüchen peinigte, wurde mir am Ende bewusst, dass mir dieses Leben egal war. Dieses und meines. Ich schiss auf mein Leben. War ich nicht ohnehin schon so gut wie tot? Also: "Scheiß drauf."

Er kam näher und hielt mir ein Messer an die Kehle. Fast hatte ich ja damit gerechnet, dass es irgendwann so enden würde. Er drückte mich nieder, ich verschwand im Erdboden; die Seele entwich aus meinem Körper und als er dann keine Lust mehr hatte, nahm er das Messer und ließ mich ein letztes Mal Buße tun.

Später zog der Mann dem Mädchen die roten Lackschuhe an, woraufhin das Mädchen tanzen sollte bis in alle Ewigkeit, aber nicht konnte, weil es längst tot war. Denn bleich und kalt war es schon.


Anmerkung von theatralisch:

"Tanzen sollst Du" sagte er, "tanzen auf Deinen roten Schuhen, bist Du bleich und kalt bist, bis Deine Haut über dem Gerippe zusammengeschrumpft ist. Tanzen sollst Du von Tür zu Tür, und wo stolze, eitle Kinder wohnen, sollst Du anpochen, dass sie Dich hören und fürchten! Tanzen sollst Du, tanzen"

Gewidmet: Dem Mädchen mit den roten Schuhen.


[Aus dem Märchen: "Die roten Schuhe"]

[Der letzte Schrei; oder aber: Das neue Schwarz. (Wer erkennt die Ironie.)]

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Kommentare zu diesem Text

artemidor (58)
(05.09.09)
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 theatralisch meinte dazu am 05.09.09:
Das mit den "roten Schuhen" hab ich erst später hinzugefügt (die Geschichte steht schon seit ein paar Tagen), weil ich mich an das Märchen erinnern musste. Dann hab ich mir extra noch die Kassette angehört; und ja: Es ist wirklich ein gutes Märchen!

LG

Isa
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