Arrivals & Departures

Text zum Thema Du und Ich

von  Erdbeerkeks

„Menschen sind wie Tagebücher.“, sagt Gerard. Er holt ein Bonbon aus seiner Tasche, es ist rot und rund und es glänzt in der goldenen Abendsonne, die sich wie flüssiger Honig über die umliegenden Felder ergießt.
Gerard lehnt sich zurück, sein Hemd reibt an der rauen Rinde des Baums, der sich mit seinen Blättern über ihnen wie ein überdimensionaler, grüner Schirm im Wind hin und her wiegt.
Er rauscht.
„Alle haben ein Schloss, das verhindert, dass man in ihnen lesen kann und trotzdem kann man sie alle mit dem gleichen billigen Schlüssel öffnen, sodass sie all ihren Inhalt freigeben. Wenn man das verstanden hat, ist es plötzlich ganz einfach, alles über sie zu erfahren.“
Emily sieht zu, wie in seinen Augen das Fernweh glitzert und er seine Gedanken schon gepackt hat.
„Meistens haben sie keine Wahl. Wenn sie schon mal geöffnet sind, bringt es nichts mehr, wenn sie sich danach wieder verschließen. Dann ist schon alles zu spät, der geheime Inhalt preisgegeben. Nur das, was danach passiert, bleibt unerfahren.“
Emily nickt mit ihren rotgeränderten Augen und den tiefblauen Schatten darunter. Ihre Lippen sind zerbissen und bluten, es brennt, wenn sie darüber leckt.
„Du bleibst nichtmehr lange, oder?“
„Nein.“
Aber sie bleiben bis tief in die Nacht, bis es kalt wird und der Wind die toten Papierfetzen vor sich her scheucht.
„Weißt du, was der Schlüssel ist?“, fragt er nach einer Weile der dunkelblauen Stille, die sich über sie ausgebreitet hat.
„Ja“, sagt Emily und das ist gelogen. Sie hat schon immer viel gewusst, über die Welt, aber nie über die Menschen.
„Du musst noch viel lernen“,  hat sie früher von Gerard gehört, und sie hat immer genickt, während sie sich gleichzeitig für klüger und wissender hielt. Er konnte ihr nichts beibringen, was sie nicht schon wusste, hat sie geglaubt, aber das war, bevor sie merkte, dass das Auswendigkönnen von Planetenkonstellationen und Shakespeares Werken nicht alles war.
Heute sagt Gerard immer „Du hast viel gelernt", dabei weiß Emily vielleicht nicht mehr, aber sie fühlt mehr.
Gerard glaubt, er habe das Richtige getan, weil er nicht wie Emily die Schattenseiten sieht, wenn sie sie dazu macht, weil sie schon immer das schlechte im Menschen gesucht hat.
„Ich werde dich nicht unwissend allein lassen“, verspricht er ihr also und sie verspricht sich selbst, immer dumm zu bleiben, damit er sie nie verlässt.

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