Emily sitzt unter dem großen Kastanienbaum und wartet.
Es ist 4 Uhr und Gerard kommt nicht. Sie haben sich eigentlich immer um 4 Uhr hier getroffen und sie hatten nie einen Grund, aber immer zu reden. Und eine ungeschriebene Regel, die besagte, um 4 Uhr unter dem Baum zu sitzen.
Emily vertreibt sich die Zeit damit, die heruntergefallenen stacheligen Kastanien auseinanderzupflücken. Die braunen Kerne sind ganz glatt und riechen süß, sie erinnern Emily an Gerards Haut, wenn sie darüber streicht. Sie hat einen so schön krankhaft blassen Ton, so ein atemberaubender Kontrast zu seinen schwarzen Haaren und schokoladenbraunen Augen, die manchmal so ausdruckslos starren, wie dunkle Knöpfe.
Ihre eigenen dagegen sind hässlich, findet Emily. Sie sind grau mit einem komischen Stich grün darin, wie schmutziges Wasserfarbenwasser, wenn man mit zu viel weiß und grün gemalt hat.
Die Sekunden, die Emily verstreichen lässt, werden zu Minuten, die Minuten zu Stunden. Emilys Lider werden schwer, traurig zerfetzt sie die bestimmt schon siebzigste Kastanie und fragt sich, wo Gerard bleibt.
Da, endlich. Leise Schritte auf dem hellhörigen Laub.
Trotzig macht Emily weiter, sieht nicht mal auf, als Gerard vor ihr steht. Soll er ruhig wissen, dass sie es ihm übel nimmt.
„Wo warst du?“, fragt Emily.
Gerard vergräbt die Hände in den Hosentaschen. Zuckt die Schultern.
„Bei einem andern Mädchen.“
Die Eifersucht flammt in Emily auf.
„Aha. Und, wie war’s?“, fragt sie. Unauffällig blickt Emily ihn an und erschrickt, denn noch nie hat sie ein so seltsames Lächeln auf Gerards Lippen gesehen.
„Es war nett.“
„Nett?“
„Ja, nett.“
Emily gibt es auf. Gerard hat ihr sonst immer alles erzählt, ohne, dass sie je hätte fragen müssen. Er hätte sich zu ihr gesetzt, direkt neben Emily und sich an den massiven Baumstamm gelehnt und sie hätten geredet, geredet, geredet…
Doch Gerard setzt sich nicht hin.
„Ich hab sie geküsst.“
Emily springt auf und die Kastanien in ihrem Schoß kullern wie ein Wasserfall hinunter, als sie bebend vor Gerard steht und ihn entsetzt mustert.
„Du hast WAS?“
Emilys Stimme wird ganz dünn, versagt dann gänzlich. Große Krokodilstränen sammeln sich in ihren Augen, die von so viel mehr sprechen, als von Eifersucht.
„Sie konnte es ganz gut.“, sagt Gerard mitleidslos.
Krampfhaft schluckend wendet sie sich ab, vor lauter Wut vergisst sie die Kastanien, die ganzen schönen Kastanien, die verstreut auf dem Boden liegen und lässt sie und Gerard zurück.
Und sie hat gedacht, sie wären Freunde. Sie hat gedacht, sie würde nie Konkurrenz kriegen. Sie hat gedacht, nur sie kennt Gerard. Nur sie weiß, wie er ist und sei seine einzige Freundin.
Nur sie, sie allein, niemand anders, einzig und allein er und sie zusammen.
Es tut weh, so weh. Die Tränen fließen.
Gerard bleibt noch eine Weile stehen und hört den Blättern zu.