Fynn Lander spürte Müdigkeit aufsteigen. Kein Wunder bei dieser ersten warmen und mehr als satt machenden Mahlzeit nach langer Zeit. Pastor Sigmatau von der Seemannsmission saß ihm gegenüber, schob ihm einen Krug Bier zu und nickte aufmunternd.
„Und, Käpt’n Lander, so schaut die Welt doch gleich anders aus, hm? Und nun“, er beugte sich vor und senkte seine Stimme in verschwörerischer Manier, “erzähl’ uns doch noch einmal, was dich hierher nach Jesterfield verschlagen hat …“
„Fynn?“ Helene. Die nach Südseeinsel duftende Göttin mit Bauchnabel hatte ihm eine Dusche und frische Kleidung arrangiert. Nun saßen sie und ihre Kollegin ihm ebenfalls gegenüber und schauten ihn erwartungsvoll an. Hatte sie sein Zögern bemerkt? Lander lehnte sich im Stuhl zurück, prüfend streifte sein Blick die Mienen der Zuhörer. Sie hielten ihn für einen Seebären, da lagen sie richtig, erwarteten, dass er ihnen Seemanngarn auftischen würde, warum also sollte er da mit einer Wahrheit hinterm Berg halten, wie sie unglaubwürdiger nicht sein konnte? Den Jätti wusste er friedlich schlafend in der Ruine am Hafen.
Pastor Sigmatau schob ihm einen Krug Bier zu. Lander nahm einen großen Schluck, strich sich den Schaum vom Mund und …
„Habt ihr schon von Atlantis gehört?“
Sie lächelten, Helene kicherte und zwinkerte.
„Klar!“
„Wart ihr schon einmal auf einem Elefantenfriedhof?“
Pastor Sigmatau stutze. Dann giggelte er, dass sein rundliches Bäuchlein hüpfte:
„Lander, Sie wollen uns jetzt doch nicht etwa einen Seebären aufbinden, oder?“
„Wisst ihr, wo der Weihnachtsmann wohnt?“ Lander ließ sich nicht beirren.
„Fynn!“ Helene schien verärgert.
„Wisst ihrs?“ Lander trank den Krug leer, griff nach einer vollen Flasche auf dem Tisch, schlug den Schnappbügelverschluss auf und schenkte nach. Das Bier schmeckte, er spürte, dass der Alkohol seine Wirkung tat. Schon genug, dass die Müdigkeit seine Glieder schwer werden ließ, jetzt stieg ihm noch der nach entbehrungsreicher Zeit ungewohnte Alkohol zu Kopf und löste seine Zunge.
„Ihr wisst es nicht, hm? Aber ich, ich war dort, vor laaanger …“ mit fahriger Geste wedelte sein Handrücken einen weiten Halbkreis durch die Luft „ sssehr laaanger Zeit.“ Lander rülpste, machte Platz für den nächsten tiefen Zug aus dem Bierkrug. Den Schaum vom Mund zu wischen vergaß er.
„Fynn“, Helene und Pastor Sigmatau hatten sich auf Seemannsgarn nicht jedoch auf eine Märchenstunde eingestellt, „Fynn, Fynn, Fynn – du bist ja jetzt schon betrunken! Erzähl uns, ach, lass gut sein.“ Helenes Kollegin stand vom Tisch auf und verabschiedete sich mit „Muss noch was tun!“ in den Speisesaal und kümmerte sich um die Besucher, die nach dem Essen wieder in die Kälte aufbrachen, oder, so sie Glück und ein wenig Geld hatten, sich auf ihre Zimmer zurückzogen.
„Ich waaar dort, Helene“, Fynn Lander spürte, dass man ihm wenig Glauben schenkte. Auch gut, ja, sogar besser, dachte er, sie würden nur in Panik geraten oder ihn einsperren und auf Zurechnungsfähigkeit hin untersuchen lassen.
„Helene, Passsor Singmantau“, die beiden lächelten milde, „am Nordkap war ich, in Lappland, aber das ist schon so lange her, nicht einmal eure Großeltern waren da schon geboren!“
Landers Zuhörer entspannten sich, schenkten sich ebenfalls ein Bier ein und richteten sich ein auf Seemannsgarn vom Feinsten ein. Sollte er doch seine Märchen erzählen, wenn ihm dann leichter ums Herz wurde.
Sicherlich war der arme Kerl lange einsam, dachte Helene.
„Und?“ Sie zwinkerte ihm aufmunternd zu.
„Da oben ist es nicht nur sehr kalt und sehr einsam. Dort gibt es auch einen Berg, den Korvatunturi, an dessen Fuß leben die letzten ihrer Art …“
„Die letzten welcher Art?“ Der Pastor. Helene drängte:
„Was hat das mit dem Weihnachtsmann zu tun?“
Fynn Lander trank den Krug leer, schenkte abermals nach, trank und erzählte seinen beiden ungläubig staunenden Zuhörern von den seltenen urtümlichen Gestalten, die in den schütteren Wäldern und der Tundra am Fuße des Korvatunturi hausen. Dass man nicht genau wisse, ob sie menschliche Wesen seien. Von ihrem roten, gestromten Fell berichtete er, ihrer Hünengestalt, der weißen Lockenmähne, die an Löwen erinnere.
Nicht unerwähnt ließ er, dass die frühen Herrscher Turkus auch nach ihrer Bekehrung zum Christentum immer einige Exemplare der Jätti genannte wilden Riesen in den tiefen Gräben um ihre ersten Felsenburgen zu halten pflegten und dass sie Bösewichter, die den Weihnachtsfrieden brachen, in die Gräben stießen und von den Bestien zerreißen ließen, denen man ein beinahe mystisches Gespür für Bösewichte nachsagte. Er, Fynn Lander wisse nicht, ob auch nur ein Fünkchen Wahrheit sei an diesen alten Geschichten. Die Jätti hätten den Erzählungen der Städter Südfinnlands schon zu seiner Zeit nach als ausgestorben gegolten. Mit „seiner Zeit“, meinte Lander die Jahre, in denen er als er Waldläufer und Fallensteller den Norden Lapplands durchstreifte, und das, dem Pastor und die nach Südseeinsel duftende Frau an seiner Seite stand der Mund auf vor ungläubigem Staunen, lag noch vor der Zeit des finnisch-russischen Krieges, in dem Finnland seine Unabhängigkeit vom Zarenreich erstritt.
„Die Russischen Zaren gibt’s nicht mehr, das weiß ich vom Pflaumenkopf“ Fynn stutzte, wurde gewahr, dass weder Helene noch der Pastor wissen konnten, um wen oder was es sich bei dem Pflaumenkopf (siehe Kapitel 1, 21 und 24) handelte. Er selbst war sich auch nicht sicher, wusste nur, dass er ihm tatsächlich im Hafen Jesterfield begegnet war und dass der Pflaumenkopf ihn gebeten hatte, ihm bei der Rettung des Jätti behilflich zu sein. Bei dessen Rettung und Rücktransport an den Korvatunturi und zurück in die jüngere Vergangenheit sollte er helfen.
Nein, dass durfte er seinen Zuhörern nicht zumuten. Auch nicht, dass alle Jahre wieder einem dieser scheuen Wilden eine wundersame Wandlung widerfuhr und er zu einem neuen Weihnachtsmann metamorphierte, wenn der Alte vom Berg aus Altersgründen abdankte. Dass es nach hunderten Jahren wieder an der Zeit war, einen neuen Weihnachtsmann zu erschaffen, hatte der Pflaumenkopf gesagt.
Nicht einmal darüber, dass ein Jätti in Jesterfield sei wegen irgendwelcher Irren, die ihn nun suchten und wahrscheinlich wieder quälen wollten wie die am Hafen (siehe Kapitel 18) gesucht würde, durfte er auch nur ein Wort verlieren, zu unwirklich war das, was er zu erzählen hatte.
Helen deutete sein Schweigen als Nachdenklichkeit, mutmaßte, dass der durch die von Alkohol und Müdigkeit ein wenig hilflos wirkende Seebär vor ihr den Faden verloren hatte und nun über einer Fortsetzung seiner phantastischen Geschichte brütete.
„Und, Fynn“, sie legte ihre Hand auf seine, „am Ende haben wir einen Jätti im Jesterfield, und der ist hat die Panik auf dem Weihnachtsmarkt verbockt (siehe Kapitel 26),bei der die vielen Leute an Herzschlag starben, ach nee, vergiftet hat er die ja, - und, und – “, eigentlich war Helene zum Scherzen aufgelegt, “und dann ist er das Monster, das die alte Frau umbrachte und ihr die Kopfhaut vom Schädel riss (Kapitel 22). So stand das jedenfalls heute in der Zeitung. Ich …“
Auf einen Schlag war Lander hellwach. Er fuhr hoch, legte Helene den Zeigefinger auf die Lippen und zischte:
„Sch…t, Helene, damit macht man keine Witze!“
Ihre Lippen! Warm und fest schmiegten sie sich an die Spitze seines Zeigefingers, Helene spitzte sie zum Kussmund und ließ die Tastsensoren der Fingerbeere in Flammen aufgehen.
„Ich, ich …“ Sein Blick flackerte: Der Jätti! Der Jätti, er durfte ihn nicht zu lange allein lassen
„Helene, ich …“
„Ja?“
„Muss los, jetzt.“
Lander stieß seinen Stuhl zurück, dass der durch den Saal polterte.
„He, Fynn, Seemann, was läuft dir denn jetzt davon?“ Helene genoss, Fynn in Verlegenheit gebracht zu haben. „Warte, ich packe dir schnell noch den restlichen Braten ein …“
Fynn Lander war schon an der Tür, als sie ihn einhole und ein köstlich duftendes Päcken in die Hand drückte, dass sie ihm zusammen mit dem Bündel seiner frisch gewaschenen und gebügelten Wäsche reichte.
„Ich weiß ja nicht, was mit dir los ist, dass du mit einem Mal so überstürzt aufbrechen musst, aber wird wohl keine Frau dahinter stecken, oder?“
Sein Blick war ihr Antwort genug.
„Machs gut, Fynn Lander! Und wenn du magst, bist du hier jederzeit willkommen. Ich warte auf dich“, zwinkerte sie ihm noch zu und drückte ihm einen Kuss auf die Wange, da sprang Lander auch schon in die Nacht und hastete zum Hafen.
Der Jätti! Fynn hatte die Zeit vergessen, doch Helenes Gerede von der Panik auf dem Weihnachtsmarkt, was immer damit gemeint sein mochte, und vor allem die Erwähnung der toten Frau, deren Kopfhaut abgerissen war, beunruhigte ihn aus Äußerste. Er durfte den Jätti nicht lange ohne Aufsicht und Schutz lassen. Lander malte sich aus, welchen Schaden der Jätti anrichten könnte, würde er erst einmal mit den Einwohnern Jesterfields in Berührung kommen. Das durfte er auf keinen Fall zulassen.
Das Hafengelände roch nach Salzluft und Diesel, selbst jetzt, weit nach Mitternacht, war die Welt hier noch nicht zur Ruhe gekommen. Geschäftiges Treiben auf den Piers und zwischen den hell erleuchteten Lagerhäusern. Lander, den Kragen seiner neuen blauen Wolljacke hochgeschlagene, steuerte das rückwärtige Gelände an und auf die Ruine eines Lagerhauses zu, in dem er und der Jätti in unterschiedlichen Stockwerken Unterschlupf gefunden hatten.
Hier war es ruhiger, hierher verirrte sich keine Menschenseele.
Eine schmutzigweiße Katze sprang ihm freudig bellend entgegen und wedelte mit einem grauweißen Staubwedel am Hinterteil. Katze? Die bellen nicht, fuhr es Lander durch den Sinn, doch dass es solch winzigen Hunde geben sollte … Er ging in die Knie und griff das heftig zappelnde und sich windende Knäuel mit beiden Händen:
„Na, Kleiner – oh – Kleineee, sorry – was machst denn du hier so allein?“
Zur Antwort schleckte ihm das Fellknäuel die Nasenspitze, wand sich aus seinem Griff und stürzte sich auf das Päckchen mit dem Schweinsbraten.
„Ach, so ist das mit uns beiden! Du willst mir ans Nachtmahl, was, Kissa*?“
„Jiff! Wräff!
„Na, dann komm …“
Lander tauchte, dicht gefolgt von seinem neuen Begleiter, in den schatten der Ruine ein.
„Sitz!“
Hündchen Katze gehorchte aufs Wort.
Eilig sprang Lander ein Stockwerk höher und fand den Jätti noch immer schlafend vor. Der Atem des Riesen ging ruhig und gleichmäßig.
„Schlaf schön und träum vom Korvatunturi, wilder Freund“, flüsterte Fynn erleichtert und zog sich auf sein Lager eine Etage tiefer zurück, wo ein hungriges Hündchen bereits ungeduldig wartete. Er fischte zwei Scheiben Schweinsbraten aus dem Paket und legte sie dem Hündchen hin. Dann richtete er sein Lager her und bettete sich hundemüde hinein. Als der Schlaf ihn übermannte spürte er noch, wie ein kleines Fellbündel über ihn hinwegkletterte, sich in seinen Kniekehlen drehte und drehte und schließlich mit einem Seufzerchen zusammenrollte.
„Nacht, Kissanpentu*!“
„Hrff…“