Momente
Text
von max.sternbauer
Melenas Tage begannen immer gleich; Aufstehen, die Kaffeemaschine anwerfen,
ihren Sohn Tom wecken, Frühstück machen, unter den Strahl der Dusche stellen und sich ein paar mal im Kreis drehen, Tom in die Schule bringen und zur Arbeit, Tom dann abholen und zu ihrer Großmutter bringen (eine rüstige 87-Jährige), zur Universität fahren und versuchen, nicht einzuschlafen und Tom dann in der REM-Phase nach Hause bringen. Ihr Tage endete immer gleich, sie brach auf der Couch zusammen und machte die Glotze an. Oder sie starrte einfach nur die scheußliche braune Tapete an, die ihr Vormieter dagelassen hatte. Sie konnte sich richtig in diesem Muster versinken lassen. Dann schaltete sich ihr Gehirn einfach ab. Manchmal schlief sie auch einfach auf der Couch. Deswegen stand auf dem kleinen grob gezimmerten Kasten ein zusätzlicher Wecker. Melena konnte nicht genau sagen, wann sie zu einer Maschine geworden war. Zum Leben blieb einfach keine Zeit. An den Wochenenden spielte sie ein paar Stunden mit Tom. Für mehr hatte sie einfach keine Kraft. Sie lief auf Reserve und die wurde mit den sechs Stunden Schlaf pro Nacht nur spärlich aufrecht erhalten. Sie funktionierte, mehr nicht. Manchmal an Freitagen dachte sie an jeden einzelnen Tag der Woche zurück und erwischte sich oft dabei, dass sie die Tage nur daran unterscheiden konnte, weil sie sich mit unterschiedlichen Frisuren an der Kaffeemaschine lehnen sah. Melena ging nicht aus, weil sie zweifach pleite war. Keine Kohle, keine Zeit.
Vor einigen Jahren war ihr Ex-Freund in ihren Weg gestolpert. Sie war Siebzehn, er schrammte die Mitte Zwanzig. Nach einem Sommer bekam sie Tom und der süße traum verwandelte sich in eine Bruchlandung. Mit Neunzehn trennten sich ihre Wege. Ab da lebte sie mit Tom bei ihrer Großmutter und begann zu studieren. Sven - so hiess ihr Ex-Freund - drückte sich vor der Verantwortung, indem ihm ein windiger Anwalt ein medizinisches Gutachten besorgte, das bescheinigte, das Sven nicht Stressbelastbar war und unter Selbstmordgedanken litt. Er bekam eine Invalidenrente und die Krönung war, dass Melena ihm Alimente zahlen musste. Auf das Besuchsrecht legte Sven kaum einen Wert. Nur wenn er Geld brauchte, schrillte bei Melena das Telefon. Melena fing bei einer Tierschutzorganisation an zu arbeiten. Sie saß am Telefon und versuchte, Menschen das Leiden von Tieren näher zu bringen, von denen sie nicht einmal ein Bild malen konnte und die in Ländern gequält wurden, deren Namen sie nicht korrekt aussprechen konnte. Sie saß die meiste Zeit des Tages in einem gigantischen Glaskasten, dessen Inneres in kleine graue Bienenwaaben unterteilt war. In so einem Fach saß sie zusammen mit ihrer Kaffeetasse, die Tom für sie gebastelt hatte und einigen aufgehängten selbstgeknipsten Polaroids.
Sie studierte Biologie und das allein wäre schon anstrengend genug. Aber da war ja noch Tom, ihre Großmutter und Sven. Vor einem Jahr war sie ausgezogen. Es verging aber kaum ein Tag, an dem ihre Großmutter sie nicht fragte, ob sie beide nicht wieder bei ihr wohnen wollten. Aber Melena brauchte ihre eigene Wohnung. Sie war nicht nur ausgezogen, um die alte Frau zu entlasten, es machte sie einfach stolz auf eigenen Füssen zu stehen. Aber dieser Stolz hatte auch den Preis, dass sie überhaupt keine Hilfe mehr annehmen wollte. Oft sagte ihre Großmutter: "Gib mir Tom doch mal übers Wochenende, damit du in aller Ruhe lernen oder mal ausgehen kannst. Du bist doch erst Fünfundzwanzig, verdammt". Aber sie schüttelte ímmer wieder nur den Kopf. Sie brauchte keine Hilfe. So dachte sie. An diesem Morgen gab sie Tom nur einen Kuss auf die Stirn. Er musste heute nicht in die Schule, also ließ sie ihn schlafen. Karin, eine gute Freundinn, wollte auf Tom aufpassen, während sie bei der Arbeit war. Mit ihrem Fahhrad fuhr sie zum Campus. Bevor sie ihre Wohnung verließ, schrillte aber das Telefon. Ihre Laune schoss in Richtung dunklen Keller als sie sofort die Stimme erkannte.
Es war ihr Chef. Ein Arschloch. Vor drei Monaten war sie mal ohne eigenes Verschulden zehn Minuten zu spät erschienen. Er mußte draufhin einen Vortrag halten, der eine halbe Stunde in Anspruch genommen hatte. Ausserdem stritt sie mit ihm um einige Überstunden, die er einfach nicht abrechnen wollte. Dementsprechend kühl klang ihre Begrüssung. Sie wartete in Gedanken seufzend auf die glatte sarkastische Stimme ihres Chefs. Aber stattdessen hörte sie zuerst ein sachtes vorsichtiges Räuspern aus dem Hörer rieseln. Dann sagte eine Stimme, die zwar vom Ton her der ihres Chefs gleichte, aber der Inhalt konnte unmöglich von demselben Menschen stammen. Sie sagte folgendes: "Wie geht es ihnen?" WIE GEHT ES IHNEN!! Vor Überraschung sagte sie einige Sekunden gar nichts. "Hallo", fragte sie nochmal vorsichtig. "Äh ja, ich bin noch dran, Hey, äh, wie, äh, läuft's denn so?" "Danke, mir geht es gut", stammelte sie und versuchte verzweifelt einen weiteren Satz zu konstruieren. Ihr Chef kam ihr Gott sei Dank zuvor. "Wegen ihren Überstunden, brauchen sie sich keine Sorgen mehr machen. Sie wurden ausbezahlt. Ausserdem möchte ich mich für mein Bennehmen enschuldigen. Was ich gemacht habe, war wirklich nicht korrrekt. Hey, ich hab eine Idee, warum nehmen sie sich heute nicht einfach frei?". Melena antwortete leicht verwirrt, "Ich habe aber heute schon frei". "Oh", machte ihr Chef. Er klang so verlegen, dass Melena richtig Mitleid für ihn fühlte. Bevor sie etwas sagen konnte, donnerte ihr Chef: "Aber wissen sie was, morgen haben sie auch frei. Keine Widerrede." Dann lachte er schallend, aber so wie ein Diener, der einen Tyrannen bei Laune halten musste. Melena beschlich sie ungutes Gefühl. Ihr Chef hatte Angst. "Danke", murmelte sie. Oder zumindest wolte sie das sagen, ihr Chef hatte schon voher aufgelegt. Einen Moment lang starrte sie den Hörer an und fragte sich, ob sie dieses irrwitzige Telefonat wirklich geführt oder das ganze nur geträumt hatte. Nein, sowas träumt man nicht. Sie starrte aus dem Fenster und überlegte, ob sie nicht einfach zu Hause bleiben sollte. Dann zuckte sie mit den Schultern und drängte ihren Chef aus ihren Gedanken.
Sie ging mit ihrem Fahrrad aus dem Haus. Als sie einige Gassen runtergesaust war, platzte eine ihrer Reifen auf. Melena raste auf einen Gehsteig zu und bremmste nur knapp vor einem Hydranten. "FUCK", fluchte sie und versuchte gar nicht erst, leise zu sein. "Klar, das ist die Strafe dafür, dass ich freigekriegt habe", murmelte sie. Melena stieg ab und besah sich den Schaden obwohl sie wusste, dass sie eh nichts tun konnte. Rund um sie herum war eine Einöde ohne U-Bahn. Sie kam zu spät, egal was sie jetzt noch tat. Aber plötzlich bremste ein Auto neben ihr ab. Ein Fenster wurde runter gekurbelt: "Müssen sie zur Universität?". Der Kerl war anfang Sechzig und trug seine grauen und strähnenweise schneeweißen Haare zu einem Pferdeschwanz. Melena glaubte, diesen Mann zu kennen. Er war wohl ein Professor, dachte sie. Kurz nickte sie ihrem Helfer zu, der einen Handgriff machte und hinten ging der Kofferraum auf. Bei einer Seitengasse hielten sie an. "Danke", sagte Melena und schüttelte dem Fremden die Hand. Kurz fiel ihr Blick auf den Boden. Ihr Gegenüber trug keine Schuhe. "Aber jederzeit wieder." Er lächelte sie strahlend an. Melena nickte ihm noch kurz zu und verschwand in der Universität. Der Fremde folgte ihr mit seinen Augen. Dann schloss er kurz seine Augenlieder. Sein Auto war verschwunden. Er blinzelte nochmal und weg war er. Die Vorlesung floss nur so in ihr Gehirn, dass Melena dachte, sie müsste sich nicht mal die Mühe machen und hinhören. Heute ist schon ein seltsamer Tag, dachte sie, als sie die Universität verließ. Melena schleppte ihr havariertes Fahrrad zur Strassenbahn.
Ihre Reise war für heute noch nicht vorbei; sie musste noch zu Sven. Sven schuldete ihr immer noch eine Menge Geld, das er einfach nicht rausrückte. Lärm, lauter Lärm brüllte ihr entgegen und flog aus allen Fenstern aus dem ersten Stock. Sven war also da, na so eine Überraschung. Melena folgte dem Lärm durch das Treppenhaus und trommelte gegen die Tür. Sofort erstarb die Musik. In der Wohnung war es auf einmal so still wie in einem Grab. "Sven, hör auf den toten Mann zu spielen, ich weiß, das du da bist", rief Melena. Kurz bevor sie sich mal als Rammbock versuchen wollte, öffnete sich die Tür. Sven lehnte lässig gegen den Türstock. Er trug einen rosa Bademantel und in der einen Hand hielt er eine Wasserpfeife. Sven stank verdächtig nach Pot, genauso wie die Höhle, vor deren Eingang er stand. Was soll's, Melena hatte auch mal gekifft. Als sie Sven so ansah, dachte sie daran, wie fremd er ihr geworden war. Es hatte wirklich mal eine Zeit gegeben, da hatten sie zusammen gelacht und gelebt. Aber jetzt, was war jetzt? Wenn ihr die siebzehnjährige Melena einmal über den Weg gelaufen wäre, hätte ihr jüngeres Ich sie sicher nicht erkannt. Genauso wenig, wie sie verstehen konnte, warum dieses Mädchen so fühlte und dachte. Beide wären sich so unendlich fremd. "Hallo Sven", sagte Melena und winkte ihm abgehackt zu. "Was willst du?", fragte er. Melena seufzte. Sie sah ihn als Antwort nur lange an. "Bitte lass es mich nicht aussprechen, du weißt genau, wieso ich hier bin", sagte sie schließlich und kreuzte ihre Arme. Sven folgte der Geste und grinste leicht, als wäre ihm ein guter Witz eingefallen. Melena rechnete damit, dass er die Konversation damit beenden würde, die Tür zuzuschmeissen. Als er aber immer noch nichts sagte, trat sie einen Schritt vor. "Sven, du schuldest mir Geld, gib es mir einfach und du bist mich wieder los." Sie schaute ihm tief in die Augen. Sie waren leicht gerötet und umrahmt von kohleschwarzen Augenringen. Svens Mund verzog sich auf einmal zu einem bitterbösen Grinsen. "Du schuldest mir noch einen Scheck", sagte er und wippte lässig seinen Körper dabei. Verdammt! Die Alimente, die sie am August einzahlen sollte, hatte sie vor lauter Stress einfach vergessen. Eine Strafgebühr war daraufhin fällig geworden. Das ganze war so verzögert worden, dass Sven das Geld noch nicht bekommen hatte. Melena hätte sich am liebsten selber geohrfeigt. Sven spürte, dass er eine Wunde getroffen hatte und bohrte weiter. "Tja, und die Summe ist zwar ein wenig größer als das, was ich dir schulde, aber ich erlasse dir natürlich selbstverständlich die Differenz. Also danke für deinen Besuch und hat mich gefreut, dass ich dir helfen konnte." Blitzschnell trat Sven in seine Wohnung zurück und wollte die Tür zuschmeissen. Aber Melena trat mit ihrem Schuh dazwischen und blockierte die Tür. Ein Blitz des Zornes schoss durch Sven. Er riss die Tür auf und trat Melena entgegen, die aber nicht zurückwich. Sven wurde schnell wütend, aber er würde Melena niemals schlagen.
Eine Person trat zwischen sie. "Guten Tag, bitte verzeihen sie meine Unpünklichkeit. Aber das passiert mir wirklich zum ersten Mal". Vor ihnen war ein Kerl erschienen, ein Mann, der in einem dunklen Anzug steckte und dazu eine blutrote Krawatte trug. Sein Haar, so schwarz wie sein Anzug, war zurückgekämmt und mit Gel einbetoniert. Melena konnte auf die Gräber aller ihrer Vorfahren schwören, dass die diesen Mann noch nie zuvor gesehen hatte. Aber trotzdem spürte sie eine unheimliche Vertrautheit, als würde ihr Großvater sie im Arm halten. Wer zum Teufel war das? Svens Gesicht strahlte nur so vor Ratlosigkeit. "Wer ist das?" war wohl die die Frage gewesen, die er stellen wollte. Aber seine Lippen kamen nur dazu das W von Wer zu formen. "Ich bin der Anwalt ihrer ehemaligen Lebensgefährtin", unterbach ihn der Fremde. "Was?", schrien Melena und Sven so laut zusammen, dass Melena die Ohren klingelten. Tatsächlich zog der Fremde auch noch eine Visitenkarte hervor und reichte sie Sven. Er schnappte sich die Karte, ohne sie anzusehen und wandte sich mit einem gefährlich roten Kopf Melena zu. "Du hast dir einen neuen Anwalt besorgt!", schrie er. Melena war vollkommen überumpelt und brachte nur ein "Uff" heraus. Der Fremde trat an ihre Seite. "Ja, sie ist meine Mandantin. In nächster Zeit werde ich ihren Rechtsbeistand kontaktieren, wie war der Name ihres Anwaltes doch gleich?" "Dr. Schäfer.", sagte Sven. Melena horchte überrascht auf. War da Nervosität in seiner Stimme? "Aha, Dr. Schäfer also.", wiederholte der Fremde mit einem spöttischen Unterton in der Stimme. "Verzeihen sie meine Direktheit aber zum wievielten Male ermittelt nun schon die Anwaltskammer gegen meinen Kollegen?" Das traf Sven hart. Melena konnte es ihm ansehen wie er sich anstrengte, eine Verteidigung aufzubauen.
Melenas "Anwalt" trat aber vor. Er zückte einen Kugelschreiber und fuhr damit über den Rand von Svens Wasserpfeiffe. "Ich gehe doch recht in der Annahme, dass sie für dieses Präparat ein Rezept von ihrem Hausarzt besitzen. Ich brauche sie ja über das Rauschgiftgesetz nicht aufzuklären." Hätte Sven jemand von hinten mit einer Bratpfanne malträtiert, wäre es ihm sicher nicht aufgefallen. Er versteckte die Pfeife hinter seinem Rücken und stammelte: "Äh, Nein, natürlich nicht, ich meine, Ja, das ist ein wenig kompliziert was?" Sven war jetzt komplett durch den Wind. Er wirkte so hilflos, dass Melena ihn am liebsten in den Arm genommen hätte. "Sie haben ja meine Karte. Ich werde ihren Anwalt kontaktieren zwecks eines neuen Verfahrens wegen der Alimente, die meine Mandantinn noch verpflichtet ist an sie zu zahlen." Sven sah den Fremden an. Normalerweise hätte er jetzt ein leichtes Grinsen aufgesetzt und alle Hebel in Bewegung gesetzt, um seinem Gegenüber die Hosen stramm zu ziehen. Aber jetzt stand ein kleiner hilfloser Junge vor ihnen. "Nein, nein, das ist überhaupt nicht nötig, nicht wahr, Melena. Wir haben schon alles besprochen. Ich verzichte auf alles. Bevor sie gekommen sind haben wir uns schon auf alles geeinigt, stimmt's, Melena?" Melena nickte einfach nur. In Gedanken wartete sie darauf, zur Kaiserin von China erklärt zu werden. Das wäre der Abschluss für diesen schwachsinnigen Tag. Schweigend verließ sie das Haus.
Einige Straßen weit folgte ihr der Fremde. Bei einer Kreuzung fiel ihr Blick auf seine Schuhe. Oder besser gesagt auf seine Füsse, denn er trug keine Schuhe. Resigniert starrte Melena den Fremden an. Er trug das selbe Lächeln wie der Mann, der ihr heute Morgen geholfen hatte. Nur war es ein anderes Gesicht. "Sagen sie mir einfach ob ich Wahnsinnig werde und dass sie das Produkt meiner Phantasie sind." Der Fremde lächelte, sagte keinen Ton, schüttelte aber den Kopf. "Sind sie ein Geist", bohrte sie weiter. Der Fremde zuckte mit den Achseln, hob und senkte die Hand. Melena schnaufte. Sie merkte, dass sie wohl keine Antworten bekommen würde. Aber eines spürte sie wieder. Diese seltsame Vertrautheit. Sie konnte ihm vertrauen, auch wenn sie niemals wissen sollte, was eigendlich los war. Als sie zu diesem Gedanken gekommen war, schnaufte sie nochmal. Dann ging der Fremde. "Haben sie das mit meinem Chef geregelt?", brüllte sie ihm noch hinterher. Der Fremde strahlte über beide Backen und nickte heftig. Dann war die Strasse plötzlich leer.
Melena schnaufte erstmal den ganzen Frust weg und fuhr nach Hause.
Sie fuhr das erstemal seit langem wieder mit Tom Eislaufen.
Und die ganze verdammte Welt war mal für fünf Minuten in Ordnung.
ihren Sohn Tom wecken, Frühstück machen, unter den Strahl der Dusche stellen und sich ein paar mal im Kreis drehen, Tom in die Schule bringen und zur Arbeit, Tom dann abholen und zu ihrer Großmutter bringen (eine rüstige 87-Jährige), zur Universität fahren und versuchen, nicht einzuschlafen und Tom dann in der REM-Phase nach Hause bringen. Ihr Tage endete immer gleich, sie brach auf der Couch zusammen und machte die Glotze an. Oder sie starrte einfach nur die scheußliche braune Tapete an, die ihr Vormieter dagelassen hatte. Sie konnte sich richtig in diesem Muster versinken lassen. Dann schaltete sich ihr Gehirn einfach ab. Manchmal schlief sie auch einfach auf der Couch. Deswegen stand auf dem kleinen grob gezimmerten Kasten ein zusätzlicher Wecker. Melena konnte nicht genau sagen, wann sie zu einer Maschine geworden war. Zum Leben blieb einfach keine Zeit. An den Wochenenden spielte sie ein paar Stunden mit Tom. Für mehr hatte sie einfach keine Kraft. Sie lief auf Reserve und die wurde mit den sechs Stunden Schlaf pro Nacht nur spärlich aufrecht erhalten. Sie funktionierte, mehr nicht. Manchmal an Freitagen dachte sie an jeden einzelnen Tag der Woche zurück und erwischte sich oft dabei, dass sie die Tage nur daran unterscheiden konnte, weil sie sich mit unterschiedlichen Frisuren an der Kaffeemaschine lehnen sah. Melena ging nicht aus, weil sie zweifach pleite war. Keine Kohle, keine Zeit.
Vor einigen Jahren war ihr Ex-Freund in ihren Weg gestolpert. Sie war Siebzehn, er schrammte die Mitte Zwanzig. Nach einem Sommer bekam sie Tom und der süße traum verwandelte sich in eine Bruchlandung. Mit Neunzehn trennten sich ihre Wege. Ab da lebte sie mit Tom bei ihrer Großmutter und begann zu studieren. Sven - so hiess ihr Ex-Freund - drückte sich vor der Verantwortung, indem ihm ein windiger Anwalt ein medizinisches Gutachten besorgte, das bescheinigte, das Sven nicht Stressbelastbar war und unter Selbstmordgedanken litt. Er bekam eine Invalidenrente und die Krönung war, dass Melena ihm Alimente zahlen musste. Auf das Besuchsrecht legte Sven kaum einen Wert. Nur wenn er Geld brauchte, schrillte bei Melena das Telefon. Melena fing bei einer Tierschutzorganisation an zu arbeiten. Sie saß am Telefon und versuchte, Menschen das Leiden von Tieren näher zu bringen, von denen sie nicht einmal ein Bild malen konnte und die in Ländern gequält wurden, deren Namen sie nicht korrekt aussprechen konnte. Sie saß die meiste Zeit des Tages in einem gigantischen Glaskasten, dessen Inneres in kleine graue Bienenwaaben unterteilt war. In so einem Fach saß sie zusammen mit ihrer Kaffeetasse, die Tom für sie gebastelt hatte und einigen aufgehängten selbstgeknipsten Polaroids.
Sie studierte Biologie und das allein wäre schon anstrengend genug. Aber da war ja noch Tom, ihre Großmutter und Sven. Vor einem Jahr war sie ausgezogen. Es verging aber kaum ein Tag, an dem ihre Großmutter sie nicht fragte, ob sie beide nicht wieder bei ihr wohnen wollten. Aber Melena brauchte ihre eigene Wohnung. Sie war nicht nur ausgezogen, um die alte Frau zu entlasten, es machte sie einfach stolz auf eigenen Füssen zu stehen. Aber dieser Stolz hatte auch den Preis, dass sie überhaupt keine Hilfe mehr annehmen wollte. Oft sagte ihre Großmutter: "Gib mir Tom doch mal übers Wochenende, damit du in aller Ruhe lernen oder mal ausgehen kannst. Du bist doch erst Fünfundzwanzig, verdammt". Aber sie schüttelte ímmer wieder nur den Kopf. Sie brauchte keine Hilfe. So dachte sie. An diesem Morgen gab sie Tom nur einen Kuss auf die Stirn. Er musste heute nicht in die Schule, also ließ sie ihn schlafen. Karin, eine gute Freundinn, wollte auf Tom aufpassen, während sie bei der Arbeit war. Mit ihrem Fahhrad fuhr sie zum Campus. Bevor sie ihre Wohnung verließ, schrillte aber das Telefon. Ihre Laune schoss in Richtung dunklen Keller als sie sofort die Stimme erkannte.
Es war ihr Chef. Ein Arschloch. Vor drei Monaten war sie mal ohne eigenes Verschulden zehn Minuten zu spät erschienen. Er mußte draufhin einen Vortrag halten, der eine halbe Stunde in Anspruch genommen hatte. Ausserdem stritt sie mit ihm um einige Überstunden, die er einfach nicht abrechnen wollte. Dementsprechend kühl klang ihre Begrüssung. Sie wartete in Gedanken seufzend auf die glatte sarkastische Stimme ihres Chefs. Aber stattdessen hörte sie zuerst ein sachtes vorsichtiges Räuspern aus dem Hörer rieseln. Dann sagte eine Stimme, die zwar vom Ton her der ihres Chefs gleichte, aber der Inhalt konnte unmöglich von demselben Menschen stammen. Sie sagte folgendes: "Wie geht es ihnen?" WIE GEHT ES IHNEN!! Vor Überraschung sagte sie einige Sekunden gar nichts. "Hallo", fragte sie nochmal vorsichtig. "Äh ja, ich bin noch dran, Hey, äh, wie, äh, läuft's denn so?" "Danke, mir geht es gut", stammelte sie und versuchte verzweifelt einen weiteren Satz zu konstruieren. Ihr Chef kam ihr Gott sei Dank zuvor. "Wegen ihren Überstunden, brauchen sie sich keine Sorgen mehr machen. Sie wurden ausbezahlt. Ausserdem möchte ich mich für mein Bennehmen enschuldigen. Was ich gemacht habe, war wirklich nicht korrrekt. Hey, ich hab eine Idee, warum nehmen sie sich heute nicht einfach frei?". Melena antwortete leicht verwirrt, "Ich habe aber heute schon frei". "Oh", machte ihr Chef. Er klang so verlegen, dass Melena richtig Mitleid für ihn fühlte. Bevor sie etwas sagen konnte, donnerte ihr Chef: "Aber wissen sie was, morgen haben sie auch frei. Keine Widerrede." Dann lachte er schallend, aber so wie ein Diener, der einen Tyrannen bei Laune halten musste. Melena beschlich sie ungutes Gefühl. Ihr Chef hatte Angst. "Danke", murmelte sie. Oder zumindest wolte sie das sagen, ihr Chef hatte schon voher aufgelegt. Einen Moment lang starrte sie den Hörer an und fragte sich, ob sie dieses irrwitzige Telefonat wirklich geführt oder das ganze nur geträumt hatte. Nein, sowas träumt man nicht. Sie starrte aus dem Fenster und überlegte, ob sie nicht einfach zu Hause bleiben sollte. Dann zuckte sie mit den Schultern und drängte ihren Chef aus ihren Gedanken.
Sie ging mit ihrem Fahrrad aus dem Haus. Als sie einige Gassen runtergesaust war, platzte eine ihrer Reifen auf. Melena raste auf einen Gehsteig zu und bremmste nur knapp vor einem Hydranten. "FUCK", fluchte sie und versuchte gar nicht erst, leise zu sein. "Klar, das ist die Strafe dafür, dass ich freigekriegt habe", murmelte sie. Melena stieg ab und besah sich den Schaden obwohl sie wusste, dass sie eh nichts tun konnte. Rund um sie herum war eine Einöde ohne U-Bahn. Sie kam zu spät, egal was sie jetzt noch tat. Aber plötzlich bremste ein Auto neben ihr ab. Ein Fenster wurde runter gekurbelt: "Müssen sie zur Universität?". Der Kerl war anfang Sechzig und trug seine grauen und strähnenweise schneeweißen Haare zu einem Pferdeschwanz. Melena glaubte, diesen Mann zu kennen. Er war wohl ein Professor, dachte sie. Kurz nickte sie ihrem Helfer zu, der einen Handgriff machte und hinten ging der Kofferraum auf. Bei einer Seitengasse hielten sie an. "Danke", sagte Melena und schüttelte dem Fremden die Hand. Kurz fiel ihr Blick auf den Boden. Ihr Gegenüber trug keine Schuhe. "Aber jederzeit wieder." Er lächelte sie strahlend an. Melena nickte ihm noch kurz zu und verschwand in der Universität. Der Fremde folgte ihr mit seinen Augen. Dann schloss er kurz seine Augenlieder. Sein Auto war verschwunden. Er blinzelte nochmal und weg war er. Die Vorlesung floss nur so in ihr Gehirn, dass Melena dachte, sie müsste sich nicht mal die Mühe machen und hinhören. Heute ist schon ein seltsamer Tag, dachte sie, als sie die Universität verließ. Melena schleppte ihr havariertes Fahrrad zur Strassenbahn.
Ihre Reise war für heute noch nicht vorbei; sie musste noch zu Sven. Sven schuldete ihr immer noch eine Menge Geld, das er einfach nicht rausrückte. Lärm, lauter Lärm brüllte ihr entgegen und flog aus allen Fenstern aus dem ersten Stock. Sven war also da, na so eine Überraschung. Melena folgte dem Lärm durch das Treppenhaus und trommelte gegen die Tür. Sofort erstarb die Musik. In der Wohnung war es auf einmal so still wie in einem Grab. "Sven, hör auf den toten Mann zu spielen, ich weiß, das du da bist", rief Melena. Kurz bevor sie sich mal als Rammbock versuchen wollte, öffnete sich die Tür. Sven lehnte lässig gegen den Türstock. Er trug einen rosa Bademantel und in der einen Hand hielt er eine Wasserpfeife. Sven stank verdächtig nach Pot, genauso wie die Höhle, vor deren Eingang er stand. Was soll's, Melena hatte auch mal gekifft. Als sie Sven so ansah, dachte sie daran, wie fremd er ihr geworden war. Es hatte wirklich mal eine Zeit gegeben, da hatten sie zusammen gelacht und gelebt. Aber jetzt, was war jetzt? Wenn ihr die siebzehnjährige Melena einmal über den Weg gelaufen wäre, hätte ihr jüngeres Ich sie sicher nicht erkannt. Genauso wenig, wie sie verstehen konnte, warum dieses Mädchen so fühlte und dachte. Beide wären sich so unendlich fremd. "Hallo Sven", sagte Melena und winkte ihm abgehackt zu. "Was willst du?", fragte er. Melena seufzte. Sie sah ihn als Antwort nur lange an. "Bitte lass es mich nicht aussprechen, du weißt genau, wieso ich hier bin", sagte sie schließlich und kreuzte ihre Arme. Sven folgte der Geste und grinste leicht, als wäre ihm ein guter Witz eingefallen. Melena rechnete damit, dass er die Konversation damit beenden würde, die Tür zuzuschmeissen. Als er aber immer noch nichts sagte, trat sie einen Schritt vor. "Sven, du schuldest mir Geld, gib es mir einfach und du bist mich wieder los." Sie schaute ihm tief in die Augen. Sie waren leicht gerötet und umrahmt von kohleschwarzen Augenringen. Svens Mund verzog sich auf einmal zu einem bitterbösen Grinsen. "Du schuldest mir noch einen Scheck", sagte er und wippte lässig seinen Körper dabei. Verdammt! Die Alimente, die sie am August einzahlen sollte, hatte sie vor lauter Stress einfach vergessen. Eine Strafgebühr war daraufhin fällig geworden. Das ganze war so verzögert worden, dass Sven das Geld noch nicht bekommen hatte. Melena hätte sich am liebsten selber geohrfeigt. Sven spürte, dass er eine Wunde getroffen hatte und bohrte weiter. "Tja, und die Summe ist zwar ein wenig größer als das, was ich dir schulde, aber ich erlasse dir natürlich selbstverständlich die Differenz. Also danke für deinen Besuch und hat mich gefreut, dass ich dir helfen konnte." Blitzschnell trat Sven in seine Wohnung zurück und wollte die Tür zuschmeissen. Aber Melena trat mit ihrem Schuh dazwischen und blockierte die Tür. Ein Blitz des Zornes schoss durch Sven. Er riss die Tür auf und trat Melena entgegen, die aber nicht zurückwich. Sven wurde schnell wütend, aber er würde Melena niemals schlagen.
Eine Person trat zwischen sie. "Guten Tag, bitte verzeihen sie meine Unpünklichkeit. Aber das passiert mir wirklich zum ersten Mal". Vor ihnen war ein Kerl erschienen, ein Mann, der in einem dunklen Anzug steckte und dazu eine blutrote Krawatte trug. Sein Haar, so schwarz wie sein Anzug, war zurückgekämmt und mit Gel einbetoniert. Melena konnte auf die Gräber aller ihrer Vorfahren schwören, dass die diesen Mann noch nie zuvor gesehen hatte. Aber trotzdem spürte sie eine unheimliche Vertrautheit, als würde ihr Großvater sie im Arm halten. Wer zum Teufel war das? Svens Gesicht strahlte nur so vor Ratlosigkeit. "Wer ist das?" war wohl die die Frage gewesen, die er stellen wollte. Aber seine Lippen kamen nur dazu das W von Wer zu formen. "Ich bin der Anwalt ihrer ehemaligen Lebensgefährtin", unterbach ihn der Fremde. "Was?", schrien Melena und Sven so laut zusammen, dass Melena die Ohren klingelten. Tatsächlich zog der Fremde auch noch eine Visitenkarte hervor und reichte sie Sven. Er schnappte sich die Karte, ohne sie anzusehen und wandte sich mit einem gefährlich roten Kopf Melena zu. "Du hast dir einen neuen Anwalt besorgt!", schrie er. Melena war vollkommen überumpelt und brachte nur ein "Uff" heraus. Der Fremde trat an ihre Seite. "Ja, sie ist meine Mandantin. In nächster Zeit werde ich ihren Rechtsbeistand kontaktieren, wie war der Name ihres Anwaltes doch gleich?" "Dr. Schäfer.", sagte Sven. Melena horchte überrascht auf. War da Nervosität in seiner Stimme? "Aha, Dr. Schäfer also.", wiederholte der Fremde mit einem spöttischen Unterton in der Stimme. "Verzeihen sie meine Direktheit aber zum wievielten Male ermittelt nun schon die Anwaltskammer gegen meinen Kollegen?" Das traf Sven hart. Melena konnte es ihm ansehen wie er sich anstrengte, eine Verteidigung aufzubauen.
Melenas "Anwalt" trat aber vor. Er zückte einen Kugelschreiber und fuhr damit über den Rand von Svens Wasserpfeiffe. "Ich gehe doch recht in der Annahme, dass sie für dieses Präparat ein Rezept von ihrem Hausarzt besitzen. Ich brauche sie ja über das Rauschgiftgesetz nicht aufzuklären." Hätte Sven jemand von hinten mit einer Bratpfanne malträtiert, wäre es ihm sicher nicht aufgefallen. Er versteckte die Pfeife hinter seinem Rücken und stammelte: "Äh, Nein, natürlich nicht, ich meine, Ja, das ist ein wenig kompliziert was?" Sven war jetzt komplett durch den Wind. Er wirkte so hilflos, dass Melena ihn am liebsten in den Arm genommen hätte. "Sie haben ja meine Karte. Ich werde ihren Anwalt kontaktieren zwecks eines neuen Verfahrens wegen der Alimente, die meine Mandantinn noch verpflichtet ist an sie zu zahlen." Sven sah den Fremden an. Normalerweise hätte er jetzt ein leichtes Grinsen aufgesetzt und alle Hebel in Bewegung gesetzt, um seinem Gegenüber die Hosen stramm zu ziehen. Aber jetzt stand ein kleiner hilfloser Junge vor ihnen. "Nein, nein, das ist überhaupt nicht nötig, nicht wahr, Melena. Wir haben schon alles besprochen. Ich verzichte auf alles. Bevor sie gekommen sind haben wir uns schon auf alles geeinigt, stimmt's, Melena?" Melena nickte einfach nur. In Gedanken wartete sie darauf, zur Kaiserin von China erklärt zu werden. Das wäre der Abschluss für diesen schwachsinnigen Tag. Schweigend verließ sie das Haus.
Einige Straßen weit folgte ihr der Fremde. Bei einer Kreuzung fiel ihr Blick auf seine Schuhe. Oder besser gesagt auf seine Füsse, denn er trug keine Schuhe. Resigniert starrte Melena den Fremden an. Er trug das selbe Lächeln wie der Mann, der ihr heute Morgen geholfen hatte. Nur war es ein anderes Gesicht. "Sagen sie mir einfach ob ich Wahnsinnig werde und dass sie das Produkt meiner Phantasie sind." Der Fremde lächelte, sagte keinen Ton, schüttelte aber den Kopf. "Sind sie ein Geist", bohrte sie weiter. Der Fremde zuckte mit den Achseln, hob und senkte die Hand. Melena schnaufte. Sie merkte, dass sie wohl keine Antworten bekommen würde. Aber eines spürte sie wieder. Diese seltsame Vertrautheit. Sie konnte ihm vertrauen, auch wenn sie niemals wissen sollte, was eigendlich los war. Als sie zu diesem Gedanken gekommen war, schnaufte sie nochmal. Dann ging der Fremde. "Haben sie das mit meinem Chef geregelt?", brüllte sie ihm noch hinterher. Der Fremde strahlte über beide Backen und nickte heftig. Dann war die Strasse plötzlich leer.
Melena schnaufte erstmal den ganzen Frust weg und fuhr nach Hause.
Sie fuhr das erstemal seit langem wieder mit Tom Eislaufen.
Und die ganze verdammte Welt war mal für fünf Minuten in Ordnung.
Anmerkung von max.sternbauer:
Das ist die Geschichte Melena. Ich hoffe sie gefällt euch