Captain Geringfügig
Text zum Thema Arbeit und Beruf
von max.sternbauer
Captain Geringfügig
Vorrede.
Die folgenden Geschichten sollten nicht wie jene von David Sedaris klingen. Aber der Wahrheit bitterer Kern ist, es klingt nicht nur vom Ton her so. Die Geschichten hätten auch von ihm so geschrieben worden sein können.
Nun stellt sich bei dem Leser (dem das hier nicht komplett am Arsch vorbeigeht, was sich jeder Schreibende erhofft) die berechtigte Frage, wer ist David Sedaris? Ein US-Amerikanischer Autor, humoristische Short Storys sind seine Paradedisziplin. Die Ingredienzien seines literarischen Schaffens sollen bitte durch Selbststudium angeeignet werden. Nur so weit sei auf sein Werk eingegangen, dass er meistens von seiner eigenen kleinen Welt berichtet. Ironisch schreibt er über sein beknacktes Leben. Gegen den Ton konnte ich nichts machen und es war auch nicht meine Absicht, ein Vorbild zu zerschreddern und aus den Spänen meine Skulptur zu formen. Aber in der Kunst hat meistens schon jemand seine Spuren vor einem hinterlassen. Und außerdem ist David Sedaris nicht mein Vorbild. Zur Sicherheit wollte ich das gesagt haben.
Mein Leben ist genauso spannend, wie man sich den Film Psycho zum zwölften Mal an einem Wochenende ansieht. Noch dazu in einer vollkommen fremden Sprache. Zudem ertragen sie die Neuversion aus den Neunzigern. Nicht das Hitchcock-Original. Genauso spannend stelle ich mir mein Leben vor. Und es ist auch gut so. Weil es keinem was angeht und ich gerne meine Ruhe habe. Ja, ich bin schon mit Achtzig auf die Welt gekommen und habe auch die Hobbys eines solchen. Falls mich mal jemand zum Riesen-Kalmar-Angeln oder zu einer dreitägigen Drogenorgie mit sämtlichen gegenwärtigen Playmates des Jahres einlädt, wird von mir nichts mehr hören. Das sind die einzigen biografischen Eckdaten, wenn man sie so nennen kann, die vorkommen werden.
Das Erlebte wird einer Reportage dienen, die keine ist. Eine Short Story ist es auch nicht, denn das
Meiste ist nicht Werk der Fiktion. Zumindest habe ich die Geschichten so in meinem Gehirn abgespeichert. Also bitte die natürliche Fehlerspanne eines menschlichen Gehirnes zu entschuldigen. Das Fiktionale dient auch als Selbstschutz und der in diesen Geschichten vorkommenden Akteure. Bei vielen Firmen habe ich eine Verschwiegenheitsklausel unterschreiben müssen. In wie weit das juristisch gefährlich ist, die folgenden Sachen auszuplaudern, ist mir mal egal. Ein Märchen kann man nicht verklagen. Ein weiterer Vorteil von Fiktion ist die Freiheit, die man beim Erfinden hat. Gewisse Dinge habe ich weggelassen oder satirisch überhöht. Weil, ganz ehrlich, knallharte Reportagen über die Arbeitswelt gibt es schon und mein Name reimt sich nicht auf Günther Wallraff.
Inhaltlich drehen sie sich um meine Erlebnisse auf der Nebenjobsuche als Student. Meine Suche dauerte Jahre und war voller skurrilem Scheiß geprägt. Eine unabhängige Kommission kann gerne mit einer Zeitmaschine bauen und mit unparteiischen Algorithmen ein Erklärungsmodell errechnen. Mir dient es aus einem Bündel schlechter Erfahrungen, das Beste zu machen
Nun zum letzten Rätsel. Woher stammt der Name? Ich hatte einmal meiner AMS-Betreuerin über die Schulter gesehen, als sie meine Daten auf ihrem Rechner prüfte. Zum ersten Mal sah ich den Pfad meiner beruflichen Bauchschmerzen fein chronologisch aufgereiht. Es waren sogar Stellen auf dem Bildschirm erschienen, die auf meiner Festplatte schon verschwunden waren. Ein langer Weg war es gewesen. Und mir ist klar geworden, ich bin Captain Geringfügig!
Und mein trauriger Weg war noch lange nicht zu Ende.
Heil Satan. oder Mein Einsatz in der Altpapierverteilerbrigade.
Über meine Tätigkeit als Flyerverteiler.
Wir alle sind käuflich. Variabel sind Lebenslage, Höhe der Summe, moralische Folgen und noch ein paar Dinge, die mir jetzt nicht einfallen. Ich habe nie ein Flugblatt verteilt, das die Einführung der Todesstrafe in Österreich fordert. Wäre aber in der Rückschau witziger gewesen. Hass ist ein unterschätztes Gefühl, nämlich was Gruppendynamik angeht. Hass kann Solidarität entstehen lassen. Gut, wenn es in das politische Ufer hinüberschwappt, hängt mal jemand von einem Laternenpfahl. Aber in Maßen genossen kann es das Überleben sichern. Es war einfach ein gutes Gefühl, das andere den Job genauso hassten wie ich. Gegen Bezahlung verteilte ich Gratismagazine. Auf mehrspurigen Straßen, an Fahrern von Autos, die an den Rotphasen der Ampeln zu halten hatten. Im Grunde ist damit auch schon die Tätigkeit beschrieben. Eine Agentur bekam Aufträge von Verlagshäusern, ihre Broschüren und Magazine unter die Leute zu bringen. Was unser Job war. Ich hatte an einem Dezember, kurz vor Weihnachten, damit angefangen. Das mag jetzt wie im Drogenrausch klingen, aber lieber gehe ich im Winter auf die Straße, als im Sommer. Das Joggen zwischen Sportwagen und Combis wärmt dich wenigstens. Im Winter gefriert dir der Rotz auf den Wangen, die du wegen der Kälte sowieso nicht mehr spürst. Im Hochsommer, wenn selbst die Schatten schmelzen, ist mir mit der Methode noch nie warm geworden. Der erste Tag begann gleich mit einem rassistischen Kommentar meines Chefs. In den eisigen Stürmen hatte eine junge Frau mit deutlich afrikanischen Wurzeln das Handtuch geworfen. Diese Handlung war von meinem Blockwart verbal mit der Weisheit gewürzt worden: „Schwarze sind halt für schwere Arbeit nicht gemacht worden.“ Genau, es war ja historische Tatsache, dass die auf den Bauwollfeldern Louisianas arbeitenden Schwarzafrikaner die meiste Zeit in den betriebsinternen Freizeiteinrichtungen eisteeschlürfend minigegolft hatten. Eine Kollegin aus Kambodscha war auf der Straße gefragt worden, wie viel denn eine Massage koste. Wütend war dann ein Exemplar unseres Magazins auf seinen Beifahrersitz gefallen. Der Fahrer war daraufhin einmal um den Block gefahren und fragte dann eine andere Kollegin, ob er denn das Magazin wieder zurückgeben könne. Rassismus oder die Begegnung mit dem Bazillus in Form eines Arschlochs ist eine der netten Tatsachen, die man ertragen muss, wenn man arbeiten geht. Meine Präferenzen gehen mehr in die Richtung komplett sinnfreier Aussagen, die an mich gerichtet werden. Anweisungen des Chefs, Tipps von Veteranen, die so rätselhaft sind wie von drogenverhangenen Orakeln. Oder schlicht einfach dämlich sind. Ein Beispiel: „Verteilt die Magazine mit einem ordentlichen Schmäh!“
Wie soll ich bei brummenden Motoren, wenn der Wind pfeift, einen Witz erzählen? Verbal charmant sein geht ganz schlecht. Das Lächeln erstarrt im Winter und im Sommer verschwimmen die Konturen. Man hatte nur ein mikroskopisches Zeitfenster und die Leute reagierten instinktiv, wenn man freundlich aussah. Das war es.
Gute Tage waren es, wenn wir alle Magazine loswurden. Schlechte, wenn dieser blöden Stapel nicht kleiner werden wollte. Die braunen Pakete mit den Magazinen verwandelten sich dann in Anker aus Blei, die uns nie im Leben wieder loslassen wollten. Die Diensthandys stimmten schon mal die brüllenden Töne der Chefs aus dem Büro an, wenn sie schrillten. Garniert wurde sie mit hilfreichen Vorschlägen. Ich habe die wichtigsten hier aufgelistet: Schneller verteilen! Weniger ratschen! Das Magazin, das Produkt, dem Kunden richtig präsentieren!
Wir hätten Gutscheine für Bordelle verteilen sollen. Das wäre sinnvoller gewesen. Bei uns tauchte dann manchmal ein Kollege auf, ein Veteran unter den Werbemüllrotationsspezialisten. Wir hatten einen fixen Standort an einer großen Straße. Dieser Veteran schlug immer vor, sich bei einer bestimmten Ausfahrt hinzupflanzen, die für uns eine sinnlos anzuzapfende Quelle war. Die Ampelphasen waren viel zu kurz. Aber Einsprüche waren sinnlos, diese Ausfahrt war eine Goldmine. Das Ergebnis: Man sah eine einsame Gestalt auf der anderen Straßenseite sehen. Ein Stapel Magazine unter dem Arm, die Autos brausten vorbei und der Blick war auf den Horizont gerichtet. Was ein wirklich existenzielles Bild gewesen war.
Wenn es im Sommer dann Abend wurde, nachdem wir uns untertags von der Konsistenz her dem schmelzenden Asphalt angenähert hatten, war oft eine Spannung in der Luft. Kraftlos lagen wir herum, manchmal aufgerüttelt von Anfällen manischen Wahnsinns, dass wir den noch zu verteilenden Berg an Magazinen doch loswerden würden. Auch wenn wir wussten, dass die Zeit nicht reichte und der Lauf der Uhr und dieser Berg an das drohende Unheil gemahnten. Es fühlte sich nach einer Mischung aus falschem Stolz und Dehydrierung an.
In einem Einkaufzentrum zu verteilen hat gegenüber der Straße einige Vorteile. Man ist drinnen und die Wolken können dich nicht anbrunsen. Was mir auch so eine wohlige Behaglichkeit gab, war die Gewissheit, dass weit und breit kein Auto in der Lage war mich zu überfahren. Zu Weihnachten sollte ich Proben eines Haarshampoos verteilen. Das Zeug mit der Ähnlichkeit von Buttermilch war in kleine Flaschen abgefüllt worden, die thematisch passend in der Form von Weihnachtsmännern geformt waren. Nur war der Bauch des Weihnachtsmanns sehr asymmetrisch. Längst über die Grenze einer gesunden und formschönen Adipositas geflossen. Die Figur sah aus, als hätte ein starker Tumor den Wanst aufgebläht.
In meiner Pflichtausübung variierte ich die Sätze, mit denen ich der Kundschaft des Einkaufszentrums die Proben überreichte. Ich machte einen Knicks, begrüßte die Leute höflichst in einer fremden Sprache. Sagte „Heil Satan“ und die Leute antworteten mir mit einem „ja Ihnen auch ein schönes Wochenende“! Am zweiten Tag nach meiner Mittagspause lernte ich die stellvertretende Geschäftsführerin des Einkaufszentrums kennen:
„Ja, also ich habe die Genehmigung, Ihre Genehmigung für die Werbeaktion geprüft und ich hatte recht.“
(Kopfgeschüttel, als hätte ich schon verstanden, als müsste ich ihre Gedanken lesen können).
„Sie dürfen hier im Eingangsbereich nicht verteilen. Die Genehmigung gilt für ein anderes Areal!“
„Aha, okay und welches?“
„Ich habe in den Unterlagen nachgesehen und was Sie hätten machen sollen. Die Genehmigung gilt für die Zufahrt der Tiefgarage.“
Was, Tiefgarage? Leider dachte ich das nicht nur, sondern intonierte diesen Begriff mit einer jaulenden Note, mit der komplizierte Wörter nachgenuschelt werden, deren Funktion man nicht kennt. Die Chefin war sogleich sehr hilfsbereit.
„Eine Tiefgarage ist ein Gebäude wo die Kunden ihre Autos parken.“
„Nein, was, jaja, ich weiß was eine Tiefgarage ist.“
Nachdem ich die Geschäftsführerin davon überzeugt hatte, nicht ganz belämmert zu sein, ging ich nun daran, meinen Auftrag auszuführen. Die Autos kamen angebraust mit der Gewissheit, dass nichts so blöd war, ihre Einflugschneise zu blockieren. Die Zufahrt war mit einer meterhohen Mauer vor allzu privaten Blicken geschützt. Als es Abend wurde, drehten die Fahrer ihr Scheinwerferlicht an. Welchen Schatten sahen sie, urplötzlich vor ihnen auftauchend? Mich, mit einem Korb Haarshampoos vor dem Schranken stehend. Viele dachten, von mir ihr Ticket für die Garage zu bekommen, weswegen sie einen Meter weiter vorne bremsten. So erreichten sie aber den Automaten nicht mehr. Viele streckten fluchend ihre Arme nach dem kleinen roten Knopf aus. Weswegen ich oft die Transaktion erledigen musste. Mir konnte auch nichts passieren, weil ich ja auf dem Betonsockel stand. Meine Laune rutschte in ein dunkles Versuchslabor für Foltermethoden, weil ich meinen warmen Platz vor einem Erotikgeschäft für eine zugige Auffahrt eingetauscht hatte.
Mein größtes Abenteuer erlebte ich, als Niki Lauda meinen Weg, oder besser, meine Straße kreuzte. Er hatte mir keine Ratschläge für meine Zukunft mitgegeben, oder ein Gratisticket angeboten. Er hatte mich einfach nicht überfahren, wofür ich ihm auch heute noch dankbar bin.
Das sozialste Callcenter der Welt.
Ein Blick in das Arbeitsumfeld der Telefonagenturen.
Telefonumfragen haben mir schon immer Spaß gemacht. Mein Vater hatte das schon früher anders gesehen und mich schneller vom Hörer getrennt, als der Headsetbehelmte mir seine erste Frage in das Ohr hatte pusten können. Ich wurde einmal nach meiner Lieblingszigarrenmarke gefragt, obwohl ich gar keine Zigarren rauche. Man kann in ganz kleinen Dosen bei solchen Umfragen schummeln, was einem den Reiz ermöglicht eine andere Person zu sein. Auch nur für ein paar Sekunden. Plötzlich war ich Liebhaber von Zigarrilos. Und verheiratet oder die blöde Schlampe war mit meinem besten Freund nach Südamerika abgehauen. Ich befürwortete Parteien, mit denen ich nicht einmal mit einer Rohrzange in Berührung kommen wollte. Dann war die Zeit gekommen, die Seiten zu wechseln. Am anderen Ende der Leitung verlor das ganze seine Magie, seinen Zauberstaub. Weil ich hinter den Vorhang blickte. Es stimmt schon, man sollte nie das Ende eines Filmes sehen, auf den man schon das ganze Jahr gewartet hat und auch nicht einen Zauberer nach seinen Trick fragen.
Callcenter stehen in dem Ruf, das Remake eines sozialen Klischees zu sein. Dem des taxifahrenden Soziologen. Klischees haben aber oft einen wahren Kern. Witzigerweise arbeitete ich mit einem Soziologen zusammen. Dort, wo ich anfing, waren nur Studenten beschäftigt. Aber nur scheinbar. Denn sie führten ein Doppelleben. Tagsüber lebten sie unter uns normale Menschen, wir, die nichts ahnten. Nachts aber streiften sie umher, mit genormten Fragen, um den Geist des Wissens aus der Dunkelheit der Ahnungslosigkeit zu schöpfen. Um das Head-Set der Wahrheit, den Telefonhörer der Aufklärung zu erheben. Gearbeitet wurde zwar nur tagsüber, aber das zu erwähnen, gäbe kein so schönes metaphorisches Bild. Meine Kollegen waren alles ausgemachte Profis, die noch nach einer Zwölf-Stunden-Schicht lächelten. Die konnten sogar einem tobenden Gorilla seine intimsten Gefühle seinem Bürgermeister gegenüber entlocken. Genau das taten wir auch. Wir bimmelten uns, navigiert von örtlichen Telefonbüchern, durch die Gemeinden. Die Auftraggeber kamen aus der Politik oder waren Meinungsforscher. Wobei die Auftraggeber meistens nicht einmal der Leiterin des Büros bekannt waren. Wir sammelten wie die fleißigen Eichhörnchen Informationen für ein großes Phantom, was die ganze Szenerie kafkaesk wirken ließ. Für wen machten wir das, wer brauchte das? Ich fühlte mich in eine Science-Fiction-Story versetzt, eine Dystrophie, wo kein Mensch sich bewusst war, wer das System steuert.
Die Fragen, die wir zu stellen hatten, sahen in etwas so aus:
Sind sie mit ihrem amtierenden Bürgermeister sehr zufrieden
total zufrieden
mega zufrieden
brauche-eine-Zigarette-zufrieden.
Oder:
Beschreiben Sie anhand einer Skala, wie zufrieden Sie mit Ihrem Bürgermeister sind. Wobei 1 sehr zufrieden und 10 überhaupt nicht zufrieden bedeutet.
Der Ort der Handlung war das sozialste Callcenter der Welt. Was es auszeichnete, war neben der besseren Bezahlung, dass die Kunden eben nicht aus der Privatwirtschaft kamen. Die Rauchpausen wurden einem nicht von dem Gehalt abgezogen und es gab auch nicht dieses absurde elektronische Überwachungssystem, was es in anderen Agenturen gab. Dort mussten sich die Mitarbeiter mit einer Chipkarte für die Toilette abmelden. Das Thema „bezahlte Rauchpause“ wurde interessanter Weise oft erwähnt. In den Pausen, während des Bewerbungsgespräches, sogar nach dem Tuten der Sirenen bekamen wir zu hören, seid froh, die Rauchpausen werden bezahlt. Ich wollte schon vorschlagen, das Motto auf Plakate zu drucken. Das Motiv würde ein Arbeiter sein, bewaffnet mit Fahne und Kopfhörer. Sein ausgestreckter Arm endete in einer glühenden Zigarette. Dein Recht auf Qualm wurde erkämpft!
Eine kleine Frau kommandierte von einem riesigen Ascheberg in ihrem Aschebecher aus ihr sehr begrenztes Reich. Ihre Vorliebe für Mentholzigaretten rührte nach ihrem Wunsch mit dem Rauchen aufzuhören. Wobei die Einheiten von Marlboro Schachtel für Schachtel reduziert worden waren. Dann waren Pflaster und Spray als Versager in die Chroniken eingegangen und als Mittelweg die Mentholzigaretten herausgekommen.
Die ersten Tage waren okay und dabei sollte es auch bleiben. Der Rausschmiss erfolgte schon nach Tag drei. An jenem schicksalhaften Tag hatte es eine Flaute von knapp einer Stunde gegeben. Niemand hatte meine Stimme hören wollen. Meine Chefin kam mit neuen Telefonnummernlisten, was an sich schon ein schlechtes Zeichen war. Was ich noch nicht wusste war, dass die Leitung zum Ascheberg heißlief. Der Chef meines Chefs hatte nämlich die, aus seiner Sicht berechtige, Frage geäußert, warum die Anzahl meiner Interviews so gering war. Sie war gar nicht „gering“, ich hatte an diesem Tag gar keines geführt. Auf dem Weg ins Büro tönte es mir schon entgegen. Sie sagte, ihr täte es wahnsinnig leid. Sie hätte mit der Zentrale geredet und meine Rolle als Neuling versucht darzustellen. Weil ich noch keine Erfahrung hatte und es sicher mal besser laufen würde. Ich hatte einfach einen schlechten Tag gehabt, hatte sie gesagt. Diese zwei Dinge trafen auch wirklich zu, ich wurde ja rausgeschmissen, wegen meiner mangelnden Erfahrung und weil ich nicht über die Zaubersprüche verfügte, Leute zum Abheben zu zwingen. Sie hatte wirklich alles versucht und außerdem könnte sie mich für die drei Tage, an denen ich gearbeitet hatte, nicht bezahlen, aber sie wünsche mir alles Gute… Stopp! Zurückspulen, bitte. Ja, sie habe meinen Arbeitsvertrag noch nicht weitergeleitet, deswegen sei ich ja noch nicht angemeldet. Der Vertrag lag vor ihr auf der Tastatur ihres Computers. Verarscht fühlte ich mich nicht. So höflich, wie es mir möglich war, sagte ich, dass es kein Problem sei und verabschiedete mich. Ein paar Blocks weiter, bimmelte mein Handy. Dran war meine Chefin. Sie hätte gute Nachrichten. Ihr Kampf für mich hatte bei ihrem Chef zu einem weiteren Probearbeitstag geführt. Weil ich ja heute so nervös war und so weiter. Diesen Tag könnten sie mir aber auch nicht bezahlen, weil ich ja nicht angemeldet bin. Aber sie könnte mir Gutscheine geben. Ja bitte, bezahlen sie mich in Naturalien! Wer braucht denn schon einen Kollektivvertrag, eine Sozialversicherung? Zwei Maß Honig und eine Mastgans wären da noch offen. Ich lehnte dankend ab und ging wieder meinen Pfad.
Das war auch so ein Klischee gewesen, was hier seine reale Darbietung abgeliefert hatte. Nämlich das Abziehbild über die moderne Arbeitswelt. Wo Individuen permanent überwacht werden zwecks ihrer Leistung, zu Produktionseinheiten werden. In einem Büro saß ein Chef meiner Chefin und checkte elektronische Listen über unsere geführten Telefonate.
Der Herr der Schüsseln.
Das Schicksal eines Sanitärreinigers
Wenn man einen Job beschreibt wie diesen, wo es um das Reinigen von Toiletten geht, ist es seltsam folgende Flüche zu verwenden:
„Der Job ist scheiße.“
„Mein Chef ist ein Arschloch.“
„Die Arbeitsatmosphäre stinkt mir.“
Irgendwann wird es billiger sein, die Toiletten von einem blinkenden piepsenden Roboter warten zu lassen, als einem Humanoiden. Und, glauben Sie mir, kein Barde wird die romantisch-verklärte Seite dieser Arbeit besingen. Bei mir kommen keine nostalgischen Gefühle auf, wenn ich an die Umsorgung der Keramikschüsseln denke, an den grauen Mantel mit dem Firmenlogo und den chemischen Geruch. Ich glaube nicht, dass Bruce Springsteen jemals ein Lied darüber eingefallen wäre. Der Job war nämlich scheiße. Aber reisen wir in die Vergangenheit des Dramas oder Abenteuers.
Um eines vorweg zu nehmen, muss ich sagen, dass die Tätigkeit an sich nicht so tragisch war. Es war unangenehm, keine Frage. Bitte kriechen Sie durch einen Abwasserkanal, räumen Tierkadaver weg oder verbringen den Nachmittag mit manisch-depressiven Drogenkranken. Das sind schwierige Jobs. Die Tätigkeit als Sanitärreiniger hatte mich deswegen nicht gestört, weil die stupiden Abläufe nicht meinen Kopf angestrengt hatten. Einer dieser Geschichten werden in einem Callcenter spielen. Dieser Job hat mich mehr genervt. Wenn alles geputzt war, so wie am Morgen und das Tagesgeschäft (blödes Wortspiel) noch nicht heiß gelaufen war, saß ich in meiner befliesten Hölle mit dem Charme einer Leichenhalle und las ein Buch. Oder konnte ganz entspannt meinen Unikram erledigen. Ich hätte auch Aquarelle malen können.
Meine Einschulung sollte bei einer Toilette in einer U-Bahnstation stattfinden. Mein Sensei war eine Gestalt namens Slobodan. Einem Serben und ehemaligen Lektor von Agatha-Christie-Romanen. Von Russisch in das Serbische und wieder zurück. Nur verstand er kein Deutsch. Was ich jetzt nicht aus der Sicht eines Rechtsradikalen meine, falls solche Assoziationen aufkommen sollten. Zudem konnte er kein Englisch. Meine Kenntnisse der Sprache Shakespeares und Churchills waren auch enden wollend. Als problematisch stellte sich dieser Umstand heraus, weil er meine Fragen nicht beantworten konnte. Interessanterweise konnte er ohne Probleme folgende Sätze verstehen: „Hier gibt es wohl nicht viel zu tun.“ und „Wann ist Feierabend?“. Die Lektionen, die ich von Slobodan lernte, waren das Kleingeld von den Leuten zu kassieren, alle fünf Minuten auf das Handy zu glotzen und sich gemütlich zurück zu lehnen, während das schon erwähnte Kleingeld durch die Tür reingerollt kam. Dass dieser Job sich natürlich nicht darauf beschränkte, sollte ich bald lernen. Aber nicht von Slobodan. Das Nichtstun gipfelte damit, dass ich im Büro anrief, um mich nach der genauen Dauer dieser „Einschulung“ zu erkundigen. Im Büro war mein Gesprächspartner die pure Ahnungslosigkeit. „Äh, wie lange die Einschulung dauert? Puh, da fragen Sie mich aber was. Aber wenn Sie glauben oder fühlen, schon genug zu können, können Sie nach Hause fahren. Wenn Sie wollen.“ War das eine Montessori-Schule? Na Meister, wie sieht denn der Plan aus? Da sind ein paar Kloschüsseln. Was also damit machen, Vietnamesisches Wasserpuppentheater? Fast wäre ich auf Slobodans doch reduzierte Beschreibung des Beschäftigungsprofiles hereingefallen. Da war aber noch die Chefin Andrea. Auch eine Serbin, mit Haaren auf den Zähnen. Slobodan und ich waren ihre Fußsoldaten, deren Beziehung im Schützengraben sich schnell verfinsterte. Der Konflikt konnte beidseitig auf einen ähnlichen Vorwurf gebracht werden. Slobodan sagte, ich würde nicht putzen. Ich sagte, er würde nicht putzen. Wenn ich meine Schicht antrat, war nicht selten das schöne Schauspiel zu beobachten, wenn Slobodan mir entgegen gestürmt kam. Dazu fuchtelte er mit seinen Armen wie ein Kolibri. Ein Arm beschwert mit einem leeren Kanister Putzmittel: „Du verbrauchst das ganze Putzmittel. Nichts da, alles weg!“
Fairnesshalber muss ich sagen, dass ich in einer Woche das Putzmittel von einem Monat verbraucht hatte. Meine Strategie war es sowieso gewesen, den ganzen Sanitärbereich mit Napalm zu bombardieren, zur Desinfektion. Andrea gab mir auch den Hinweis, dass ein zu hoher Putzmittelverbrauch ein Kündigungsgrund war. Genau wie zu viele Müllsäcke zu verwenden. Die genormte Einheit waren zwei Müllsäcke die Woche. Slobodans Vorstellungen, wie das Pissoir gereinigt werden sollte, bestand in dem rituellen Füllens eines McCafe-Pappbechers mit verdünntem Reinigungsmittel. Das träufelte er sachte in die Metallschüsseln. „Damit es nicht stinkt.“ Ich hatte nach einem Metallreiniger gefragt und wie oft die Dinger zu putzen seien. Diese Anfragen waren mal wieder mit einem Grinsen und „Ich weiß nicht“ abgeschmettert worden. Diese Pappbecher waren auch unsere Seifenspender. Wozu diese mysteriösen Metallzylinder mit Plastikdüsen gut waren, die neben jeden Waschbecken hingen? Aber Slobodan blieb seines Unterrichtstils treu. „Machen so, machen so.“ Es waren Seifenspender. Ich verbrauchte zu viel Putzmittel und stellte dämliche Fragen. Andrea taute mit der Zeit auf, wir kamen mit unserer gegenseitigen Art besser klar. Ich mit ihrer schroffen Natur. Sie mit meinem chaotischen Wesen.
Flaneure in der Rue de la Merde gab es viele. Meine liebste Kategorie waren russische Touristengruppen, die oftmals die Toilettenanlage überfluteten. Wenn sie auch noch kein Englisch sprachen, musste man in einem interkulturellen Ausdruckstanz erklären, wo der Eingang für die Herren war, warum ich überhaupt in der Frauentoilette herumstand (das sorgte wirklich für viele Schocks, was hoffentlich nicht an meinem Aussehen lag) und zum Abschluss die Höhe des Eintritts. Fragen kamen immer, immer auf Russisch zurück. Riesige Monologe, die ich einfach nicht verstand. Mein kläglich gejaultes „Do you speak English?“ verkam zu einem nutzlosen Gebet. In der Frauentoilette gab es einen Schranken, den ich mit einem Schlüssel aufsperren musste. Für die Herren der Schöpfung war das Urinieren gratis, ihre Frauen mussten zahlen. Was die gesellschaftliche Diskriminierung anhand der Verrichtung der Notdurft zeigt. Dieser Schranken zählte elektronisch wie viele Besucher es unter dem Tag verteilt gegeben hatte. Die Ziffern, die auf einer Anzeige abzulesen war, musste dann mit dem Geld verrechnet werden. Das lockte den Kontrolleur an. Wie ein Gottesurteil war er mir in der Toilette erschienen. Der Mann war fast einen Kopf größer als ich. Wobei sein Kopf so schief auf seinem Kopf saß, wie die Augen in ihren Höhlen. Als Maske trug er ein diabolisches Lächeln, das eine Gesichtshälfte lähmte. Ein Mundwinkel war permanent nach oben verkrampft. Die Hauptaufgabe dieses Kontrolleurs war die Analyse der Einnahmetabellen, die wir jeden Tag ausfüllen mussten. Auch den Zustand der Hygiene, wobei ich da immer noch lachen muss. Von diesem Kontrolleur bekam ich tiefgehende Weisheiten, was diesen Job anging. Er ging herum und zeigte auf die Stellen, wo nicht geputzt worden war. Eigentlich zeigte er überall hin, nur nicht auf die isolierten Inseln, wo tatsächlich geputzt worden war. Unsere improvisierten Seifenspender wurden mit einem „Wollt ihr mich verarschen?“ quittiert. Wie in einem Märchenschloss zeigte er mir auch einen geheimen Raum hinter der Behindertentoilette. Ich hatte mich schon gefragt, wozu der gelbe Schlüssel am Bund gut war. In dem Raum war alles, wonach ich in den ersten Wochen gefragt hatte. Der Metallreiniger, Schläuche und sogar eine Saugglocke. Ich war im Himmel! Endlich war ich ausgerüstet. Der Kontrolleur fragte mich, ob ich denn diesen Raum noch nie gesehen hatte. Er hielt dabei einen Wisch-Mob in der Hand und ich konnte sehen, wie seine Fassung durch seinen Körper und aus seinen Schuhen floss. „Wer hat euch eingeschult?“
Äh……………..
Wäre das ein Film, würde ich, um das Vergehen der Zeit darzustellen, die Sequenz einfügen, wo ein Baum im Wind steht. Gedreht würde in Schwarz-Weiß. Dazu würde ich das Bild beschleunigen, um den Wechsel der Schatten zu intensivieren. Wäre das ein Theaterstück, müsste auch ein letzter Akt gespielt werden. Was auf einer Bühne gezeigt werden würde, wäre mein letzter Tag in dem Fliesenloch. Nicht nur des erzählerischen Handwerkes wegen sage ich das, aber es war wirklich ein normaler Tag. Die Sonne ging auf, ich fuhr zur Arbeit, legte meine Tasche an gewohnter Stelle ab, kontrollierte alles, nahm meine Conan-Edition, die ich lesen wollte, um mein Gehirn in die dumpfe stupide Stimmung zu bringen, und begrüßte einen wildfremden Mann. Oha, hallo, der nette Herr war ein anderer Kollege von mir. Genau drei Sekunden später kam Slobodan herein. Das erste, was ich dachte, war die Frage, wer die Dienstpläne durcheinander gebracht hatte. Als dann der schielende Riese den Gang hinter Slobodan ausfüllte, bekam das ganze so eine ernste Note. Jemand würde fliegen. Es war aber nicht ich, sondern Slobodan. Der Grund war aber nicht die fehlende Hygiene, sondern etwas anderes. Er hatte sich über seine Kollegen beschwert. Also über mich. Dutzende Male hatte er jeden Tag in der Zentrale angerufen. Niemand hatte mit mir darüber geredet. Weder Slobodan noch die Firma. Der Riese brüllte und stauchte Slobodan vor der Toilette zusammen. Wortfetzen wehten zu mir und meinen neuen Kollegen. Es war weniger die Lautstärke, als die Intensität. Ich hatte das Gefühl als nächstes an der Reihe zu sein. „So oft anrufen…“ und „redet man nicht über Kollegen…“ waren die einzigen Dinge, die ich so zusammenkleben konnte. Der Granatenhagel dauerte fast eine halbe Stunde. Potenzielle Kunden betraten die Toilette, wobei sie den Kopf ständig auf das Geschehen gerichtet hielten. Slobodan und ich waren niemals Freunde gewesen, aber ich fand es übel, wie mit ihm umgegangen wurde. Wie ein knirschender Leuchtturm, hatte dann der Riese seine Aufmerksamkeit dann doch noch auf mich gerichtet. Was ihn an mir interessierte, waren die Zahlen von der Tabelle. „Ich unterstelle Ihnen mal, dass Sie in die eigene Tasche wirtschaften. Natürlich kann ich Ihnen das nicht beweisen.“ Als Indiz zeigte er mir die Tabelle der letzten Wochen. Um das besser zu verstehen, muss ich noch erklären wie das funktioniert hat. Es wurden die elektronischen Zahlen von dem Schranken und der Herrentoilette eingetragen. Es gab aber auch einen Zähler bei der Behindertentoilette. Diese Zahlen mussten auch eingetragen werden. Obwohl die Behindertentoilette gratis war. Bei meinen Schichten war die Zahl der Benutzer viel zu hoch und der Kontrolleur dachte, ich würde Leute in diese Toilette lassen und dann für mich abkassieren. Was das Dümmste ist, was ich je gehört habe. Das habe ich mir selber zusammen gereimt, weil es die einzige Möglichkeit in meinen Augen darstellt, auf diese Weise Geld zu verdienen. Aber wer ist so blöd wegen den paar Euro seinen Job zu riskieren? Anscheinend dürfte es in der Vergangenheit wirklich Genies gegeben haben, die das getan haben. Aber das merkt man doch, wenn die Zahlen angesehen werden?
Dann richtete er das Licht doch auf das Thema putzen. Ich sollte die ganze Station schrubben. Auch die Innenseite der Abflussrohre und die Eingeweide des Kondomautomaten.
Hier war meine Abzweigung. Ich musste noch zu Andrea und ihr meinen Mantel geben. Wir redeten noch eine Weile. An dem Tag war eine Menge von ihrer Schale abgebrökelt. Sie fand es schade, weil schon vorher sehr viele Kollegen sehr schnell gekündigt hatten. Dieser Job ist auf der unteren Kommandoebene vor allem ein Migrantenjob. Der Kontrolleur war ein Einheimischer, genau wie der Lieferant des Toilettenpapiers. Auch in den Büros hatte ich kaum Menschen aus anderen Herren Länder getroffen. Bevor ich ging, sagte mir Andrea, dass ich gehen könnte. Sie aber nicht. Wegen einer langen Krebserkrankung hatte sie einfach nicht mehr die Kraft sich eine andere Beschäftigung zu suchen. Irgendwann ist der Weg vorbei. Das wollen wir zwar nicht wahrhaben. Weil wir denken, dass die Abzweigungen endlos vorhanden sind und das Schlimme nur in den Nachrichten passiert. Der junge kettenrauchende Schichtarbeiter, der sich durch die Nacht boxt, wegen der höheren Bezahlung, wird vielleicht mal einen Preis zahlen müssen. Keiner will verlieren oder wahrhaben, dass er verloren hatte. Irgendwann sagt etwas stopp. Und wir müssen halten, ob wir wollen oder nicht.
Zum Abschluss möchte ich mich noch selber loben. Es ist mir gelungen einen Artikel über die Arbeit als Sanitärreiniger zu schreiben, ohne eine einzige Anekdote über Scheiße zu erzählen. Weder Geruch, noch Konsistenz, noch Form, oder in welcher Art und Weise ich damit in Berührung gekommen bin.
Vorrede.
Die folgenden Geschichten sollten nicht wie jene von David Sedaris klingen. Aber der Wahrheit bitterer Kern ist, es klingt nicht nur vom Ton her so. Die Geschichten hätten auch von ihm so geschrieben worden sein können.
Nun stellt sich bei dem Leser (dem das hier nicht komplett am Arsch vorbeigeht, was sich jeder Schreibende erhofft) die berechtigte Frage, wer ist David Sedaris? Ein US-Amerikanischer Autor, humoristische Short Storys sind seine Paradedisziplin. Die Ingredienzien seines literarischen Schaffens sollen bitte durch Selbststudium angeeignet werden. Nur so weit sei auf sein Werk eingegangen, dass er meistens von seiner eigenen kleinen Welt berichtet. Ironisch schreibt er über sein beknacktes Leben. Gegen den Ton konnte ich nichts machen und es war auch nicht meine Absicht, ein Vorbild zu zerschreddern und aus den Spänen meine Skulptur zu formen. Aber in der Kunst hat meistens schon jemand seine Spuren vor einem hinterlassen. Und außerdem ist David Sedaris nicht mein Vorbild. Zur Sicherheit wollte ich das gesagt haben.
Mein Leben ist genauso spannend, wie man sich den Film Psycho zum zwölften Mal an einem Wochenende ansieht. Noch dazu in einer vollkommen fremden Sprache. Zudem ertragen sie die Neuversion aus den Neunzigern. Nicht das Hitchcock-Original. Genauso spannend stelle ich mir mein Leben vor. Und es ist auch gut so. Weil es keinem was angeht und ich gerne meine Ruhe habe. Ja, ich bin schon mit Achtzig auf die Welt gekommen und habe auch die Hobbys eines solchen. Falls mich mal jemand zum Riesen-Kalmar-Angeln oder zu einer dreitägigen Drogenorgie mit sämtlichen gegenwärtigen Playmates des Jahres einlädt, wird von mir nichts mehr hören. Das sind die einzigen biografischen Eckdaten, wenn man sie so nennen kann, die vorkommen werden.
Das Erlebte wird einer Reportage dienen, die keine ist. Eine Short Story ist es auch nicht, denn das
Meiste ist nicht Werk der Fiktion. Zumindest habe ich die Geschichten so in meinem Gehirn abgespeichert. Also bitte die natürliche Fehlerspanne eines menschlichen Gehirnes zu entschuldigen. Das Fiktionale dient auch als Selbstschutz und der in diesen Geschichten vorkommenden Akteure. Bei vielen Firmen habe ich eine Verschwiegenheitsklausel unterschreiben müssen. In wie weit das juristisch gefährlich ist, die folgenden Sachen auszuplaudern, ist mir mal egal. Ein Märchen kann man nicht verklagen. Ein weiterer Vorteil von Fiktion ist die Freiheit, die man beim Erfinden hat. Gewisse Dinge habe ich weggelassen oder satirisch überhöht. Weil, ganz ehrlich, knallharte Reportagen über die Arbeitswelt gibt es schon und mein Name reimt sich nicht auf Günther Wallraff.
Inhaltlich drehen sie sich um meine Erlebnisse auf der Nebenjobsuche als Student. Meine Suche dauerte Jahre und war voller skurrilem Scheiß geprägt. Eine unabhängige Kommission kann gerne mit einer Zeitmaschine bauen und mit unparteiischen Algorithmen ein Erklärungsmodell errechnen. Mir dient es aus einem Bündel schlechter Erfahrungen, das Beste zu machen
Nun zum letzten Rätsel. Woher stammt der Name? Ich hatte einmal meiner AMS-Betreuerin über die Schulter gesehen, als sie meine Daten auf ihrem Rechner prüfte. Zum ersten Mal sah ich den Pfad meiner beruflichen Bauchschmerzen fein chronologisch aufgereiht. Es waren sogar Stellen auf dem Bildschirm erschienen, die auf meiner Festplatte schon verschwunden waren. Ein langer Weg war es gewesen. Und mir ist klar geworden, ich bin Captain Geringfügig!
Und mein trauriger Weg war noch lange nicht zu Ende.
Heil Satan. oder Mein Einsatz in der Altpapierverteilerbrigade.
Über meine Tätigkeit als Flyerverteiler.
Wir alle sind käuflich. Variabel sind Lebenslage, Höhe der Summe, moralische Folgen und noch ein paar Dinge, die mir jetzt nicht einfallen. Ich habe nie ein Flugblatt verteilt, das die Einführung der Todesstrafe in Österreich fordert. Wäre aber in der Rückschau witziger gewesen. Hass ist ein unterschätztes Gefühl, nämlich was Gruppendynamik angeht. Hass kann Solidarität entstehen lassen. Gut, wenn es in das politische Ufer hinüberschwappt, hängt mal jemand von einem Laternenpfahl. Aber in Maßen genossen kann es das Überleben sichern. Es war einfach ein gutes Gefühl, das andere den Job genauso hassten wie ich. Gegen Bezahlung verteilte ich Gratismagazine. Auf mehrspurigen Straßen, an Fahrern von Autos, die an den Rotphasen der Ampeln zu halten hatten. Im Grunde ist damit auch schon die Tätigkeit beschrieben. Eine Agentur bekam Aufträge von Verlagshäusern, ihre Broschüren und Magazine unter die Leute zu bringen. Was unser Job war. Ich hatte an einem Dezember, kurz vor Weihnachten, damit angefangen. Das mag jetzt wie im Drogenrausch klingen, aber lieber gehe ich im Winter auf die Straße, als im Sommer. Das Joggen zwischen Sportwagen und Combis wärmt dich wenigstens. Im Winter gefriert dir der Rotz auf den Wangen, die du wegen der Kälte sowieso nicht mehr spürst. Im Hochsommer, wenn selbst die Schatten schmelzen, ist mir mit der Methode noch nie warm geworden. Der erste Tag begann gleich mit einem rassistischen Kommentar meines Chefs. In den eisigen Stürmen hatte eine junge Frau mit deutlich afrikanischen Wurzeln das Handtuch geworfen. Diese Handlung war von meinem Blockwart verbal mit der Weisheit gewürzt worden: „Schwarze sind halt für schwere Arbeit nicht gemacht worden.“ Genau, es war ja historische Tatsache, dass die auf den Bauwollfeldern Louisianas arbeitenden Schwarzafrikaner die meiste Zeit in den betriebsinternen Freizeiteinrichtungen eisteeschlürfend minigegolft hatten. Eine Kollegin aus Kambodscha war auf der Straße gefragt worden, wie viel denn eine Massage koste. Wütend war dann ein Exemplar unseres Magazins auf seinen Beifahrersitz gefallen. Der Fahrer war daraufhin einmal um den Block gefahren und fragte dann eine andere Kollegin, ob er denn das Magazin wieder zurückgeben könne. Rassismus oder die Begegnung mit dem Bazillus in Form eines Arschlochs ist eine der netten Tatsachen, die man ertragen muss, wenn man arbeiten geht. Meine Präferenzen gehen mehr in die Richtung komplett sinnfreier Aussagen, die an mich gerichtet werden. Anweisungen des Chefs, Tipps von Veteranen, die so rätselhaft sind wie von drogenverhangenen Orakeln. Oder schlicht einfach dämlich sind. Ein Beispiel: „Verteilt die Magazine mit einem ordentlichen Schmäh!“
Wie soll ich bei brummenden Motoren, wenn der Wind pfeift, einen Witz erzählen? Verbal charmant sein geht ganz schlecht. Das Lächeln erstarrt im Winter und im Sommer verschwimmen die Konturen. Man hatte nur ein mikroskopisches Zeitfenster und die Leute reagierten instinktiv, wenn man freundlich aussah. Das war es.
Gute Tage waren es, wenn wir alle Magazine loswurden. Schlechte, wenn dieser blöden Stapel nicht kleiner werden wollte. Die braunen Pakete mit den Magazinen verwandelten sich dann in Anker aus Blei, die uns nie im Leben wieder loslassen wollten. Die Diensthandys stimmten schon mal die brüllenden Töne der Chefs aus dem Büro an, wenn sie schrillten. Garniert wurde sie mit hilfreichen Vorschlägen. Ich habe die wichtigsten hier aufgelistet: Schneller verteilen! Weniger ratschen! Das Magazin, das Produkt, dem Kunden richtig präsentieren!
Wir hätten Gutscheine für Bordelle verteilen sollen. Das wäre sinnvoller gewesen. Bei uns tauchte dann manchmal ein Kollege auf, ein Veteran unter den Werbemüllrotationsspezialisten. Wir hatten einen fixen Standort an einer großen Straße. Dieser Veteran schlug immer vor, sich bei einer bestimmten Ausfahrt hinzupflanzen, die für uns eine sinnlos anzuzapfende Quelle war. Die Ampelphasen waren viel zu kurz. Aber Einsprüche waren sinnlos, diese Ausfahrt war eine Goldmine. Das Ergebnis: Man sah eine einsame Gestalt auf der anderen Straßenseite sehen. Ein Stapel Magazine unter dem Arm, die Autos brausten vorbei und der Blick war auf den Horizont gerichtet. Was ein wirklich existenzielles Bild gewesen war.
Wenn es im Sommer dann Abend wurde, nachdem wir uns untertags von der Konsistenz her dem schmelzenden Asphalt angenähert hatten, war oft eine Spannung in der Luft. Kraftlos lagen wir herum, manchmal aufgerüttelt von Anfällen manischen Wahnsinns, dass wir den noch zu verteilenden Berg an Magazinen doch loswerden würden. Auch wenn wir wussten, dass die Zeit nicht reichte und der Lauf der Uhr und dieser Berg an das drohende Unheil gemahnten. Es fühlte sich nach einer Mischung aus falschem Stolz und Dehydrierung an.
In einem Einkaufzentrum zu verteilen hat gegenüber der Straße einige Vorteile. Man ist drinnen und die Wolken können dich nicht anbrunsen. Was mir auch so eine wohlige Behaglichkeit gab, war die Gewissheit, dass weit und breit kein Auto in der Lage war mich zu überfahren. Zu Weihnachten sollte ich Proben eines Haarshampoos verteilen. Das Zeug mit der Ähnlichkeit von Buttermilch war in kleine Flaschen abgefüllt worden, die thematisch passend in der Form von Weihnachtsmännern geformt waren. Nur war der Bauch des Weihnachtsmanns sehr asymmetrisch. Längst über die Grenze einer gesunden und formschönen Adipositas geflossen. Die Figur sah aus, als hätte ein starker Tumor den Wanst aufgebläht.
In meiner Pflichtausübung variierte ich die Sätze, mit denen ich der Kundschaft des Einkaufszentrums die Proben überreichte. Ich machte einen Knicks, begrüßte die Leute höflichst in einer fremden Sprache. Sagte „Heil Satan“ und die Leute antworteten mir mit einem „ja Ihnen auch ein schönes Wochenende“! Am zweiten Tag nach meiner Mittagspause lernte ich die stellvertretende Geschäftsführerin des Einkaufszentrums kennen:
„Ja, also ich habe die Genehmigung, Ihre Genehmigung für die Werbeaktion geprüft und ich hatte recht.“
(Kopfgeschüttel, als hätte ich schon verstanden, als müsste ich ihre Gedanken lesen können).
„Sie dürfen hier im Eingangsbereich nicht verteilen. Die Genehmigung gilt für ein anderes Areal!“
„Aha, okay und welches?“
„Ich habe in den Unterlagen nachgesehen und was Sie hätten machen sollen. Die Genehmigung gilt für die Zufahrt der Tiefgarage.“
Was, Tiefgarage? Leider dachte ich das nicht nur, sondern intonierte diesen Begriff mit einer jaulenden Note, mit der komplizierte Wörter nachgenuschelt werden, deren Funktion man nicht kennt. Die Chefin war sogleich sehr hilfsbereit.
„Eine Tiefgarage ist ein Gebäude wo die Kunden ihre Autos parken.“
„Nein, was, jaja, ich weiß was eine Tiefgarage ist.“
Nachdem ich die Geschäftsführerin davon überzeugt hatte, nicht ganz belämmert zu sein, ging ich nun daran, meinen Auftrag auszuführen. Die Autos kamen angebraust mit der Gewissheit, dass nichts so blöd war, ihre Einflugschneise zu blockieren. Die Zufahrt war mit einer meterhohen Mauer vor allzu privaten Blicken geschützt. Als es Abend wurde, drehten die Fahrer ihr Scheinwerferlicht an. Welchen Schatten sahen sie, urplötzlich vor ihnen auftauchend? Mich, mit einem Korb Haarshampoos vor dem Schranken stehend. Viele dachten, von mir ihr Ticket für die Garage zu bekommen, weswegen sie einen Meter weiter vorne bremsten. So erreichten sie aber den Automaten nicht mehr. Viele streckten fluchend ihre Arme nach dem kleinen roten Knopf aus. Weswegen ich oft die Transaktion erledigen musste. Mir konnte auch nichts passieren, weil ich ja auf dem Betonsockel stand. Meine Laune rutschte in ein dunkles Versuchslabor für Foltermethoden, weil ich meinen warmen Platz vor einem Erotikgeschäft für eine zugige Auffahrt eingetauscht hatte.
Mein größtes Abenteuer erlebte ich, als Niki Lauda meinen Weg, oder besser, meine Straße kreuzte. Er hatte mir keine Ratschläge für meine Zukunft mitgegeben, oder ein Gratisticket angeboten. Er hatte mich einfach nicht überfahren, wofür ich ihm auch heute noch dankbar bin.
Das sozialste Callcenter der Welt.
Ein Blick in das Arbeitsumfeld der Telefonagenturen.
Telefonumfragen haben mir schon immer Spaß gemacht. Mein Vater hatte das schon früher anders gesehen und mich schneller vom Hörer getrennt, als der Headsetbehelmte mir seine erste Frage in das Ohr hatte pusten können. Ich wurde einmal nach meiner Lieblingszigarrenmarke gefragt, obwohl ich gar keine Zigarren rauche. Man kann in ganz kleinen Dosen bei solchen Umfragen schummeln, was einem den Reiz ermöglicht eine andere Person zu sein. Auch nur für ein paar Sekunden. Plötzlich war ich Liebhaber von Zigarrilos. Und verheiratet oder die blöde Schlampe war mit meinem besten Freund nach Südamerika abgehauen. Ich befürwortete Parteien, mit denen ich nicht einmal mit einer Rohrzange in Berührung kommen wollte. Dann war die Zeit gekommen, die Seiten zu wechseln. Am anderen Ende der Leitung verlor das ganze seine Magie, seinen Zauberstaub. Weil ich hinter den Vorhang blickte. Es stimmt schon, man sollte nie das Ende eines Filmes sehen, auf den man schon das ganze Jahr gewartet hat und auch nicht einen Zauberer nach seinen Trick fragen.
Callcenter stehen in dem Ruf, das Remake eines sozialen Klischees zu sein. Dem des taxifahrenden Soziologen. Klischees haben aber oft einen wahren Kern. Witzigerweise arbeitete ich mit einem Soziologen zusammen. Dort, wo ich anfing, waren nur Studenten beschäftigt. Aber nur scheinbar. Denn sie führten ein Doppelleben. Tagsüber lebten sie unter uns normale Menschen, wir, die nichts ahnten. Nachts aber streiften sie umher, mit genormten Fragen, um den Geist des Wissens aus der Dunkelheit der Ahnungslosigkeit zu schöpfen. Um das Head-Set der Wahrheit, den Telefonhörer der Aufklärung zu erheben. Gearbeitet wurde zwar nur tagsüber, aber das zu erwähnen, gäbe kein so schönes metaphorisches Bild. Meine Kollegen waren alles ausgemachte Profis, die noch nach einer Zwölf-Stunden-Schicht lächelten. Die konnten sogar einem tobenden Gorilla seine intimsten Gefühle seinem Bürgermeister gegenüber entlocken. Genau das taten wir auch. Wir bimmelten uns, navigiert von örtlichen Telefonbüchern, durch die Gemeinden. Die Auftraggeber kamen aus der Politik oder waren Meinungsforscher. Wobei die Auftraggeber meistens nicht einmal der Leiterin des Büros bekannt waren. Wir sammelten wie die fleißigen Eichhörnchen Informationen für ein großes Phantom, was die ganze Szenerie kafkaesk wirken ließ. Für wen machten wir das, wer brauchte das? Ich fühlte mich in eine Science-Fiction-Story versetzt, eine Dystrophie, wo kein Mensch sich bewusst war, wer das System steuert.
Die Fragen, die wir zu stellen hatten, sahen in etwas so aus:
Sind sie mit ihrem amtierenden Bürgermeister sehr zufrieden
total zufrieden
mega zufrieden
brauche-eine-Zigarette-zufrieden.
Oder:
Beschreiben Sie anhand einer Skala, wie zufrieden Sie mit Ihrem Bürgermeister sind. Wobei 1 sehr zufrieden und 10 überhaupt nicht zufrieden bedeutet.
Der Ort der Handlung war das sozialste Callcenter der Welt. Was es auszeichnete, war neben der besseren Bezahlung, dass die Kunden eben nicht aus der Privatwirtschaft kamen. Die Rauchpausen wurden einem nicht von dem Gehalt abgezogen und es gab auch nicht dieses absurde elektronische Überwachungssystem, was es in anderen Agenturen gab. Dort mussten sich die Mitarbeiter mit einer Chipkarte für die Toilette abmelden. Das Thema „bezahlte Rauchpause“ wurde interessanter Weise oft erwähnt. In den Pausen, während des Bewerbungsgespräches, sogar nach dem Tuten der Sirenen bekamen wir zu hören, seid froh, die Rauchpausen werden bezahlt. Ich wollte schon vorschlagen, das Motto auf Plakate zu drucken. Das Motiv würde ein Arbeiter sein, bewaffnet mit Fahne und Kopfhörer. Sein ausgestreckter Arm endete in einer glühenden Zigarette. Dein Recht auf Qualm wurde erkämpft!
Eine kleine Frau kommandierte von einem riesigen Ascheberg in ihrem Aschebecher aus ihr sehr begrenztes Reich. Ihre Vorliebe für Mentholzigaretten rührte nach ihrem Wunsch mit dem Rauchen aufzuhören. Wobei die Einheiten von Marlboro Schachtel für Schachtel reduziert worden waren. Dann waren Pflaster und Spray als Versager in die Chroniken eingegangen und als Mittelweg die Mentholzigaretten herausgekommen.
Die ersten Tage waren okay und dabei sollte es auch bleiben. Der Rausschmiss erfolgte schon nach Tag drei. An jenem schicksalhaften Tag hatte es eine Flaute von knapp einer Stunde gegeben. Niemand hatte meine Stimme hören wollen. Meine Chefin kam mit neuen Telefonnummernlisten, was an sich schon ein schlechtes Zeichen war. Was ich noch nicht wusste war, dass die Leitung zum Ascheberg heißlief. Der Chef meines Chefs hatte nämlich die, aus seiner Sicht berechtige, Frage geäußert, warum die Anzahl meiner Interviews so gering war. Sie war gar nicht „gering“, ich hatte an diesem Tag gar keines geführt. Auf dem Weg ins Büro tönte es mir schon entgegen. Sie sagte, ihr täte es wahnsinnig leid. Sie hätte mit der Zentrale geredet und meine Rolle als Neuling versucht darzustellen. Weil ich noch keine Erfahrung hatte und es sicher mal besser laufen würde. Ich hatte einfach einen schlechten Tag gehabt, hatte sie gesagt. Diese zwei Dinge trafen auch wirklich zu, ich wurde ja rausgeschmissen, wegen meiner mangelnden Erfahrung und weil ich nicht über die Zaubersprüche verfügte, Leute zum Abheben zu zwingen. Sie hatte wirklich alles versucht und außerdem könnte sie mich für die drei Tage, an denen ich gearbeitet hatte, nicht bezahlen, aber sie wünsche mir alles Gute… Stopp! Zurückspulen, bitte. Ja, sie habe meinen Arbeitsvertrag noch nicht weitergeleitet, deswegen sei ich ja noch nicht angemeldet. Der Vertrag lag vor ihr auf der Tastatur ihres Computers. Verarscht fühlte ich mich nicht. So höflich, wie es mir möglich war, sagte ich, dass es kein Problem sei und verabschiedete mich. Ein paar Blocks weiter, bimmelte mein Handy. Dran war meine Chefin. Sie hätte gute Nachrichten. Ihr Kampf für mich hatte bei ihrem Chef zu einem weiteren Probearbeitstag geführt. Weil ich ja heute so nervös war und so weiter. Diesen Tag könnten sie mir aber auch nicht bezahlen, weil ich ja nicht angemeldet bin. Aber sie könnte mir Gutscheine geben. Ja bitte, bezahlen sie mich in Naturalien! Wer braucht denn schon einen Kollektivvertrag, eine Sozialversicherung? Zwei Maß Honig und eine Mastgans wären da noch offen. Ich lehnte dankend ab und ging wieder meinen Pfad.
Das war auch so ein Klischee gewesen, was hier seine reale Darbietung abgeliefert hatte. Nämlich das Abziehbild über die moderne Arbeitswelt. Wo Individuen permanent überwacht werden zwecks ihrer Leistung, zu Produktionseinheiten werden. In einem Büro saß ein Chef meiner Chefin und checkte elektronische Listen über unsere geführten Telefonate.
Der Herr der Schüsseln.
Das Schicksal eines Sanitärreinigers
Wenn man einen Job beschreibt wie diesen, wo es um das Reinigen von Toiletten geht, ist es seltsam folgende Flüche zu verwenden:
„Der Job ist scheiße.“
„Mein Chef ist ein Arschloch.“
„Die Arbeitsatmosphäre stinkt mir.“
Irgendwann wird es billiger sein, die Toiletten von einem blinkenden piepsenden Roboter warten zu lassen, als einem Humanoiden. Und, glauben Sie mir, kein Barde wird die romantisch-verklärte Seite dieser Arbeit besingen. Bei mir kommen keine nostalgischen Gefühle auf, wenn ich an die Umsorgung der Keramikschüsseln denke, an den grauen Mantel mit dem Firmenlogo und den chemischen Geruch. Ich glaube nicht, dass Bruce Springsteen jemals ein Lied darüber eingefallen wäre. Der Job war nämlich scheiße. Aber reisen wir in die Vergangenheit des Dramas oder Abenteuers.
Um eines vorweg zu nehmen, muss ich sagen, dass die Tätigkeit an sich nicht so tragisch war. Es war unangenehm, keine Frage. Bitte kriechen Sie durch einen Abwasserkanal, räumen Tierkadaver weg oder verbringen den Nachmittag mit manisch-depressiven Drogenkranken. Das sind schwierige Jobs. Die Tätigkeit als Sanitärreiniger hatte mich deswegen nicht gestört, weil die stupiden Abläufe nicht meinen Kopf angestrengt hatten. Einer dieser Geschichten werden in einem Callcenter spielen. Dieser Job hat mich mehr genervt. Wenn alles geputzt war, so wie am Morgen und das Tagesgeschäft (blödes Wortspiel) noch nicht heiß gelaufen war, saß ich in meiner befliesten Hölle mit dem Charme einer Leichenhalle und las ein Buch. Oder konnte ganz entspannt meinen Unikram erledigen. Ich hätte auch Aquarelle malen können.
Meine Einschulung sollte bei einer Toilette in einer U-Bahnstation stattfinden. Mein Sensei war eine Gestalt namens Slobodan. Einem Serben und ehemaligen Lektor von Agatha-Christie-Romanen. Von Russisch in das Serbische und wieder zurück. Nur verstand er kein Deutsch. Was ich jetzt nicht aus der Sicht eines Rechtsradikalen meine, falls solche Assoziationen aufkommen sollten. Zudem konnte er kein Englisch. Meine Kenntnisse der Sprache Shakespeares und Churchills waren auch enden wollend. Als problematisch stellte sich dieser Umstand heraus, weil er meine Fragen nicht beantworten konnte. Interessanterweise konnte er ohne Probleme folgende Sätze verstehen: „Hier gibt es wohl nicht viel zu tun.“ und „Wann ist Feierabend?“. Die Lektionen, die ich von Slobodan lernte, waren das Kleingeld von den Leuten zu kassieren, alle fünf Minuten auf das Handy zu glotzen und sich gemütlich zurück zu lehnen, während das schon erwähnte Kleingeld durch die Tür reingerollt kam. Dass dieser Job sich natürlich nicht darauf beschränkte, sollte ich bald lernen. Aber nicht von Slobodan. Das Nichtstun gipfelte damit, dass ich im Büro anrief, um mich nach der genauen Dauer dieser „Einschulung“ zu erkundigen. Im Büro war mein Gesprächspartner die pure Ahnungslosigkeit. „Äh, wie lange die Einschulung dauert? Puh, da fragen Sie mich aber was. Aber wenn Sie glauben oder fühlen, schon genug zu können, können Sie nach Hause fahren. Wenn Sie wollen.“ War das eine Montessori-Schule? Na Meister, wie sieht denn der Plan aus? Da sind ein paar Kloschüsseln. Was also damit machen, Vietnamesisches Wasserpuppentheater? Fast wäre ich auf Slobodans doch reduzierte Beschreibung des Beschäftigungsprofiles hereingefallen. Da war aber noch die Chefin Andrea. Auch eine Serbin, mit Haaren auf den Zähnen. Slobodan und ich waren ihre Fußsoldaten, deren Beziehung im Schützengraben sich schnell verfinsterte. Der Konflikt konnte beidseitig auf einen ähnlichen Vorwurf gebracht werden. Slobodan sagte, ich würde nicht putzen. Ich sagte, er würde nicht putzen. Wenn ich meine Schicht antrat, war nicht selten das schöne Schauspiel zu beobachten, wenn Slobodan mir entgegen gestürmt kam. Dazu fuchtelte er mit seinen Armen wie ein Kolibri. Ein Arm beschwert mit einem leeren Kanister Putzmittel: „Du verbrauchst das ganze Putzmittel. Nichts da, alles weg!“
Fairnesshalber muss ich sagen, dass ich in einer Woche das Putzmittel von einem Monat verbraucht hatte. Meine Strategie war es sowieso gewesen, den ganzen Sanitärbereich mit Napalm zu bombardieren, zur Desinfektion. Andrea gab mir auch den Hinweis, dass ein zu hoher Putzmittelverbrauch ein Kündigungsgrund war. Genau wie zu viele Müllsäcke zu verwenden. Die genormte Einheit waren zwei Müllsäcke die Woche. Slobodans Vorstellungen, wie das Pissoir gereinigt werden sollte, bestand in dem rituellen Füllens eines McCafe-Pappbechers mit verdünntem Reinigungsmittel. Das träufelte er sachte in die Metallschüsseln. „Damit es nicht stinkt.“ Ich hatte nach einem Metallreiniger gefragt und wie oft die Dinger zu putzen seien. Diese Anfragen waren mal wieder mit einem Grinsen und „Ich weiß nicht“ abgeschmettert worden. Diese Pappbecher waren auch unsere Seifenspender. Wozu diese mysteriösen Metallzylinder mit Plastikdüsen gut waren, die neben jeden Waschbecken hingen? Aber Slobodan blieb seines Unterrichtstils treu. „Machen so, machen so.“ Es waren Seifenspender. Ich verbrauchte zu viel Putzmittel und stellte dämliche Fragen. Andrea taute mit der Zeit auf, wir kamen mit unserer gegenseitigen Art besser klar. Ich mit ihrer schroffen Natur. Sie mit meinem chaotischen Wesen.
Flaneure in der Rue de la Merde gab es viele. Meine liebste Kategorie waren russische Touristengruppen, die oftmals die Toilettenanlage überfluteten. Wenn sie auch noch kein Englisch sprachen, musste man in einem interkulturellen Ausdruckstanz erklären, wo der Eingang für die Herren war, warum ich überhaupt in der Frauentoilette herumstand (das sorgte wirklich für viele Schocks, was hoffentlich nicht an meinem Aussehen lag) und zum Abschluss die Höhe des Eintritts. Fragen kamen immer, immer auf Russisch zurück. Riesige Monologe, die ich einfach nicht verstand. Mein kläglich gejaultes „Do you speak English?“ verkam zu einem nutzlosen Gebet. In der Frauentoilette gab es einen Schranken, den ich mit einem Schlüssel aufsperren musste. Für die Herren der Schöpfung war das Urinieren gratis, ihre Frauen mussten zahlen. Was die gesellschaftliche Diskriminierung anhand der Verrichtung der Notdurft zeigt. Dieser Schranken zählte elektronisch wie viele Besucher es unter dem Tag verteilt gegeben hatte. Die Ziffern, die auf einer Anzeige abzulesen war, musste dann mit dem Geld verrechnet werden. Das lockte den Kontrolleur an. Wie ein Gottesurteil war er mir in der Toilette erschienen. Der Mann war fast einen Kopf größer als ich. Wobei sein Kopf so schief auf seinem Kopf saß, wie die Augen in ihren Höhlen. Als Maske trug er ein diabolisches Lächeln, das eine Gesichtshälfte lähmte. Ein Mundwinkel war permanent nach oben verkrampft. Die Hauptaufgabe dieses Kontrolleurs war die Analyse der Einnahmetabellen, die wir jeden Tag ausfüllen mussten. Auch den Zustand der Hygiene, wobei ich da immer noch lachen muss. Von diesem Kontrolleur bekam ich tiefgehende Weisheiten, was diesen Job anging. Er ging herum und zeigte auf die Stellen, wo nicht geputzt worden war. Eigentlich zeigte er überall hin, nur nicht auf die isolierten Inseln, wo tatsächlich geputzt worden war. Unsere improvisierten Seifenspender wurden mit einem „Wollt ihr mich verarschen?“ quittiert. Wie in einem Märchenschloss zeigte er mir auch einen geheimen Raum hinter der Behindertentoilette. Ich hatte mich schon gefragt, wozu der gelbe Schlüssel am Bund gut war. In dem Raum war alles, wonach ich in den ersten Wochen gefragt hatte. Der Metallreiniger, Schläuche und sogar eine Saugglocke. Ich war im Himmel! Endlich war ich ausgerüstet. Der Kontrolleur fragte mich, ob ich denn diesen Raum noch nie gesehen hatte. Er hielt dabei einen Wisch-Mob in der Hand und ich konnte sehen, wie seine Fassung durch seinen Körper und aus seinen Schuhen floss. „Wer hat euch eingeschult?“
Äh……………..
Wäre das ein Film, würde ich, um das Vergehen der Zeit darzustellen, die Sequenz einfügen, wo ein Baum im Wind steht. Gedreht würde in Schwarz-Weiß. Dazu würde ich das Bild beschleunigen, um den Wechsel der Schatten zu intensivieren. Wäre das ein Theaterstück, müsste auch ein letzter Akt gespielt werden. Was auf einer Bühne gezeigt werden würde, wäre mein letzter Tag in dem Fliesenloch. Nicht nur des erzählerischen Handwerkes wegen sage ich das, aber es war wirklich ein normaler Tag. Die Sonne ging auf, ich fuhr zur Arbeit, legte meine Tasche an gewohnter Stelle ab, kontrollierte alles, nahm meine Conan-Edition, die ich lesen wollte, um mein Gehirn in die dumpfe stupide Stimmung zu bringen, und begrüßte einen wildfremden Mann. Oha, hallo, der nette Herr war ein anderer Kollege von mir. Genau drei Sekunden später kam Slobodan herein. Das erste, was ich dachte, war die Frage, wer die Dienstpläne durcheinander gebracht hatte. Als dann der schielende Riese den Gang hinter Slobodan ausfüllte, bekam das ganze so eine ernste Note. Jemand würde fliegen. Es war aber nicht ich, sondern Slobodan. Der Grund war aber nicht die fehlende Hygiene, sondern etwas anderes. Er hatte sich über seine Kollegen beschwert. Also über mich. Dutzende Male hatte er jeden Tag in der Zentrale angerufen. Niemand hatte mit mir darüber geredet. Weder Slobodan noch die Firma. Der Riese brüllte und stauchte Slobodan vor der Toilette zusammen. Wortfetzen wehten zu mir und meinen neuen Kollegen. Es war weniger die Lautstärke, als die Intensität. Ich hatte das Gefühl als nächstes an der Reihe zu sein. „So oft anrufen…“ und „redet man nicht über Kollegen…“ waren die einzigen Dinge, die ich so zusammenkleben konnte. Der Granatenhagel dauerte fast eine halbe Stunde. Potenzielle Kunden betraten die Toilette, wobei sie den Kopf ständig auf das Geschehen gerichtet hielten. Slobodan und ich waren niemals Freunde gewesen, aber ich fand es übel, wie mit ihm umgegangen wurde. Wie ein knirschender Leuchtturm, hatte dann der Riese seine Aufmerksamkeit dann doch noch auf mich gerichtet. Was ihn an mir interessierte, waren die Zahlen von der Tabelle. „Ich unterstelle Ihnen mal, dass Sie in die eigene Tasche wirtschaften. Natürlich kann ich Ihnen das nicht beweisen.“ Als Indiz zeigte er mir die Tabelle der letzten Wochen. Um das besser zu verstehen, muss ich noch erklären wie das funktioniert hat. Es wurden die elektronischen Zahlen von dem Schranken und der Herrentoilette eingetragen. Es gab aber auch einen Zähler bei der Behindertentoilette. Diese Zahlen mussten auch eingetragen werden. Obwohl die Behindertentoilette gratis war. Bei meinen Schichten war die Zahl der Benutzer viel zu hoch und der Kontrolleur dachte, ich würde Leute in diese Toilette lassen und dann für mich abkassieren. Was das Dümmste ist, was ich je gehört habe. Das habe ich mir selber zusammen gereimt, weil es die einzige Möglichkeit in meinen Augen darstellt, auf diese Weise Geld zu verdienen. Aber wer ist so blöd wegen den paar Euro seinen Job zu riskieren? Anscheinend dürfte es in der Vergangenheit wirklich Genies gegeben haben, die das getan haben. Aber das merkt man doch, wenn die Zahlen angesehen werden?
Dann richtete er das Licht doch auf das Thema putzen. Ich sollte die ganze Station schrubben. Auch die Innenseite der Abflussrohre und die Eingeweide des Kondomautomaten.
Hier war meine Abzweigung. Ich musste noch zu Andrea und ihr meinen Mantel geben. Wir redeten noch eine Weile. An dem Tag war eine Menge von ihrer Schale abgebrökelt. Sie fand es schade, weil schon vorher sehr viele Kollegen sehr schnell gekündigt hatten. Dieser Job ist auf der unteren Kommandoebene vor allem ein Migrantenjob. Der Kontrolleur war ein Einheimischer, genau wie der Lieferant des Toilettenpapiers. Auch in den Büros hatte ich kaum Menschen aus anderen Herren Länder getroffen. Bevor ich ging, sagte mir Andrea, dass ich gehen könnte. Sie aber nicht. Wegen einer langen Krebserkrankung hatte sie einfach nicht mehr die Kraft sich eine andere Beschäftigung zu suchen. Irgendwann ist der Weg vorbei. Das wollen wir zwar nicht wahrhaben. Weil wir denken, dass die Abzweigungen endlos vorhanden sind und das Schlimme nur in den Nachrichten passiert. Der junge kettenrauchende Schichtarbeiter, der sich durch die Nacht boxt, wegen der höheren Bezahlung, wird vielleicht mal einen Preis zahlen müssen. Keiner will verlieren oder wahrhaben, dass er verloren hatte. Irgendwann sagt etwas stopp. Und wir müssen halten, ob wir wollen oder nicht.
Zum Abschluss möchte ich mich noch selber loben. Es ist mir gelungen einen Artikel über die Arbeit als Sanitärreiniger zu schreiben, ohne eine einzige Anekdote über Scheiße zu erzählen. Weder Geruch, noch Konsistenz, noch Form, oder in welcher Art und Weise ich damit in Berührung gekommen bin.
Anmerkung von max.sternbauer:
Eine kleine aber feine Textsammlung über meine Erlebnisse während des Abtauchens in den Niedriglohnsumpfes und dem Alltag als Minijobber.