Local Hero

Roman zum Thema Verantwortung

von  Mutter

„Was ist los?“, will ich von Tiger wissen. Irgendetwas stimmt nicht mit ihm – seine Klamotten sind schmutzig, er riecht nicht gut. Als Antwort bekomme ich wieder nur ein Schulterzucken.
„Hast du Ärger mit Tomte?“
Er schüttelt den Kopf, sieht irgendwo hinter mich.
„Ich gehe duschen“, sagt Dirty und verschwindet Richtung Ausgang. Er hat das Gefühl, Tiger sei mein ‚Projekt‘ und findet, ich soll den Junge gefälligst in Ruhe lassen. Meine Einwürfe, dass uns die Vergangenheit verbindet, lässt er nicht gelten.
„Wenn der Kerl ein Stricher am Zoo geworden wäre – würdest du dir dann der alten Zeiten wegen von ihm einen blasen lassen? Für einen Fuffi?“
„Du bist ein Arschloch, Dirty!“, hatte ich festgestellt und ihn damals vor dem Club stehen gelassen.
Ich mustere Tiger aufmerksam. Die dunklen Ringe unter seinen Augen bringen mich zu der nächsten Frage: „Nimmst du irgendwas?“ Gott, ich klinge wie sein Vater.
Hastig verneint er. Tiger hat keine Ambitionen im Profi-Sport – aber er ist fit und definiert sich selbst als einen Sportler.
„Keine Sorge. Nich so’n Scheiß – mach ich nicht.“
„Was dann?“ Meine Stimme klingt schärfer als ich möchte, aber ich will, dass er endlich auspackt.
„Wir haben die Wohnung verloren.“
„Eure WG?“
Ein Nicken. „Manne hat offenbar die Miete nicht gezahlt. Ich habe keine Ahnung, wie lange schon.“
„Und jetzt? Was machst du?“ Ich weiß vorher schon, dass wieder ein Schulterzucken folgt.
„Tomte lässt mich für heute Nacht hier wohnen. Morgen – mal schauen.“
Ich lasse meinen Blick zu lange auf ihm ruhen, und er hebt die Hände, wehrt ab. „Ich komm‘ klar, das kriege ich schon wieder hin.“
Ich nicke, und er nutzt die Gelegenheit, um den Tanzsaal zu verlassen. Nachdem ich mir die Fäustlinge von den Händen gezogen habe, um die Fenster wieder zu schließen, schnappe ich meine Wasserflasche. Folge Dirty in die Duschen.

„Und, was ist mit dem kleinen Schisser?“ Dirty hat den Kopf zurückgelegt und lässt sich das heiße Wasser ins Gesicht prasseln. Ich betrachte währenddessen eingehend den größer werdenden Fleck auf seinem Bein.
Offenbar hat er meinen Blick bemerkt. „Was?“ Er klingt genervt.
„Nachher ist der schön blau, morgen dann braun und grün.“
„Leck mich, du Arsch.“
„Wie faules Obst.“ Ich drehe meine eigene Dusche mit einem zufriedenen Grinsen voll auf.
„Pisser.“
„Sein dämlicher Mitbewohner hat die Miete nicht bezahlt. Jetzt sind die beiden auf die Straße gesetzt worden.“
„Hat die Miete selber eingesteckt?“ Er spuckt das Wasser, das ihm in den Mund läuft, in kleinen Spritzern aus. „Was für ein Mistkäfer.“
Ich nicke. Eigentlich kenne ich den Typen nicht wirklich, mit dem Tiger zusammen wohnt. Gewohnt hat. Weiß nur, dass er gelegentlich dealt und ein ziemlicher Schwachkopf ist. Wir waren uns mal auf einer Party in Schöneberg begegnet.
„Was macht der Kleine jetzt? Doch Bahnhof Zoo?“ Dirty grinst.
„Du bist ein Idiot.“ Ich sage für einen Moment nichts, überlege.
„Worüber denkst du nach?“, will er misstrauisch wissen.
Ich komme aus meiner Apathie, drücke mir einen großen Haufen Duschgel in die Hand. Seife mich ein. „Hab‘ drüber nachgedacht, ob ich ihn mit zu uns nehme.“
„Na, Luisa wird sich schön bedanken. Ihr so einen Stricher mit nach Hause zu schleppen.“ Er schnaubt verächtlich, hat ebenfalls begonnen, sich einzuseifen.
„Wo ist das Problem? Er schläft ein paar Nächte bei uns auf dem Sofa, bis er wieder auf die Füße kommt.“
Für einen Augenblick erwidert er nichts, ich höre nur das Prasseln des Wassers auf meinem Kopf.
Zögernd sagt er: „Der Typ ist merkwürdig. Irgendwie … patibulaire.“
Ich muss lachen.
Unwirsch fährt er mich an: „Warum lachst du?“
„Was heißt das? Klingt niedlich.“
Er schüttelt den Kopf, Wasser spritzt. Mit beiden Händen fährt er sich durchs Gesicht, als würde er sich trocknen wollen. Von oben stürzt heißes Wasser nach. „Unheimlich. Macht mir Gänsehaut, den zu sehen.“
„Du spinnst!“ Ich dusche den Schaum ab, betrachte, wie er sich in kleinen Haufen träge auf den Abfluss im Boden zubewegt. „Du hast echt einen Knall. Tiger ist noch ein halbes Kind.“
„Mach was du willst. Aber beschwer dich hinterher nicht bei mir, wenn dir Luisa den Kopf abreißt. Das wird ihr nicht gefallen.“ Damit ist die Sache für ihn beendet. Er dreht die Dusche ab, schnaubt Wasser aus dem Gesicht und schnappt sich sein Handtuch. Sich abtrocknend, geht er zurück in die Umkleiden.
Ich schließe die Augen, halte das Gesicht in den harten Strahl, stehe minutenlang einfach nur da. Lasse mich vom Wasser hypnotisieren.
Dirty hat natürlich Recht. Luisa wird die Idee bescheuert finden. Dafür muss man kein algerischer Prophet sein, um das vorherzusagen.

Wir verabschieden uns stumm mit erhobener Hand von Tomte, der an seinem Schreibtisch sitzt und mit Zwei-Finger-Such-System etwas in den völlig veralteten Computer tippt.
Während wir auf den Fahrstuhl warten, witzelt Dirty: „Falls er sich auf der Suche nach Online-Dates befindet, ist der Kerl tot, bevor er die Anzeige fertig geschrieben hat.“
Ich antworte nicht, bin in Gedanken noch bei Tiger. Die Tür ruckelt widerspenstig auf.
„Kommst du noch mit rüber?“, fragt Dirty, während der Fahrstuhl sich durch den Schacht nach unten schabt. Jede Sekunde bleibt das Mistding stecken, denke ich und lasse den Blick über die ramponierten Knöpfe wandern. Die Stockwerkzahlen sind nicht zu erkennen, die Knöpfe in verschiedenen Stadien komplett mit Feuerzeugen verschmort worden.
„Luca? Kommst du noch mit?“ Dirty wohnt keine fünfzig Meter vom Sportstudio entfernt in einem der großen Türme direkt an der Adalbertstraße, oben im zehnten Stock. Absolutes Ghetto, aber man hat einen fabelhaften Ausblick auf die Stadt. Besonders abends.
Warum eigentlich nicht? Ich bin erst später mit Luisa verabredet, muss bloß vorher noch für das Essen einkaufen. Ansonsten steht nichts an heute Nachmittag.
„In Ordnung.“
Er schnaubt. Schätze, ihm ist meine Antwort nicht enthusiastisch genug.
Unten laufen wir die Straße entlang, biegen in den betonierten Innenhof ein. Jede Menge Kinder spielen auf den Stufen, in dem bisschen Sand und in den Seilen, die netzartig zwischen drei Pollern gespannt sind. Der ein oder andere kennt Dirty, die Jungs rufen ihm hinterher.
„Local Hero“, lache ich, als er die schwere zerkratzte Haustür mit der Schulter aufdrückt. Er antwortet nicht.
Sagt stattdessen: „Der Aufzug ist mal wieder im Arsch. Wir müssen die Treppen nehmen.“
Das stört mich nicht wirklich. Die beiden Aufzüge hier sind noch weniger vertrauenserweckend als der vom Studio. Einer ist permanent kaputt, und der andere stinkt nach Urin und Müll. Die Dinger sind so klein, dass zwei Kerle wie wir schon mit den Schultern an die Wände stoßen, wenn wir zusammen darin stehen.
Zehn Stockwerke zu Fuß zu laufen ist mir da allemal lieber.
„Na dann los!“, rufe ich gutgelaunt, reiße die Tür zum Treppenhaus auf und stürme die erste Treppe hoch. Immer zwei oder drei Stufen auf einmal. „Der letzte ist eine lahme Drecksau und muss die Pfandflaschen wegbringen“, brülle ich und ziehe mich am Geländer hoch, während ich in einem Affenzahn höher sprinte.
„Wichser“, presst Dirty angestrengt dicht hinter mir heraus – er hat die Herausforderung angenommen.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (06.04.10)
„Ich gehe duschen“, sagt Dirty und geht Richtung Ausgang." - Hahaha!

 Mutter meinte dazu am 06.04.10:
Zum Tanzsaal des Studios passt dann wohl auch 'Dirty Dancing' - vielleicht sollte ich das als Kapitel-Überschrift mit rein nehmen ... ;)

 Melodia antwortete darauf am 07.04.10:
lol... sehr geil!

lg
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