Aus den Waschräumen kommen zwei Jungs, höchstens Anfang Zwanzig. Den einen, Mustafa, habe ich schon ein paar Mal hier gesehen, der andere ist neu. Beide sind gut gebaut, trainieren ernsthaft. Wir nicken uns zu, Mustafa zögert kurz. Er kommt rüber, um uns zu begrüßen. Unsere Fäuste stoßen zusammen, ein kurzes „Alles klar?“ wird ausgetauscht, dann geht er zurück zu seinem Partner. Die Kids im Kiez kennen uns, und wenn es nur vom Sehen ist. Nehmen wahr, wie wir als Schwellenhüter vorm Club stehen, Herr über Rein oder Raus. Das nötigt ihnen Respekt ab. Und uns erleichtert es den Job: Mit denen, die wir kennen, bekommen wir keinen Stress. Niemals.
Die beiden gehen an die Bank: Mustafa stemmt die Langhantelstange von der Brust weg, sein Freund steht über ihm, assistiert. Nimmt ihm die Hantel weg, kurz bevor er nicht mehr kann.
„Kommst du mit in den Tanzsaal?“, will Dirty wissen.
Der Saal nebenan ist ein großer Raum mit Holzparkett und einer Spiegelfront. Hier wurden früher die Aerobic-, Step- und Bauch-Beine-Po-Kurse abgehalten. Als das hier noch das Fitness Forever und nicht der Power-Bunker war. Ich erinnere mich, wie das Ding vor ein paar Jahren aufgemacht hat – hier sollten Hausfrauen und Kreuzberger Alternative mit Geld ihre schlaffen Körper stählen. Aber die Gegend ist zu rau, das Kottbusser Tor verströmt zu wenig Wellness-Gefühl. Ich nehme an, dafür müsste man die ganze Taubenscheiße rund um die Bahn wegkratzen und die ganzen Junkies loswerden.
Also sind die türkischen Jungs gekommen, um sich in ihren weißen Unterhemden mit Freihanteln vor dem Spiegel zu bewundern und Astralkörper zu schaffen. Cem hat den Laden spottbillig übernommen.
Aus dem Aerobic-Raum ist der Tanzsaal geworden: Kickboxen, Karate und Muay Thai wird hier trainiert, freie Lehrer geben unter der Woche regelmäßig Kurse. Dirty und ich sparren hier gegeneinander, treten gegen Sandsäcke und springen Seil.
Ich schüttle den Kopf, muss mich erst noch in Fahrt bringen. Ich gehe zu den Trizeps-Übungen über. Schnaufend ziehe ich die Gewichte am Stahlkabel hoch, fühle meine Muskeln arbeiten. Tomte taucht am Eingang auf, sieht nach dem Rechten. Als ob er das müsste. Er nickt mir zu, erwartet aber keine Reaktion, während ich pumpe.
Tiger ist nicht da. Der unterstützt Tomte für ein Taschengeld. Macht sauber, hat so eine Art Hilfs-Hausmeisterjob. Es gibt kaum Gelegenheiten, an die ich mich erinnere, zu denen Tiger nicht im Bunker war. Gehört fast so sehr zur Inneneinrichtung wie Tomte. Der Junge ist ein komischer Vogel – spricht nicht viel, und dann mit einer merkwürdigen, gedrückten Stimme. Als wäre er permanent heiser. Und er sieht einem beim Sprechen nie direkt ins Gesicht, sondern immer über einen hinweg. Ich muss jedes Mal den Reflex unterdrücken, mich umzudrehen - um zu schauen, ob jemand hinter mir steht.
Tiger und ich kennen uns schon seit ein paar Jahren. Er war damals eines der Kids, die in dem Jugendheim herumgehangen haben, in dem ich gearbeitet habe. Bevor sie den Betreuungsschlüssel reduziert und mich weggekürzt haben, denke ich bitter. Er kann damals nicht älter als vierzehn, fünfzehn gewesen sein. Ein paar von den Boys haben zwischenzeitlich hinterm Zoo als Stricher gearbeitet, aber soweit ich weiß, hat sich Tiger da immer herausgehalten. Wir unterhalten uns manchmal, wenn wir uns sehen, ab und zu nehmen Dirty und ich ihn auf ein Bier mit in die Oranienstraße. Tiger ist in Ordnung – dass er etwas seltsam ist, ist kein Wunder - bei dem Lebenslauf.
„Zwanzig“, entfährt es mir mit einem Zischlaut, ich lasse die Gewichte mit einem Knall aufsetzen und gleichzeitig entgleitet mir die schweißgetränkte Nylonschlaufe.
„Fuck!“, entfährt es mir. Ich bin platter als ich dachte.
Dirty grunzt, als ich mit voller Wucht gegen seinen Handschutz trete – er hat den Arm gerade eben noch hochbekommen, um den Treffer am Kopf zu verhindern. Durchgeschüttelt wird er trotzdem.
„Nicht schlecht für einen alten Mann“, grunzt er und tänzelt außer Reichweite.
Ich grinse um meinen Mundschutz herum. Wir beide schenken uns nichts im Tanzsaal. Jedes Mal geht es nur um eines: Alles geben, bis ans Limit gehen. Wenn ich dabei beweisen kann, dass ich das Alphatier bin, ist das ein Bonus. Ihm geht es nicht anders. Das Ziel ist für uns beide klar: Dirty für den bevorstehenden Kampf in Bestform bringen. Wenn er wirklich den Schritt ins Profilager schaffen will, muss er sich für jeden Fight so vorbereiten, als wäre es der einzige Kampf, der jemals für ihn zählt.
Ich blinzle mir den Schweiß aus den Augen, die Suppe brennt. Durch die Glasfenster knallt die Sonne in den Tanzsaal wie in ein Gewächshaus, hier drinnen ist die Luft unerträglich heiß. Es wäre einfach genug, ein Fenster zu öffnen – draußen sind es höchstens fünfzehn Grad. Aber wir stehen auf die Hitze, auf die feuchte Luft. Macht das Training noch intensiver, unsere persönliche Version von Höhentraining.
Dirty kommt wieder näher, wachsam. Er hat sich schon ein paar ordentliche Dinger eingefahren, ist dabei gut durchgeschüttelt worden. Ich nehme an, wenn ich ihn noch ein, zwei Mal hart erwische, hat er für heute keinen Bock mehr. Habe ich früher Feierabend, denke ich mit einem Grinsen. Ich beiße hart auf den Mundschutz, als seine Faust hochzuckt. Er bleibt in meiner Deckung hängen, die nachfolgenden Rippenschläge nehme ich, indem ich mich aus ihnen rauslehne – wie eine Weidenrute im Wind. Gleichzeitig Körperkontakt halte, ihm keinen Raum zum Ausholen lasse. Mit einem schnellen Schritt zur Seite vergrößere ich den Abstand und hämmere ihm einen saftigen Lowkick auf den Oberschenkel. Sein Gesicht verzieht sich vor Schmerzen, doch er beißt sie weg. Pendelt aus, aber als er einem angetäuschten Highkick von mir ausweicht, fängt sich sein Bein den nächsten Tritt ein. Selbe Stelle, der Schmerz exponentiell.
„Fuck“, kommt es gummigefiltert zu mir rüber. Dann: „Arsch.“
Seine Bewegungen werden langsamer, der Schmerz hat sich im linken Bein eingenistet. Der geht auch nicht mehr weg – macht sich jetzt bei jeder Bewegung bemerkbar. Wäre das hier eine der ersten Runden in einem echten Fight, wäre der bereits für ihn vorbei.
Er will mich noch mal angehen, aber ich kann sehen, wie er sich quält. Dirty ist zu stolz, um Schluss zu machen.
„Pause?“
Er nickt dankbar, lässt die Fäuste mit den dicken Schützern fallen.
„Mann, ist das eine Hitze. Warum macht ihr Penner nicht die Fenster auf?“
Ich drehe mich, um Tiger zu begrüßen, der vorne an der Tür steht. Er geht kopfschüttelnd zu den großen Doppelfenstern und reißt sie auf. Kühle Luft flutet den Raum. Dirty und ich grinsen uns an, ich spucke den Mundschutz in den Handschuh.
Nachdem er alle vier Paar Flügel geöffnet hat, kommt Tiger mit seinem merkwürdig rollenden Gang zu uns hinüber.
„Du siehst beschissen aus“, sage ich und halte ihm die Faust hin. Er boxt dagegen, begrüßt danach Dirty. Statt einer Antwort zuckt Tiger nur mit den Schultern.
„Alles in Ordnung?“
Er schiebt sich die fleckige Basecap in den Nacken, kratzt sich am Kopf. Die Haare sind wie bei Dirty kurz geschoren. Ich bin einer der wenigen, die regelmäßig im Studio trainieren und dessen Haarlänge sich nicht in Millimetern messen lässt. Luisa würde mich umbringen, wenn ich meine ‚kalabrischen Locken‘, wie sie sie nennt, abschneiden würde.
„Wenn du irgendwann genau wie Dirty mit deinem Haarschnitt einem Unteroffizier Konkurrenz machen kannst, musst du gar nicht mehr nach Hause kommen“, hatte sie gedroht.
„Hey, der Mietvertrag läuft auf meinen Namen!“
„Völlig egal“, ignoriert sie meinen Protest. „Das meine ich ernst.“ Dabei hatte sie furchtbar böse geguckt, während sich Manu vor Lachen kaum hatte halten können.
„Ich mag die Locken auch. Aber ich glaube, er würde mit kurzen Haaren ebenfalls gut aussehen“, hatte sie mir geholfen.
„Fall mir nicht in den Rücken! Ich will nicht, dass er so kasernenmäßig aussieht.“
„Du hast mal gesagt, du findest, dass Dirty gut aussieht“, hatte ich es versucht.
Sie hatte mich mit einem schiefen Blick angesehen. „Schatz, Patrice sieht trotz der kurzen Haare gut aus – nicht deswegen.“ Luisa weigert sich, Dirty bei seinem Spitznamen zu nennen. Sie findet den Namen ordinär und sagt deswegen als Einzige stets ‚Patrice‘ zu ihm. Manchmal vergesse ich, dass das sein richtiger Name ist, und brauche einen Augenblick, um zu begreifen, von wem sie spricht.