Verzeih mir

Innerer Monolog zum Thema Verzweiflung

von  Cassandra

Ich versteh nicht, was in uns vorgeht. Seit dein Vater uns verlassen hast, vor zwei Jahren, wegen einer anderen Tussi. Sie war jünger als ich, hübscher und wahrscheinlich auch im Bett interessanter. Papa und ich waren schließlich schon ein paar Jährchen zusammen. Ich war keine junge Mutter mehr für Dich. Bin bedeutend älter als die Mütter deiner Schulkameraden. Du hast dich meiner geschämt, seit Papa weg ist.

Erst habe ich deine Veränderung nicht wahrgenommen. Vielleicht auch nicht wahrnehmen wollen. „Mama, Sandy kauft sich neue Stiefel. Ich brauch auch welche.“ Du hast recht, deine Füße wachsen eben. „Mama, Yvonne und ich wollen ins Kino“ Ich versuche Dir zu erklären, dass „Extraportionen“ momentan nicht drin sind. Unverständnis. Unglaube. Misstrauen.

Die Bemühungen meinerseits, einen Arbeitsplatz zu erwischen, sind weitgehends auf Null gesunken. Seit über 17 Jahren nicht mehr im Berufsleben. Dein Papa hat genug verdient und stand noch auf dem Standpunkt „eine Frau gehört ins Haus“. Meine Ausbildung bringt mir nichts mein Kind und ich hoffe, dass Du Verständnis für mich aufbringst. Kaufmännische Angestellte gibt es wie Sand am Meer und in meinem Alter und ich habe kein Abitur, geschweige denn ein Studium.  Soll ich Dir jetzt erklären, dass ich mit meinen über 50 Jahren kaum noch eine Chance auf dem Arbeitsmarkt habe? Ich will Dir Hoffnung geben, aber meine Stimme versagt. 

Deine Aggressionen werden immer stärker. „Wir können uns das nicht leisten, bitte, ich hab’s dir doch erklärt. Du bist doch nicht dumm und kannst mitrechnen. Es wird irgendwann besser, glaubs mir“. Ich habe keine Spucke mehr und spiel Dir Ruhe vor, doch mein Herz rast.

Deine Reaktion: „Du gönnst mir nie was…“.

DURCH DEINE TRICKS SCHAFFST DU ES IMMER WIEDER, UNTERHALTSZAHLUNGEN ZU UMGEHEN.
DEINE TOCHTER KONNTE LETZTENS EINER THEATERAUFFÜHRUNG NICHT BEIWOHNEN, DA DAS GELD FEHLTE.

„Papa hat keine Zeit, Maus. Aber er meldet sich sobald es geht.

„Räum doch bitte dein Zimmer auf“. „Lass mich in Ruhe“.

Langsam fehlt mir die Kraft.

IST DIR DEINE TOCHTER SO EGAL? SIE LEIDET UND DU AALST DICH IN DEINER "LOSGELÖSTHEIT":

„Warum hat Papa mir nicht zum Geburtstag gratuliert.“

Du stehst vor mir und Dir laufen Tränen über das zarte Gesicht.

Mittlerweile müssen wir die Tafel aufsuchen. Es langt vorne und hinten nicht.

Du wirst bösartig und ich werde von Weinkrämpfen geschüttelt wenn Du in der Schule bist. Oder dich mit Freundinnen triffst. Wir sind beide so allein. Meine Bemühungen Dich zu erreichen, verlaufen im Nirwana.

„Wo sind meine schwarzen Jeans“? „Hatte keine Zeit, Maus. Heute Abend wasche ich sie. Ich hatte einen Termin beim Arbeitsamt und das hat länger…“ „Arbeitsamt, ja klar. Wer arbeiten will, findet auch welche“.

Mir steigen Tränen in die Augen und ich schlucke.

EIN SCHREIBEN DEINES ANWALTS. DU BIST ARBEITSLOS. SCHEISSE!!!

Und jetzt?

Du willst in das Schullandheim. Eine Woche Bergisches Land.

DEINE "ZWEITFRAU" ERWARTET EIN KIND.

Du zeigst ironisches Verständnis bezüglich unserer finanziellen Situation.. Deine Veränderungen steigern sich. Ich komme aber nicht an dich ran.

„Mama, wir sammeln für unsere Lehrerin. Sie bekommt ihr Baby und wir wollen etwas schenken.“

Schon im vorneherein ein misstrauischer und trauriger Blick deinerseits. Du kennst die Antwort und leidest wie ich, wenn auch aus anderen Gründen.

„Maus, ich hab kein Geld.“ Schon jetzt steigen mir Tränen in die Augen. Bevor ich Deine Antwort weiß.

Und sie kommt.

„Ich darf nirgendwo hin.“

Ich sehe Deine Unterarme. Du bist sehr hübsch. Langes, blondes Haar. Schlank. Und jetzt diese Schnitte. Du wolltest sie vor mir verbergen. Eine ärztliche Behandlung hast Du abgelehnt. Über das Jugendamt könnte ich etwas erreichen. Aber, mein Mäuschen, ich kann doch keine Zwangseinweisung vornehmen lassen, oder?

In mir brennt es.

Schon wieder zwei Absagen.

„Mama, unsere Katze muss zum Tierarzt, sie frisst nicht mehr…“

„Dafür ist kein…“

Unterbrechung. Hart, schneidend.

„Okay, ich weiß. Wir sind arm.“

Meine Arme wollen dich trösten, wollen Deinen Rücken streicheln, doch Du blockst ab, machst Dich steif.

„Nicht mal zum Tierarzt können wir.“

Du drehst dich um und schließt die Tür hinter Dir.

Ich überlege und dann kommt die Lösung

Meine Tabletten gegen Herzrhythmusstörungen müssten für uns beide reichen.

Ich liebe dich






@Keine Autobiographie, ich lebe noch und meine Tochter auch. Verheiratet bin ich auch noch ;)“…


Anmerkung von Cassandra:

Bitte, bitte. Ich stehe nicht vor einem Suizidversuch. Bin momentan, trotz einiger Tiefschläge eigentlich ganz happy. Also bitte keine Rundumschläge von selbsternannten Psychotherapeuten.

Der Text kam einfach über mich, so einfach ist das.

LG
Cassandra

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Kommentare zu diesem Text


 Judas (18.12.10)
Der Titel hätte mich fast abgeschreckt. "Ich liebe dich" ist ja fast schon eine abgedroschene Phrase vieler Schreiberlinge. Aber der Text dahinter- der hat eingeschlagen wie eine Granate. Richtig guter, aber harter Stoff. Super geschrieben. Wahnsinnig bewegend.

 Cassandra meinte dazu am 18.12.10:
Danke.

LG
Cassandra
(Antwort korrigiert am 18.12.2010)

 Judas antwortete darauf am 19.12.10:
Ah da fällt mir noch ein bezüglich deines Kommentares zum Text: man darf sowieso nie lyr. Ich und Autor automatisch miteinander gleichsetzen :)
cooori (20)
(06.07.12)
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 Cassandra schrieb daraufhin am 07.07.12:
Ich kann nicht mehr sagen als, danke für diese Zeilen...

Viele liebe Grüße
Ute
Gringo (60)
(30.04.14)
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