Liebe und Furcht

Kurzgeschichte zum Thema Einsamkeit

von  RainerMScholz

Aus regendräuenden Maaren starrt mich das Dunkel an. Glitzernd fallen tote Blätter auf das Gleis. Knöchern wie die Bäume bin ich und ich warte. Ich starre zurück. Ich sitze auf den teerigen Bohlen im Gleisbett, der Schotter liegt zu meinen Füßen, ich blicke in die Schwärze und ich warte. Die Schienenstränge glänzen blau und grau, die Tropfen fallen auf das Onyx meines Herzens. Der Regen schlägt sich nieder – in meinem Kopf: eine außerkörperliche Erfahrung von exquisiter Anankastizität. Graue Wasserschleier aus dem Himmel drücken von Innen gegen meine Augäpfel, der Druck nimmt zu, die Iris wird zum Schwarz der Pupille, verschwindet grünblau in die Ränder des geäderten Weiß. Und ich sehe nicht das Dunkel des Regens, die Menschenleere in der Welt, sondern ich blicke hinein in diese hohle Puppe, die dort auf den Gleisen sitzt und mich verständnislos anschaut. Der Tunnel der Nacht sieht hinein in das was ich bin oder vorgebe zu sein.
Es ist nicht die Liebe, die mich bleiben lässt – es ist die Furcht. Die konkrete Angst vor der Einsamkeit, vor dem alleine Zurückbleibenmüssen, das Schreien und die Verzweiflung, die es bedeutet von meinem Kind Abschied nehmen zu müssen, die Tränen in seinen Augen körperlich zu fühlen und mein Unvermögen zu halten, zu umarmen, zu beschützen. Auf immer getrennt von nun an. Und was ist mit meiner Frau? Ich wusste nicht, damals, als wir beschlossen eine, ja, eine Familie zu sein, eine Familie zu gründen, eine Gemeinschaft, die mehr ist als das Fleisch und die Versenkung darin, - ich wusste nicht, dass es so schwer sein würde. So schwer nach all dieser Oberflächlichkeit und der Verantwortungsflucht. Dass es so viel bedeutet. Hat sie genauso große Furcht wie ich? Vor der Einsamkeit? Nein, es ist nicht Einsamkeit, vielleicht ist es Verlassenheit – genauso große Furcht? Oder lässt sie das Kribbeln im Bauch, das uns verbunden hat, bleiben, die Zärtlichkeit eines Augenblicks, der das alte Gefühl heraufbeschwört, die Erinnerung an ein Einst. Ein Lächeln vielleicht, eine Bemerkung, ein Wesenszug, der sie an die Liebe erinnert, die sie empfinden möchte oder empfindet. Wenn es nur Loyalität wäre? Wie lange hält die und woran ist sie gebunden? Das Schlimmste ist die Banalität der Gewohnheit. Abends zusammen auf dem ratenbezahlten Couchmöbel sitzen und wortlos in den überdimensionierten Fernseher starren, die tönende Stille unterbrochen von einem Halbsatz, einem lustlosen Kommentar, einer Nuance eines Gesprächs. Es sind die immer gleichen Abläufe Tag für Tag, bis dass der Tod scheidet, was längst nicht mehr ist.
Sie lächelt im Schlaf, ein Speichelfaden zieht sich hauchdünn von ihrem Kinn zum Kopfkissen. Was ich früher  mit einem liebevollen Empfinden betrachtet hatte, einem Gefühl von Vertrautheit, stößt mich jetzt ab. Die Geräusche ihres Körpers, ihre Unpässlichkeiten und Marotten und Angewohnheiten. Über die Jahre und Jahre nutzen sie sich ab und verwandeln sich in etwas Anderes, etwas Absterbendes. Und dennoch bleibt die Furcht. Diese Schleife in meinem Kopf, die sich unablässig wiederholt, sich eingefahren hat in meine Matrix, eingeschliffen, eingefräst. Eine unnennbare Angst des Ungenügens. Ein Grauen vor der eigenen obsoleten Existenz in diesem Universums der Gewöhnlichkeiten.
Das Dunkel frisst sich in meine Augen und der Regen macht mich nass. Ein leichtes Vibrieren des kalten Stahls lenkt meine Aufmerksamkeit auf den Umstand unabdinglicher Gegenwart. Doch der Blick geht nach Innen. Das Dunkel im Herzen des schwärzesten Schwarz.
Und das Kind?
Nicht länger mehr ertrage ich die Furcht. Vielleicht war es auch Liebe. Ist Liebe. Es ist Liebe. Der Zug biegt um die Kurve. Die Lichter reißen das Land aus dem Schlaf. Eine Sirene heult.
Dass diese Angst nicht mehr ist, nur noch die Liebe. Ich lehne mich zurück ins Schotterbett, lasse den Regen mein Gesicht benetzen und warte.

© Rainer M. Scholz

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Kommentare zu diesem Text

Jack (33)
(26.10.10)
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 RainerMScholz meinte dazu am 26.10.10:
Ja, ich denke, es ist noch etwas anderes. Etwas, dass nicht so leicht beschrieben werden kann. Am aktuellen Beispiel Loki und Helmut Schmidt, denke ich, kann man sehen, dass das auch eine eingeschworene Lebensgemeinschaft sein kann über die simplen Blutsbande hinaus. Und was ist da schon simpel. Es ist etwas Geheimes, Eigenes. Das niemandem auf der Welt gehört als Loki und Helmut Schmidt. Und darüber Auskunft zu geben ist bestimmt nicht einfach, vielleicht unmöglich. Womöglich soll es auch nicht auskunftfähig sein. Dem muss man genügen, wenn man Hohe Ansprüche an sich stellt. Und an seine Lebenspartnerin.
Bewusst habe ich Sex ausgespart in der Geschichte. Sex ist Sex. Eine andere Geschichte. Keine unwichtige. Aber: wer erlebt schon - einmal abgesehen vom Kettenrauchen - eine Gnadenhochzeit.
Die Geschichte ist vor dem Ableben Loki Schmidts entstanden. Das ist nur eine Interpretierhilfe. Eine gute.
Grüße,
R.

 Dieter_Rotmund (18.04.20)
Maren -> Maaren ?
Nee, oder? Der Frauenname kann es nicht sein.

Ansonsten viel zu viele blumige Adjektive, Rainer, das kannst Du inzwischen besser.

 RainerMScholz antwortete darauf am 20.04.20:
Danke.

 Dieter_Rotmund schrieb daraufhin am 20.04.20:
Nun frage ich mich: Gibt es ein Maar, wo direkt eine Bahnlinie vorbei/darüberführt? Liegen diese Maare nicht immer recht abgelegen?

 RainerMScholz äußerte darauf am 22.04.20:
U-Bahn.

 Dieter_Rotmund ergänzte dazu am 22.04.20:
Ja, sicher. Und der Großflughafen um die Ecke.
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