Das Leben prägt das Wesen. Oder: Wenn ein Bart wächst.

Bild zum Thema Andere Welten

von  Fuchsiberlin

Unrasiert, mit einem Fünf Tage Bart, kauft er Brötchen beim Bäcker.
Was ein anderer denken könnte,  ist ihm in diesem Augenblick egal. Irgendjemand denkt so oder so genau das, was er denken will. Unabhängig davon, wie der andere von der Oberfläche her betrachtet wirkt.

Zuhause angekommen, starrt er minutenlang auf die schwarze Mattscheibe des Fernsehers im Off-Modus. Er wendet sich ab vom Tod des TV. Oder dem gewünschten Tod der Gedanken.

Nun nimmt er seine tägliche Dosis Antidepressiva zu sich. Auf dem Tisch wartet eine Entspannung vorgaukelnde Zigarettenpackung mitsamt Inhalt auf ihren Einsatz. Doch erst einmal beginnt er Fotos seiner Kindheit zu verbrennen. Aber die Bilder in seinem Kopf lassen sich nicht eliminieren.

Er geht zum Spiegel. Schaut in das stumme Echo seines Wesens hinein. Ballt die Faust. Zerstört den Spiegel. Seine Augen wandern auf seine blutenden Hände. Tränen vermischen sich mit dem roten Ergebnis seiner Wut. Blutige Tränen. Er stillt diese. Danach schaltet er sein Handy ab. Verschließt die Tür. Isoliert sich nach außen hin. Das Selbstmitleid poltert wortreich in seinen Gedanken.

Fand seine Geburt einst aus der Erfüllung eines schönen Traums statt? Oder bedeutete das Pressen aus dem Unterleib der Mutter einen Albtraum für (fast) alle Beteiligten? Er glaubt, dass er das Ergebnis eines „Elternunfalls“ ist. Wie kann etwas in einem Schatten wachsen, was doch viel an Sonnenlicht benötigt? Wie kann etwas erblühen, wenn das Wasser verwehrt wird? Können Babys glauben? Wenn ja, so muss er als Baby einen Glauben entwickelt haben, der dem „Leben“ ein „Über“ davor setzte.
Eine Andersgläubigkeit vieler Betroffener.

Die Eltern spielten ihre eigenen Melodien. Ließen diese eher nur für sich erklingen. Für die drei Kinder blieben traurige Tonreste übrig. Tragödien spielen sich oftmals hinter verschlossenen Türen ab. Ohne eine helfende Hand können diese tödlich enden. Für Kinder.

Zu lange wusste er nicht um seine Identität. Rückblickend betrachtet, war er oft nicht er selbst.
Gefühle und Gedanken verbarg er. Und beging, ohne es zu wollen und zu bemerken, einen Verrat an seinem (damals noch unergründlichen) Ich.

Als er in der Pubertät den Weg ohne seine geliebte Schwester gehen musste, wurde er gekauft und irgendwie auch verkauft. Selbstverkauf. Seine kindliche Naivität bezahlte er teuer.
Und andere, Erwachsene, bezahlten nicht "nur" für sein kindliches Wesen.
Sie rechtfertigten damit ihren Missbrauch an ihm.

Es drohte die Gefahr einer ewigen Fahrt auf dem Riesenrad: Ein Anfang ohne Ende.
Zwischen einem Alles oder Nichts verlor er mehr als "nur" seine Kindheit.

Er blieb für zwei Jahre in einer dunklen Sackgasse stecken. Nur die kurzen Momente der scheinbaren Bestätigung, Aufmerksamkeit, des scheinbaren Ernst Nehmens seines Wesens, der ihm entgegengebrachten Wärme, die er glaubte, beim fremden Erwachsenen zu spüren, ließen ihn als Kind/Jugendlicher den Horror danach überstehen. Er begann dann nur noch körperlich zu funktionieren.
Von der Seele getrennt.

Wenn ein Leben in den Abgrund abdriftet, und du Höhenangst verspürst, ist der Aufstieg mehr als schwer. Die Liebe rettete ihn, damals …
Doch mit den seelischen Folgen des Traumas lebt er heute, als Erwachsener, so gut es ihm möglich ist.

Er zündet sich eine Zigarette an. Schaut aus dem Fenster, während der Zigarettenqualm das Weite sucht.  Fragt sich, welches Leben sich hinter den Menschen, die er sieht, verbirgt.
Erlebtes, was jeden Einzelnen im Wesen prägt.


Anmerkung von Fuchsiberlin:

Die Brötchen blieben auf dem Tisch. Unberührt. Sie dürfen „leben“. Abstrakt.

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