Heimkehr

Short Story zum Thema Befreiung

von  AZU20

Arno Fröbel kam heim. Die Menschen seiner Heimatstadt jubelten. Sie freuten sich unbändig mit ihm und seiner kleinen Familie.
„Viele sind nie heimgekommen.“
„Was der Adenauer da geschafft hat.“
Arno Fröbel kam 1955 heim, nach 10 Jahren russischer Gefangenschaft.
„15 Jahre hätte ich noch gehabt.“
Keine Brennnesselbrühe mehr, keins von diesen raren Kartoffelstückchen in der dünnen Suppe.
„Ich bin frei. Keine Ketten mehr.“
Im Lager Friedland hat Trude auf ihn gewartet. Arno Fröbel kehrte heim. Schwerstarbeit im sibirischen Bergbau. Überall Maschinenpistolen.
„Trude schloss mich in die Arme. Sie weinte.“
Auch ich hatte Tränen in den Augen, meine Gefühle überwältigten mich, als wir ihn damals erwarteten.
  Arno Fröbel kam heim, ein Jahr nach der Weltmeisterschaft in der Schweiz.
„Wir haben davon im Radio gehört. Im Lager hatten wir keinen Fußball. Wir wären auch zu schwach gewesen zu spielen. Wir fielen abends todmüde auf die Maschendrahtmatratze, warfen die dünne Decke über uns. Mancher wachte am anderen Morgen nicht mehr auf.“  „Trude hat mich ganz fest gedrückt. Dann kam ein junges Mädchen auf mich zu, blickte mich unsicher an und fiel mir um den Hals.“
„Das ist Lisa, deine Tochter.“
  „Ein Drittel starb in den Lagern. Viele waren abends so schwach, dass sie vor dem Bett umkippten. Viele wurden schon 1949 entlassen und durften heimgehen. Ich musste bleiben. 25 Jahre Zwangsarbeit. Ich war am Boden zerstört. Warum gerade ich? Lisa. Mein Kind. Gezeugt beim letzten Heimaturlaub. Ich wusste nichts von ihr. Keine Briefe, keine Pakete. Vielen Russen in unserem Lager ging es auch nicht viel besser. Hin und wieder gaben uns die Wachen eine Flasche Schnaps. Damit kamen wir lange aus. Wir bauten uns ein Radio. So hörte ich, dass es in Deutschland wieder aufwärtsging. Und ich war nicht dabei. Ich wusste nicht, was aus meinem Heimatland wurde, wusste nicht, wie es in den Straßen und Gassen meiner Heimatstadt aussah, wusste nicht, wie es Gertrud ging, wusste nichts von dem Kind.“
  Sie hat ihm geschrieben, immer wieder. Sie erhielt keine Antwort. Sie schickte Pakete. Sie wusste nicht, ob sie ankamen.
„Ich dachte, ihr habt kein Papier oder ihr dürft nicht schreiben. Ich wusste nicht einmal, ob du noch lebst.“
„Leben konnte man das auch nicht nennen. Leben sieht anders aus. Verlorene Jahre. Eine harte, lange Schule. Doch ich wollte nicht in Sibirien sterben, wollte nicht in sibirischer Erde verscharrt werden. Ich fühlte mich trotz aller Schwäche, trotz aller Hoffnungslosigkeit stark genug zu überleben. Ich glaubte daran, irgendwann die Heimat wieder zu sehen.“
  Lisa nahm ihn in den Arm, hob den schäbigen Koffer auf und zog mit ihm los. Gertrud ließ sie gewähren. Sie fuhren nach Hause. Arno Fröbel kehrte heim.

  Arno Fröbel startete den steinigen Weg in sein neues Leben.
Nachbarn fragten ihn aus. Irgendwann stellten sie die Frage, die ihnen auf den Nägeln brannte.
„Warst du an den Verbrechen der Wehrmacht da im Osten beteiligt? Was habt ihr in Polen gemacht?
Arno war fassungslos.
„Ich habe gesehen, was drüben passiert ist. Doch traut ihr mir zu, dass ich da mitgemacht habe? Glaubt ihr, ich habe an den Gruben gestanden? Ich war Soldat, kein Mörder.“
Er wusste nicht, ob die Menschen ihm glaubten. Er sah sie an. Er sah die an, die schon lange wieder zu Hause waren, die nie in Gefangenschaft waren. Er sah die an, die sich gedrückt hatten, die unabkömmlich waren, wie sie das nannten. Sie waren schon lange wieder in der Heimat oder hatten sie nie verlassen. Er hatte die Knochen hingehalten. Er hatte in Sibirien gelitten, während die sich schon wieder eine Existenz aufgebaut hatten. Was wussten die schon? Sie waren nie an der Ostfront, sie hatten Glück, er hatte Pech gehabt.

  Und jetzt fragten sie ihn aus, nachdem sich der erste Jubel gelegt hatte. Jetzt rissen sie die kaum vernarbten Wunden wieder auf, wollten aus dem Opfer einen Täter machen. In diese Rolle wollten sie ihn drängen, dann wäre es für alle leichter. Sie waren stolz auf das, was sie erreicht hatten. Die Wirtschaft boomte. Das Leben wurde einfacher. Arno Fröbel störte da nur, denn das Opfer verdiente Mitleid, und dafür fehlte die Zeit. Als Täter hätte er eben seine gerechte Strafe verbüßt.
  Arno Fröbel spürte, dass er nicht dazugehört. Alles machte ihm Angst. Er fand sich in der Heimat nicht mehr zurecht. Die Fesseln waren immer noch, da, sie waren in seinem Kopf.

  „Gertrud, ich hatte keine Zeit dazu, ein neues Leben anzufangen. Und jetzt weiß ich nicht, wie das geht. Ich vegetierte in Sibirien dahin und holte Kohle aus der Erde. Oft mit bloßen Händen. Die Kälte war furchtbar. Und nun möchte ich ein neues, ein drittes Leben in meiner Heimat, möchte die Fesseln sprengen. Aber sie lassen mich nicht. Sie helfen mir nicht. Und allein schaffen wir beide es nicht.“
Arno Fröbel verstand die Fragen nicht. Arno Fröbel verstand die Frager nicht. Was wollten sie von ihm? Hatte er nicht genug gelitten? Diese Welt war ihm fremd. Seine Heimat war ihm fremd. Er war ein Fremder in seinem Heimatort. Seine Frau tröstete ihn, aber auch von ihr entfernte er sich von Tag zu Tag mehr.
„Warum lassen sie mich immer noch nicht in Ruhe? Warum hilft mir niemand?
Ein halbes Jahr später war Arno Fröbel tot.
„Gertrud, ich mache einen Spaziergang in den Wald am Hang. Dort habe ich als Kind so gern gespielt. Dort war lange Jahre meine eigentliche Heimat.“
„Komm früh genug zum Abendessen nach Hause. Lisa möchte danach ihre Freundin Ursula besuchen und dort übernachten.“
Arno nickte und ging aus dem Haus. Gertrud schaute ihm hinterher. Mit schweren Schritten ging er die Straße entlang. Arbeit hatte er immer noch nicht. Mit seinen Gedanken war er immer noch in Sibirien. Nachts wachte er oft auf, schweißgebadet. Trotzdem, er ließ sich zu sehr hängen. Gertrud wusste nicht mehr, wie sie ihm helfen sollte.
  Kurt Waldbröhl, ein Nachbar, sah ihn kommen und bog schnell in eine Querstraße ab.
„Der Fröbel, der schafft das hier nicht. Der hat in unserer Stadt keine Heimat mehr. Ich glaube immer noch, der hat ein schlechtes Gewissen.“
Kurt Waldbröhl war nicht im Krieg. Er war auf seinem Bauernhof unabkömmlich. Er hat keinen Finger für die paar Juden im Dorf gerührt. Einige von denen haben es ja nach Amerika geschafft, glaubte er. Aber er wusste es nicht genau. Er wusste nur, dass der Fröbel das nicht schafft.
„Aber der gibt sich ja auch keine Mühe.“

  Arno Fröbel stand unter der hohen Eiche und warf das Seil über einen Ast. Er prüfte die Schlinge und wickelte das untere Ende um den Stamm. Dann rollte er einen Holzklotz heran und stellte sich darauf. Ein letzter Gedanke an Gertrud und sein Kind.
„Es tut mir leid. Wer wird mich wohl finden?“
Der Holzklotz rollte zur Seite. Arno Fröbel verließ die Welt, die ihm keine Heimat mehr war. Die Fesseln fielen endlich von ihm ab.

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Kommentare zu diesem Text


 Martina (01.07.12)
Heimkehr im doppelten Sinne, eine Heimkehr allerdings, auf die man am Anfang noch nicht kam....Traurige Geschichte, aber verdammt gut geschrieben. Kompliment Armin! Lg Tina

 AZU20 meinte dazu am 01.07.12:
Dein Lob geht runter wie Butter, danke. Die Geschichte hat einen wahren Kern und wurde in der edition ALFA 7 veröffentlicht. LG

 Martina antwortete darauf am 01.07.12:
Das ist auch ein Muss für dieses Werk- die Veröffentlichung. Es gehört unter die Menschen....Der wahre Kern macht es natürlich noch trauriger....

 moonlighting schrieb daraufhin am 04.07.12:
Ausgezeichnet geschrieben.

LG
Moonlight

 AZU20 äußerte darauf am 04.07.12:
Ich danke Dir sehr für alles. LG

 Lluviagata (01.07.12)
Gänsehaut ... Aus der Sicht des Prot. geschrieben, und so versteht und akzeptiert man den Kummer

Das Gros an Zeitzeugen veringert sich immer mehr, bis zum Gran. Und dann? Dann gibt es nur noch Geschichten.

 AZU20 ergänzte dazu am 01.07.12:
Interessanter Kommentar. Danke für alles. LG
ichbinelvis1951 (64)
(01.07.12)
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 AZU20 meinte dazu am 01.07.12:
Danke, Klaus, du hast sicher recht. Einen schönen Sonntag noch. LG
BBA (45) meinte dazu am 01.07.12:
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ichbinelvis1951 (64) meinte dazu am 02.07.12:
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 franky (01.07.12)
Hi lieber Armin,

Deine Geschichte berührt mich zu tiefst. Großartig geschrieben. Weckt auch in mir einige Gedanken aus der Kriegszeit 40 45.

Herzliche Grüße

Franky

 AZU20 meinte dazu am 01.07.12:
Ja, ich hatte auch einen bestimmten Menschen in Erinnerung, der 1955 aus russischer Gefangenschaft zurückkam und es wirklich nicht schaffte. Vielen Dank und lG
magenta (65)
(01.07.12)
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 AZU20 meinte dazu am 01.07.12:
Danke für alles. LG
Lena (58)
(01.07.12)
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 AZU20 meinte dazu am 01.07.12:
Ich danke Dir fürs Lesen und den aufbauenden Kommentar. LG und einen schönen Abend

 Momo (01.07.12)
Sehr gut geschrieben!
Auch die Dialogführung ist dir gut gelungen.
Du triffst mit deinem Schreibstil genau den Ton, der es macht, dass diese Nachkriegsgeschichte unter die Haut geht.

Liebe Grüße
Momo

 AZU20 meinte dazu am 02.07.12:
Ich danke Dir sehr. LG
asche.und.zimt (24)
(01.07.12)
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wortverdreher (36) meinte dazu am 01.07.12:
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Jack (33) meinte dazu am 01.07.12:
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asche.und.zimt (24) meinte dazu am 01.07.12:
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 Prinky meinte dazu am 01.07.12:
Wehrmachtssoldat wurde mancher aus Begeisterung, mancher aus Größenwahn, aber Asche und Zimt ist einer jener Gutmenschen, der im Deutschen das Böse der Welt sieht. Ihm ist so wenig zu helfen wie den anderen Weltverbessereren in Deutschland. Hier ist die schlechte Heimstätte jener, die einfach nicht anders können als stets und zu jeder Zeit über das eigene Volk herfallen. Der Soldat, der Bürger, der sich den Nazis nicht mutig in den Weg stellte, und...ach ja, vergessen wir nicht die Bäcker, die die Wehrmachtssoldaten mit Brot versorgte...echt...aber ich sollte mich nicht aufregen. Armin, dir ist ein guter Text gelungen. Adenauer hat aufgrund seiner Tat, jener, meinen aufrichtigen Dank verdient, jederzeit!
Wie viele junge Menschen wurden in den Krieg geschickt, ob sie wollten oder nicht. Und Desertation halte ich im übrigen nicht für mutig, sondern feige. Man lässt seine Kameraden im Stich. Vielleicht hat man so große Angst, ja, aber im Endeffekt ist es eine feige Haltung, und gerade deshalb wird sie überall auf der Welt geahndet, nur nicht in Deutschland. HIER kriegen Deserteure natürlich ein Denkmal. Deutschland, so krank wie noch nie. Wer auf der Welt will so bescheuert wie wir werden?
(Antwort korrigiert am 01.07.2012)
asche.und.zimt (24) meinte dazu am 01.07.12:
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Jack (33) meinte dazu am 01.07.12:
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BBA (45) meinte dazu am 02.07.12:
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asche.und.zimt (24) meinte dazu am 02.07.12:
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BBA (45) meinte dazu am 02.07.12:
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asche.und.zimt (24) meinte dazu am 02.07.12:
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BBA (45) meinte dazu am 02.07.12:
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Al_Azif (34) meinte dazu am 02.07.12:
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BBA (45) meinte dazu am 02.07.12:
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Jack (33) meinte dazu am 02.07.12:
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 AZU20 meinte dazu am 02.07.12:
Ich habe eine Diskussion verursacht, die leider nicht immer sachlich bleibt. Ich weiß auch nicht, ob junge Leute wirklich beurteilen können, was damals vor sich ging. Der Mann, um den es hier geht, war mir persönlich bekannt. Ich kannte auch die, die "unabkömmlich" waren. Zwei ehemalige Soldaten kamen in meinem Heimatort so spät aus russischer Gefangenschaft zurück. Sie hatten es schwer und sind beide nachweislich nicht mit Halleluja in den Krieg gezogen oder an Verbrechen an der Zivilbevölkerung beteiligt. Ich war damals in der Mittelstufe. Wir haben die Dinge im Geschichtsunterricht aufgearbeitet und in einer Arbeitsgruppe auch mit den beiden Männern Gespräche geführt. Der Tod des einen ist uns sehr nahe gegangen.
Ich danke allen, die den Sinn meines Textes richtig verstanden haben. Ich werde mich nicht mehr äußern. LG
rochusthal (71)
(21.07.12)
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Graeculus (69)
(16.06.13)
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 AZU20 meinte dazu am 16.06.13:
Herzlichen Dank. Noch einen schönen Restsonntag. LG

 Dieter_Rotmund (23.10.19)
AZU, lass' dich nicht einlullen!
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