Vater

Anekdote zum Thema Einsamkeit

von  Leitmotivation

Mein Vater hat mich fast immer ungerecht behandelt. Nur manchmal ließ er mich weitestgehend in Ruhe. Das geschah aber nicht etwa aus Nettigkeit, sondern lediglich, weil es anstrengend ist, einen anderen Menschen die ganze Zeit hindurch schlecht zu behandeln. Wenn er müde war, beachtete er mich nicht oder sagte nur wenige Worte zu mir. Nein, er war dann keineswegs lieb, halt nur auch nicht direkt bösartig.
Hin und wieder, wenn ich ihn dann vorm Fernseher sitzen oder auf dem Balkon rauchen sah, stellte ich mir vor, dass er nun gerade dabei sei, sich zu bessern. Ich dachte, nun denkt er über alles nach und kommt zu dem Schluss, dass er mich all die Jahre ungerecht behandelt hat. Ihm wurde bewusst, wie er immer älter wurde und nun begann er, sich und sein Leben in Frage zu stellen. Es sei an der Zeit, nun etwas zu verändern und irgendwie alles wieder gutzumachen, was noch gutzumachen war. "Was hat der arme Junge mir denn getan? Das war nicht in Ordnung. "
Dann habe ich mir vorgestellt, dass er gleich vom Sofa aufstehen oder vom Balkon kommen würde, um mit mir zu reden. Er hätte sich dann sehr zögerlich verhalten und sein Feuerzeug nervös in den Händen herumgedreht. In die Augen hätte er mir nur sehr gelegentlich geschaut und während er mit mir spricht und um die passenden Worte ringt, steht er mit einer Schulter an die Wand gelehnt. Er hätte mich an einen kleinen Jungen erinnert, der mit seinem Ball gerade einen Blumentopf der Nachbarin zu Bruch gebracht hat und nun von der Mutter gezwungen wird, sich bei ihr zu entschuldigen.
Seine Entschuldigung wäre keine richtige Entschuldigung geworden, aber ich hätte verstanden, was er mir sagen wollte. Und es wäre okay gewesen.
Danach hätte er sich wieder vor den Fernseher gesetzt oder auf dem Balkon rauchend die gegenüberliegende Häuserfront angestarrt. Ich wäre in meinem Zimmer geblieben.
Dann, nach einer Stunde oder so, wäre ich hinaus auf den Flur gegangen und hätte mir meine Jacke übergezogen. Wie immer wäre mir sein Rücken zugewandt, und dann hätte ich gesagt, dass ich nun in den Supermarkt gehe und ob ich ihm irgendetwas mitbringen solle.

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Kommentare zu diesem Text


 AZU20 (17.11.12)
Es blieb leider wohl beim Wunsch. Ich kenne das. LG

 Vaga (17.11.12)
So, wie es Worte zu viel gibt, gibt es Worte zu wenig. Du schilderst die konjunktive Vermutung des kindlichen Protagonisten, wie einfach es wäre, eine langsam auseinanderfallende kleine Welt, durch die möglicherweise richtigen Worte zur richtigen Zeit, wieder heil zu machen. Gruß - Vaga.

 Dieter_Rotmund (17.11.12)
Nicht schlecht, aber das doch sehr umgangssprachliche "halt" würde ich rausnehmen...
Grundsätzlich krankt der Text daran, dass der Ich-Erzähler männlich ist. Das Empfinden, das er schildert, passt nämlich viel besser zu einer Tochter. Söhne denken anders.
mannemvorne (58) meinte dazu am 17.11.12:
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 Lluviagata antwortete darauf am 17.11.12:
Ja, wie denn? Das tät mich auch interessieren.
Llu ♥

 princess schrieb daraufhin am 17.11.12:
Na, das würde ich nun aber auch gerne wissen!

 Lluviagata (17.11.12)
Zumeist interessiert einen der Elternteile wirklich nicht, was wäre, wenn, weil Kinder immer zu funktionieren haben. Egal wie.

Es ist erschreckend sehen zu müssen, dass sich solche schlechten Charakterzüge von Generation zu Generation weitervererben.

Hier ist dir ein schwieriger Text, wobei ich besonders das Konjugieren meine, gut gelungen! Inhaltlich sowieso!

Liebe Grüße
Llu ♥

 EkkehartMittelberg (17.11.12)
Ein Abgleiten ins Kitschige hätte bei solch einem Text nahe gelegen. Aber es passiert dir nicht. Well done!

 princess (17.11.12)
Wenn ein Kind so viel Phantasie einsetzen muss, um sich in ein Leben eher bescheidener Freude zu träumen, dann bekomme ich eine Ahnung davon, wie übel die Realität aktuell aussehen mag. Insofern ist das ein Text, der sehr viel über das erzählt, was er verschweigt. Ich finde das gut gemacht.
Liebe Grüße, princess
AchterZwerg (65)
(17.11.12)
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 loslosch äußerte darauf am 17.11.12:
makaber genug, was ich vom verstorbenen nachbarn erfuhr: er hatte seinen sohn, der mit freundin knutschvergnügt dasaß, gebeten: kannst du mir einen kasten bier besorgen? - nein, ich bin eingebunden.

nach ner weile packte sich der vater einen leeren kasten und strebte zur garage.

sohnemann ruft hinterher: bring mir ne cola mit!

der verstorbene nachbar später zu mir: ich idiot hab ihm die cola beschafft.

schon klar, eine kontrapunktische story. lo
Menschenkind (29)
(03.12.12)
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 Leitmotivation ergänzte dazu am 03.12.12:
Ich lese Deine Anmerkungen immer gern. Du befasst Dich mit den Texten, auch, wenn sie Dir überhaupt nicht gefallen. Dein Kommentar zum ersten Satz ist richtig. Beim nochmaligen Durchlesen sind mir noch einige weitere Sätze aufgefallen, die nicht ganz ausgearbeitet wirken. Dies ist vor allem dem Umstand geschuldet, dass ich den Text ohne Hintergedanken geschrieben habe - und auch, ohne mich lange damit zu befassen. Ich könnte es mir als Teil eines längeren Textes vorstellen. Darin würde es dann wohl um eine zerrüttete Kindheit gehen, ein gestörtes Vater-Kind-Verhältnis etc. pp. Alles Bereiche, die mich nicht sonderlich interessieren und die mir auszuarbeiten daher die Geduld fehlt. Dennoch werde ich den Text bei Gelegenheit mal überarbeiten.

Ich habe es bisher nicht geschafft, einen längeren Text von Grass zu lesen und kann ihn daher kaum beurteilen. Kürzlich bin ich jedoch auf einen Artikel gestoßen, in dem er seinen jungen Autorenkollegen politisches Desinteresse vorwirft. Sie sollten sich politisch äußern und "nicht die Fehler der Weimarer Republik wiederholen und sich in privater Distanz halten". Nichts langweilt mich mehr, als politische Kunst. Wohltuend war es da,  Gottfried Benn zuzuhören.
Menschenkind (29) meinte dazu am 03.12.12:
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KeinAutor (40) meinte dazu am 28.12.17:
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 Leitmotivation meinte dazu am 28.12.17:
Danke fuer Deinen Kommentar zu diesem fast schon alten Text. Es ist eigenartig, ihn noch einmal zu lesen. Ich frage mich: Habe ich das geschrieben?

 Alpha (03.12.12)
Puh. Gut, sehr gut.
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