Mauritius

Erzählung

von  Sanchina

Der riesengroße graue Hengst galoppierte frei, ungesattelt und ohne Reiter am Strand entlang. Der von der See her brausende Wind zerzauste ihm die Mähne und die sprühende Gischt hüllte ihn in eine nasse Wolke ein. Mit langen, wilden Sprüngen legte der Hengst seinen Weg zurück, warf seinen großen  Kopf in die Luft und wieherte, so laut er konnte.

Das nahe gelegene Städtchen Husum machte seinem Beinamen an diesem Tag wieder einmal alle Ehre. Die Westküste Schleswig-Holsteins hatte sich in Grau gehüllt: dunkelgrau der Unwetterhimmel, blaugrau die Nordsee, hellgrau Strand und Dünen. Darüber lag der transparent-graue Schleier des Dunstes.

Und auch der riesengroße Hengst war grau. Die wenigen Spaziergänger, die sich an den Strand wagten, wichen dem Furcht erregenden Tier in weiten Bögen aus.

Der Hengst erreichte bald den kleinen Fischerhafen. Die Männer waren damit beschäftigt, ihre Netze zu kontrollieren. Einer rief: "Da kommt dein Gaul!"

Daraufhin erschien ein kleiner Junge - er mochte ungefähr sechs Jahre alt sein - und rannte dem Hengst entgegen. Der beugte seinen mächtigen Kopf nach unten und berührte das Gesicht des  Jungen, als ob er ihn küssen wollte. Dann tänzelte er zu der alten Fischerhütte hin. Dort blieb er stehen.

Ein Fischer brachte eine Leiter und lehnte sie an den Hengst, so dass der Junge mühelos auf den Rücken des Pferdes klettern konnte. Dort machte er es sich bequem, indem er sich  bäuchlings auf den Hals des Pferdes legte und sich an dessen Mähne klammerte. Seine Beinchen winkelte er an und legte die kleinen Füße auf den Pferderücken. In dieser durchaus bequemen Haltung ritt der kleine Junge immer.

Nun setzte sich der Hengst behutsam wieder in Bewegung. Vorsichtig setzte er Huf vor Huf in die Richtung, aus der er gekommen war. Er mied jetzt den Meeressaum und lief weiter oben, wo der Strand einigermaßen trocken war.

Der Platz auf dem breiten Pferderücken war weich, warm, behaglich und nur ganz  wenig schaukelig. Der Junge schlief beinahe ein.

Am Horizont ballten sich fast schwarze Wolkenmassen zusammen. Der Hengst beschleunigte ein wenig seinen Schritt. Von Zeit zu Zeit verfiel er sogar in einen sanften Trab. Der Sturm wurde stärker.

Als der Hengst mit seinem kleinen Reiter den Hof erreichte, setzte mit plötzlicher Heftigkeit der Regen ein und durchnässte alles, was er erreichte.

Mit einem lauten Wiehern rief der Hengst die Bäuerin aus dem Haus, die sogleich ihren triefenden Jungen vom Pferd zog  und ihm die nasse Kleidung abstreifte. "Ich  bring Mauritius in den Stall, dann komme ich zum Gute-Nacht-Sagen", versprach sie.

Im Stall standen Äpfel und Karotten für den Hengst bereit. Genüsslich matschte er in den Eimern herum und verschlang gierig alles, was ihm dargeboten wurde. Anschließend machte er sich noch über das frische Heu her. Die Bäuerin breitete eine Wolldecke über den nassen Pferderücken und dankte dem Tier dafür, dass sie ihm ihren kleinen Jungen so unbesorgt überlassen konnte.

Als sie endlich an das Bettchen ihres kleinen Jungen trat, war dieser schon längst eingeschlafen.


Anmerkung von Sanchina:

Der Heilige Mauritius ist u.a. der Schutzpatron der Pferde

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Kommentare zu diesem Text

janna (66)
(22.10.13)
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 Sanchina meinte dazu am 23.10.13:
Danke, janna! Über dein Lob freu ich mich besonders.
Gruß, Barbara

 AZU20 (23.10.13)
Schöne Geschichte. LG
Anne (56)
(23.10.13)
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 Jorge (30.01.14)
Trotz des Unwetters eine heile Welt für Mensch und Tier.
Die Erzählung eignet sich zum Vorlesen für junge und alte Reiter.
LG Jorge
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