Waldi

Erzählung zum Thema Gewalt

von  Sanchina

Es war schon nach Mitternacht, als ich das Haus verließ. Es war noch kalt, obwohl am Tag die ersten Frühlingsblümchen ihre Blüten öffneten. In der Straße gab es eine Discothek, die jedoch – nachdem sich Anwohner jahrelang beschwert hatten – so schallgedämmt war, dass kein Laut auf die Straße drang. Ich sah nur das bunte Licht durch die Türritzen blitzen. Ich wollte nicht hinein gehen; danach war mir nicht zumute.

Ich musste daran denken, wie meine Eltern früher immer betrunken aus der Disco oder aus einer Kneipe nach Hause gekommen waren. Dann war nichts mehr vor ihnen sicher gewesen. Wir Kinder hatten uns dann immer in den Betten verkrochen und schlafend gestellt.

Es ist schlimm, das Kind alkoholkranker Eltern zu sein. Der schlimmste Tag war der, als Vater im Suff Waldi erschlug. Der Hund war damals zwölf Jahre alt, so alt wie ich. Und ich war mit ihm aufgewachsen.

Ich war im Bett, als es geschah. Erst brüllten sich die Eltern an. Dann hörte ich Poltern und Schlagen. Ich dachte, sie prügeln sich bloß und zog mir die Bettdecke über den Kopf. Freilich hörte ich Waldi jaulen. Aber ich dachte doch nicht, dass sich mein Vater an dem kleinen Hund vergreift.

Am nächsten Tag fand ich ihn. Leblos lag er auf dem unteren Treppenabsatz. Sein Fell war nass und voller Blut. Sein Körperchen war schon erkaltet, die haselnussbraunen Augen weit geöffnet. Waldi war tot.

Ich lief ins Zimmer meiner großen Schwester und rüttele sie wach. „Komm schnell!“ rief ich, „Waldi ist tot!“ Birgit kam sofort mit hinunter. Sie versuchte, Waldis Augen zuzudrücken, was ihr aber nicht gelang.

Schluchzend fielen wir uns in die Arme und weinten laut um unseren Hund. Davon wurden unsere Eltern wach. Unser Vater erschien auf der Treppe. Er hatte sich eilig die stinkenden Kleider vom Vortag angezogen. Vielleicht hatte er sich  in der Nacht auch gar nicht ausgezogen. In den Händen hielt er eine alte Hundedecke, die er über Waldi warf.

„Der Hund ist heute nacht gestorben,“ teilte er uns mit. „Hört auf zu plärren!“

Furchtsam verzogen wir uns in Birgits Zimmer. Wir wussten, dass unser Vater Waldi erschlagen hatte. Wir hatten doch den Lärm gehört.

Unsere Mutter behauptete später, Waldi habe gebissen. Aber das glaubten wir ihr nicht. Waldi wurde an einem kalten Februartag im Garten hinter dem Haus verscharrt. Genau elf Jahre war das jetzt her, und es tat mir immer noch weh.

Ich lebte inzwischen in einer eigenen kleinen Wohnung am anderen Ende der Stadt, weit entfernt von meinen Eltern, die noch lebten. Ich besuchte sie nur selten. Birgit war schon lange in Frankreich.

Daran musste ich denken, als ich an der Discothek vorbei kam. Aus dem Seiteneingang traten zwei Männer auf die Straße. Sie trennten sich und gingen in verschiedene Richtungen. Einer kam direkt auf mich zu.

In meinem Kopf dröhnte und polterte es. Ich stellte mir vor, dass ich mich auf Waldi warf, um ihn zu schützen.

„Na, du Süße, so spät noch unterwegs? Und ganz allein?“ quatschte mich der Kerl an. Er roch nach Rauch und Alkohol. Der Schlag traf nicht Waldi, sondern mich. Ich sah meinen Vater vor mir stehen und hasste ihn jetzt abgrundtief. Da zückte ich das Klappmesser, das ich immer bei mir trug, um mich verteidigen zu können, und stieß es dem Kerl mit aller Kraft, die ich aufbieten konnte, tief in den Unterleib. Eine Blutfontäne spritzte mir entgegen. Aufschreiend ging der Typ zu Boden.

Ich weiß nicht, woher plötzlich all die Leute her gekommen waren. Ein Rettungswagen traf ein, gefolgt von Polizei und einem zweiten Rettungsfahrzeug. Zu spät. Waldi war tot.

Es war doch Notwehr! Nicht wahr, es war Notwehr? Jedenfalls glaubten mir die Polizisten, dass es Notwehr gewesen war. Ich hatte etwas von Lärm und Schlägen gestammelt. Und dann hatte da doch tatsächlich ein dicker Stock herum gelegen. Die Sanitäter kümmerten sich nun um mich. Der Leichnam wurde fortgeschafft.

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Kommentare zu diesem Text

Zweifler (62)
(21.10.13)
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 franky (27.12.13)
Hi lieber Sonnenschein,

Das hast du so toll erzählt und fein miteinander verwoben.
Ein spannendes, reifes Werk.

Liebe Grüße

Von Franky

 Ganna (24.01.14)
...Dein Text macht mich betroffen...die Verstrickungen aufzeigen, in denen Menschen sich befinden, die Gewalttaten begehen, auf der Grundlage eigenen Erlebens...das ist Dir gelungen...

liebe Grüße
Ganna
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