Der neue König (2)

Erzählung

von  autoralexanderschwarz

Der neue König
        (2009)

Teil 2


„Im Wald der Fiktionen“


Das neunte Kapitel

Er hatte von jeher Beerdigungen gehasst, so wie er zahlreiche Rituale hasste, die allein aus Konvention, nicht aus persönlichem Willen heraus begründet waren. Es war nicht nur der Geist der katholischen und somit der schuldbeladenen, heuchlerischen Kirche, der über allem schwebte, es war wohl auch der Versuch, eines der privatesten menschlichen Gefühle – die Trauer – in die Öffentlichkeit zu zerren. Gleichzeitig aber war es auch die Erinnerung an ähnlich trostlose, schmerzhafte Ereignisse, die mit ihm hinter dem Sarg  hermarschierte. Je älter er wurde, desto zahlreicher waren diese Feiern geworden, bei denen man schweigend und in Schwarz in einer Reihe schritt, bei denen alle bemüht waren vollständig ernst zu schauen und wohl auch zu denken. Obwohl Gérard sein bester – vielleicht einziger – Freund gewesen war, machte er sich keine Illusionen darüber, dass sich dieser Satz auch einfach herumdrehen ließ. Im Gegensatz zu ihm war Gérard der Knotenpunkt zahlreicher sozialer Beziehungen und Netzwerke gewesen und so war auch jene traurige, trauernde Gesellschaft eine Ansammlung der verschiedensten Menschen, die um ihn herum Gruppen bildeten. Verschiedene Menschen, Geschichten und Erinnerungen, die doch vor dem Tod alle gleich, alle endlich waren, Fleisch, Blut und Muskelmasse, egal in welchem Schnitt die Anzüge darüber geschneidert waren.
Stockkonservative Funktionäre und Wirtschaftler, Geisteswissenschaftler, Kommunarden und Globalisierungskritiker, einträchtig nebeneinander, zusammengehalten durch einen feierlichen Ernst, der erst verschwinden würde, wenn der Sarg im Boden versunken war. Er wollte, dass dieses Ereignis vorbeiging, fürchtete jegliche Abweichung von der starren Konvention, die er gleichzeitig hasste. Er fürchtete feierliche – und somit heuchlerische – Reden, in denen sich andächtige Momente mit jenen nostalgischen Passagen abwechselten, in denen die Zuhörer angehalten waren zu lachen, obwohl es hier nichts zu lachen gab, ebenso wie er einen möglichen Eklat fürchtete, wenn einer der vielen Revolutionäre die Beerdigung als Plattform für seine Propaganda benutzen würde. „Der Kampf geht weiter, Gérard“ und die hochgereckte Faust über dem offenen Grab. All dies fürchtete und hasste er, aber am meisten ängstigte ihn Giselle und die Frage, ob er ihr gegenüber die Fassung bewahren konnte. Er hasste Beerdigungen, hasste diesen Ort und doch war er da, weil er Giselle diese Bitte nicht hatte abschlagen können. Sein erster Impuls war Angst und Ablehnung gewesen, doch er fühlte sich auch schuldig, durchschaute die Zusammenhänge noch nicht vollständig, aber der Gedanke, dass Gérards Tod irgendwie mit ihm und seinem Schreiben zusammenhing, ließ sich einfach nicht vertreiben. „Ich nenne dich Gérard“, hatte der neue König gesagt, kurz bevor, vielleicht genau in dem Moment, in dem dieser gestorben war. Sein Blick glitt über die fremden Gesichter, die allesamt auf den Sarg gerichtet waren, Menschen, die in der Kirche ihre Lippen stumm zu den christlichen Liedern bewegt hatten, während sie unter den Gesangbuchablagen hektisch Nachrichten in ihre Mobiltelefone getippt, ihre Emails oder Börsenkurse gecheckt hatten.
Er glaubte nicht an den Heiligen Geist, die Unsterblichkeit der – ausgerechnet – menschlichen Seele, er bezweifelte, dass Gérard dieses triste Treiben von einer freischwebenden Wolke aus beobachtete, ebenso wie er bezweifelte, dass es ihm gefallen hätte, falls es denn solche Wolken gab. Er war nur dort, weil er sich schuldig fühlte, dort, weil er es Giselle nicht hatte abschlagen können, dachte er, während er hinter dem Sarg herschritt. Das Schlimmste war, dass bei all dieser rituellen Feierlichkeit gar keine Zeit blieb, um wirklich an Gérard zu denken, jenen Gérard, der sein bester Freund gewesen war, der sein Kaminzimmer als Insel im Strom der Zeit bezeichnet hatte. Die Leiche hinter den dünnen Holzwänden war zu präsent, um an den realen Menschen zu denken, der sie einmal gewesen war. Er hasste Beerdigungen.
Sein Blick suchte und fand Giselle, die schwarz und verschleiert weiter vorne direkt hinter den ewig gleichen Sargträgern des örtlichen Bestattungsunternehmens herschritt, jenen breiten Schultern, die auch Luisas Sarg getragen und mit professioneller Gleichmäßigkeit in die Tiefe hinabgelassen hatten. Bei ihrer Beerdigung waren es weniger Menschen gewesen, als Todesursache war ein Unfall in die formelle Sterbeurkunde eingetragen worden, ein Unfall, wegen ihrer Familie, damit ihre Gebeine in geweihtem Boden verfaulen konnten.
Memento mori. Die Prozession schlängelte sich bereits durch die engen Friedhofsgänge, bald würden sie das Grab erreichen, wieder dachte er an den neuen König.

Die Prozession stoppte. Der Priester sprach erneut feierliche Worte, feierliche Worte mit feierlicher Stimme, dass Gérard ihnen allen fehlen würde, dass er zwar ein Freigeist, dennoch ein Idealist, ein guter Mensch gewesen sei. Er konnte den Worten nicht folgen, kannte sie, auch Luisa war von diesem Priester als Idealist und guter Mensch bezeichnet worden, kein Wort über das Kind, das sie ermordet hatte und das mit ihr in die Tiefe gelassen wurde. Es war windig, und eine herrenlose Plastiktüte, in der wohl jemand Grablichte oder Gartenwerkzeug an diesen Ort getragen hatte, wurde in die Luft emporgewirbelt, ein wenig Sinnbild für die aufsteigende Seele, doch sie überwand die Schwerkraft nicht, stieg, hielt inne und stürzte, einige Gänge weiter, berührte den Boden, blieb liegen, neben einer gebeugten Gestalt, die in einem Rollstuhl saß und vor einem anderen Grab verharrte. Luisas Grab. Seine Konzentration, die in so viele Richtungen verteilt war, sammelte sich in dieser gebeugten Gestalt, hängende Knochen, regungslos, vor Luisas Grab. Er kannte niemanden mit einer derartigen Behinderung, der ihr nahegestanden hatte und es war nicht nur diese Tatsache, eine dunkle Ahnung umwehte die Gestalt im Rollstuhl, zu dunkel, um sie aufzulösen, eine Leerstelle.
Erst durch die Bewegung, die in die Trauergesellschaft kam, wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Nach und nach traten die Gäste vor, warfen etwas hinunter in das schmutzige Loch, traten dann zu Giselle, um ihr das Beileid auszusprechen. Dies war der Moment, vor dem er sich gefürchtet hatte, der Moment, in dem er ihr in die Augen blicken musste und für kurze Zeit vergaß er die fremde Gestalt, den Rollstuhlfahrer vor Luisas Grab. Blume um Blume fiel hinab in die Tiefe, jene, die keine hatten, begnügten sich mit einer Handvoll Erde, Staub zu Staub, dann war er an der Reihe, trat vor, blickte in ihre verquollenen Augen.
„Es tut mir leid, Giselle“, unpassende Worte, die er bereits einmal, am Telefon, ausgesprochen hatte, unpassend weil nutzlos, aber immer noch besser, als „Mein Beileid“. Sie blickte zurück, nicht ohne Wärme, suchte etwas in seinem Blick und er drückte ihre bleiche weiße Hand, eine Hand, die irgendwie tot aussah.
Er war Schriftsteller, aber ihm fiel nichts ein, nichts, das Trost hätte spenden können, und er war froh, als ihn die stumme Masse der Besucher weiter schob, weg von ihr, an den Rand.
Als er sich umblickte, war der Rollstuhlfahrer verschwunden. Luisas Grab lag unberührt und verlassen da, einige Gänge weiter, die Wolken schoben sich beiseite, die Sonne fand Platz, um diesen Ort mit Licht zu füllen. Er wartete einen günstigen Moment ab, in dem die Aufmerksamkeit sich auf die Totengräber konzentrierte, die feierlich – und somit heuchlerisch –
den Sarg nun mit dicken schlammigen Erdbrocken bedeckten, dann wandte er sich ab, kehrte der Trauergesellschaft den Rücken zu und drehte sich nicht um, bis er das Friedhofstor erreicht hatte und erst, als er auf die Straße trat, war da wirkliche Trauer und er weinte auf dem Heimweg um den Freund, den einzigen Freund, den er nun für immer verloren hatte. 

Als er am nächsten Morgen vor einer neuen – und somit leeren – Seite seines Notizbuchs im Kaminzimmer saß, den Bleistift gespitzt, verharrte, wie ein Raubtier, das sich auf den Sprung vorbereitete, dachte er, dass er vielleicht niemals zurückkehren würde, dass das, was er als Realität kennengelernt hatte, vielleicht unwiderruflich zu Ende ging, wenn er diesem Weg folgte. Er ahnte, dass es eine ganz andere Macht war, die ihn an das Notizbuch fesseln würde, er ahnte, dass es vielleicht nicht möglich sein würde, sich aus den Fängen der Fiktionalität zu befreien, wenn er die Geschichte nicht nur schrieb, sondern selbst Teil von ihr wurde, aber es gab auch nicht viel, das ihn in dieser Welt hielt, während dort, hinter dem Bewusstsein, die Erinnerung an seine Frau, an Luisas Lächeln, an sein Kind lebte. Ein letztes Mal suchte er nach einem Grund, der ihn zurückhielt, dann senkte er den Stift auf die leere Seite.   

„Der Brunnen war nichts als eine Vorstellung, eine Metapher, die Imagination eines befreundeten Schriftstellers gewesen, doch weil er an sie geglaubt, weil der Brunnen für ihn Symbol und Bedeutung geworden war, war es der einzige Zugang zu der Welt des neuen Königs und zu seinen verlorenen Erinnerungen. Mit einem Mal stand er dort, wo er schon als Jugendlicher mit rohen ungeübten Bewegungen, später mit Eleganz, Erfahrung und Geschick den Eimer emporgezogen hatte. Hinter ihm lag das Dorf, das für die Realität stand und er würde hinunter müssen, dorthin, wo das Unbewusste regierte, dorthin, woher die Ideen kamen. Er betrachtete den Platz, den er sich so oft vorgestellt hatte, die quaderförmigen moosbewachsenen Steine, ein altes Holzgestell, an dem das Seil baumelte, ein verwunschener Ort, der nur zum Betrachten, nie zum Betreten ersonnen worden war. Prüfend zog er an dem Seil und lauschte auf das leise Ächzen, mit dem das Holz antwortete, dachte, dass es sein Gewicht tragen würde. Dann fasste er das Seil fester und kletterte auf die Steine hinauf. Der letzte Blick galt dem Dorf, dann ging es langsam hinunter, immer wieder ein Stück hinab, das rohe Seil scheuerte an den Händen, die Armmuskeln schrieen empört unter dieser ungewohnten Belastung auf. Er versuchte den Schmerz zu ignorieren, der ihm wie eine Probe erschien, biss die Zähne zusammen, dachte noch, dass er nicht wusste, was wohl passieren würde, falls er stürzte, dann wurde es langsam dunkler um ihn herum, er verließ den Bereich, in den das Sonnenlicht noch vordringen konnte, irgendwann war da nur noch Schwärze um ihn herum, lediglich wenn er nach oben blickte, sah er den Ausgang als fernen Punkt, der mehr und mehr unerreichbar wurde.
Das Heraufziehen des Eimers war stets ein symbolischer Akt gewesen und auch, weil er dem Bereich entfloh, wo Zeit und Raum nach rationalen Gesetzen eingeteilt waren, wusste er nicht, wie tief es noch hinabgehen würde. Irgendwann kam der Punkt, an dem er merkte, dass die Kraft niemals ausreichen würde, um wieder nach oben zurückzukehren und verfiel für einige Momente in Panik. Wo und vor allem wer war er, was machte er hier, was war das Ziel, das unter ihm in der Finsternis lag? Hilflos hing er dort im Nirgendwo zwischen den Welten, wollte flüchten und wusste nicht wohin. Sein Atem beschleunigte sich, immer wieder tropften dicke Schweißperlen von seiner Stirn hinab in die Tiefe. Er zwang sich ruhig zu atmen, die Kontrolle zu behalten, dann beschloss er zu rasten. Der Brunnen war kein besonders breiter – wenn auch ein besonders tiefer – Schacht und so konnte er sich mit den Füßen recht gut an den glitschigen Steinen abstützen und zwischen Zehenspitzen und Rücken eine Position einnehmen, die zumindest zeitweise Entspannung bot und es ihm erlaubte, die inzwischen gefühllosen Arme auszuruhen. Mehrmals rief er seinen Namen in die Tiefe, um am Echo zu ermitteln, wie weit es wohl noch hinunterging, doch er verstand nichts von Schall und Reflexion und dann machte ihm seine eigene Stimme Angst, die von den Steinwänden unnatürlich verzerrt zurückgeworfen wurde. Wieder kämpfte er seine Angst nieder, mechanisch waren seine Bewegungen, als er sich weiter abseilte. Er hatte einen Rhythmus gefunden, in dem er sich kraftsparend immer wieder ein Stück weiter herabließ, immer wieder legte er kurze Pausen ein, lauschte auf sein hämmerndes Herz, und als er nach einer Weile noch einmal nach oben blickte, war der Zugang verschwunden. Wieder gewann die Angst die Oberhand, die sich nur überdecken, nicht mehr besiegen ließ, er suchte nach Erklärungen, die Schiefe des Tunnels, der Einbruch der Nacht dort draußen, dann wurde ihm bewusst, dass er jegliches Zeitgefühl verloren hatte, dachte, dass dies vielleicht der einzige Grund für diesen schweren Abstieg war, eine Art Probe, denn was eignete sich besser, um die Zeit zu vernichten, als konstante Finsternis und eine ewige, monotone Bewegungsabfolge. Ab diesem Punkt begann er zu zählen, addierte Zahl auf Zahl in dem Rhythmus, in dem seine Schuhsohlen die Wand berührten, addierte und sank, kam auf 378, als da auf einmal unter ihm kein Widerstand mehr war, seine Füße in vollständiger Leere pendelten und er mit dem Brustkorb hart gegen die hier endende Tunnelwand schlug. Unsichtbar für ihn mündete der Brunnenschacht in eine gewaltige Höhlendecke, die sich über einem verborgenen unterirdischen See spannte.

Erst als seine tastenden Füße auf die eiskalte Wasseroberfläche trafen, sanken und sanken ohne auf Grund zu stoßen, begriff er, dass er sich völlig falsche Vorstellungen von diesem Brunnen gemacht hatte, dass er sich immer einen schlammigen Brunnenboden, keinen unterirdischen See vorgestellt hatte, in dessen unberührte Stille der Eimer klatschend auf das Wasser schlug. Weiter ging es hinab, vorsichtig tastend, bis er, als ihm das Wasser bereits bis zum Hals stand, mit den Füßen auf den Eimer stieß. Wieder hielt er einen Moment lang den Atem an, verharrte in dieser Position, schaukelte sanft, fast ganz unter Wasser, an dem wohl kilometerlangen alten und dünnen Seil, stand auf dem Eimer, schwebte in der Kälte, wartete, wusste nicht worauf und dann, mit einem Schlag, gewann die Angst wieder die Oberhand, diesmal mächtiger und bestimmender als je zuvor, kalte Panik griff gemeinsam mit dem eiskalten Wasser nach seiner Kehle, drückte sie zu, er konnte nicht atmen, schluckte Wasser. Gerade auch durch das Bewusstsein, dass er in eine literarische, eine fiktionale Welt eingetaucht war, ließen sich bedrohliche Bilder von riesigen, blinden Fischen, die nur aus Zähnen, Stacheln und Muskelmasse bestanden, nicht vertreiben. Seine Fantasie ließ schlangenartige schwarze Riesenwürmer ihre Kreise um seine Füße ziehen, jeden Moment würden sie zubeißen und ihn in den kalten Tod ziehen, gewaltige Haie, riesige Wasserspinnen, die auf der Oberfläche lauerten und zwischen denen er, auf dem Eimer stehend, wie ein ahnungsloser dicker Köder hin und her pendelte. Alles was er in diesem Moment fühlte, war Panik, wilde, wogende Panik, die sich aber nicht in eine bestimmte Richtung oder in Bewegung umleiten ließ. Auf der einen Seite war da der unerbittliche Drang das Seil loszulassen und mit aller verbliebenen Kraft in eine Richtung zu schwimmen, doch gleichzeitig wusste er nicht, ob es überhaupt ein Ufer gab, und vor allem war dort die furchtbare Sorge, dass er das wilde unsichtbare Getier um ihn herum erst auf sich aufmerksam machen würde, wenn er seine Position verließ. Schließlich war es die Kälte, die ihn zwang sich zu bewegen, immer heftiger klapperten seine Zähne aufeinander und wurden als Echo millionenfach zurückgeworfen, so als machte sich dort in der Dunkelheit eine ganze Armee von klapprigen Skelettsoldaten für den Angriff bereit. Die plötzliche, klare und zweifelsfreie Erkenntnis, dass er in einigen Minuten sterben würde, wenn er nicht sofort etwas tat, vertrieb jeden anderen Gedanken. Zögernd und zitternd ließ er seine Kleidung in die Tiefe gleiten, die ihn sonst mit ihrem Gewicht unerbittlich nach unten gezogen hätte, schließlich, nahezu nackt, ließ er das Seil, die letzte Verbindung zur Realität, los, ergab sich der erbarmungslosen Kälte, wurde Teil von ihr, schwamm, schwebte im Nichts, wobei er versuchte möglichst wenige – unauffällige –
Bewegungen zu machen, versuchte die Beine so nah wie möglich an der Wasseroberfläche zu halten, ahnte schleimige feindliche Körper, die er jeden Moment mit seinen Zehen streifen würde. Wieder verging Zeit, die sich rückblickend nicht bestimmen ließ, vielleicht nur einige Minuten, vielleicht Stunden oder Tage, wieder verfiel er in einen Zustand der Mechanik, funktionierte einfach, paddelte mit den Füßen und streckte dabei die Hände tastend nach vorne,
um nicht unerwartet mit einem plötzlichen Hindernis – die Wasserspinnen! – zusammenzustoßen.

Die steilaufsteigende Steinwand, die sich über ihm zur Decke wölbte, war derartig dick mit Algen, Pilzen und anderen in der Dunkelheit nur ertastbaren schleimigen Substanzen überzogen, dass seine suchenden Hände einen guten Zentimeter eindrangen und er laut und erschreckt aufschrie, bevor er die Wand als Wand erkannte. Der Schock presste einen besonders dicken Schwall Blut wie einen harten Klumpen durch sein Herz, so dass ein heftiger Schmerz durch seinen Oberkörper schoss, während er ängstlich auf das Echo seines Schreies lauschte. Jetzt wussten sie, wo er war. Verzweiflung machte sich in ihm breit, der Gedanke aufzugeben und einfach zu versinken, als er die glatte Wand ertastete, die keine Vertiefung, keinen Halt bot.
Mit letzter Kraft tastete er sich nach rechts an ihr entlang, bis sie endlich in der Finsternis zurückwich und er sich mit einer finalen, empörenden Anstrengung aus dem Wasser ziehen konnte. Erst hier überwältigte ihn die Erschöpfung und das letzte, was er hörte, waren die raschen, näherkommenden Bewegungen der Ratten, die neugierig um diesen fremden Körper huschten, der in ihre Welt eingedrungen war.

Er träumte, dass er in seinem Ohrensessel saß und schrieb, den Kopf tief über das Notizbuch gebeugt, der Stift raste über das Papier und er sah dort geschrieben, wie er hinab in den Brunnen stieg, Zeile für Zeile seine Ängste, sein Entsetzen, das Seil, der Eimer, die kalte Wand, dann blickte er auf und sah einen fremden Mann in seinem Kaminzimmer sitzen, der ihn aus altmodischen Kleidern heraus misstrauisch beobachtete, ansonsten recht entspannt auf Luisas Rattansessel saß, vor ihm stand ein Namensschild, auf das mit einer nahezu manieristischen Handschrift der Name „Sigmund“ vermerkt war.

„Dies hier ist Traum und Deutung zugleich“, sagte Sigmund und dann:
„Sprechen Sie schon, Sie müssen alles sagen, selbst wenn Sie es für lächerlich, peinlich oder auch unwichtig halten. Geheimnisse sind bei mir sicher.“
Erst betrachtete er Sigmund nur verständnislos, dann begriff er dass dies eine Aufforderung war und dass er antworten musste.
„Sagen Sie einfach das, was Ihnen als erstes einfällt“, sagte Sigmund verständnisvoll und er fühlte sich verstanden, geborgen in dieser weichen Stimme, ja er entwickelte warme Gefühle für diesen couragierten Psychoanalytiker.
„Kaffee“, sagte er, weil es das erste war, das ihm einfiel, und dass ihn die Ausbeutung der Indios auf den Plantagen immer gestört habe.
Sigmund schien zunächst enttäuscht von dieser Antwort, er sah ihm an, dass er etwas anderes erwartet hatte, doch dann blitzte auf einmal Verstehen in seinen Augen auf und er fragte mit einem verschwörerischen Lächeln:„Wo ist der Kaffee?“, und weil er seine Sache besonders gut machen wollte, antwortete er: „In der Küche“, bevor ihm die Konsequenz dieser Antwort bewusst wurde.
„Was ist in der Küche?“, fragte Sigmund, ohne dass seine Stimme ihren hoffnungsvollen Klang verlor.
Was ist in der Küche? Er dachte über diese Frage nach und auf einmal stand er direkt vor der Küchentür, um ihn herum war es finster, Licht fiel nur durch den Türspalt am Boden.
„Öffnen Sie die Tür“, rief Sigmund, dessen Stimme nun so klang, als würde sie aus einer weiten Entfernung kommen. „Was ist in der Küche?“
Vorsichtig öffnete er die Tür zunächst nur einen Spalt, dann trat er ein.

Er war nicht darauf vorbereitet gewesen sich selbst zu begegnen, erschrak, als er sich selbst auf der kleinen Trittleiter stehen sah, erschrak über den Haken, den er behutsam in die Wand drehte.
„Ich bin in der Küche“, sagte er zu Sigmund und sah das Seil, das neben der kleinen Trittleiter auf der Arbeitsplatte lag. „Ich stehe auf der Trittleiter und drehe einen Haken in die Wand“, berichtete er Sigmund.
„Ist noch jemand im Raum?“, fragte Sigmund und erst da entdeckte er Luisa, die bewusstlos auf dem Küchenboden lag, den gerundeten Bauch in die Höhe gestreckt.
„Luisa liegt auf dem Boden, sie ist bewusstlos“, rief er und begriff noch immer nicht, bis er sah, wie er die Leiter hinabstieg und mit abwesendem Blick eine Schlinge in das Seil knotete, es am Haken befestigte. Stumm vor Schrecken starrte er sich an, wie er ihren schweren Körper hob, einige Male ächzte, die regungslose Gestalt wie ein schlafendes Kind auf der Arbeitsplatte absetzte, wie er die Schlinge um ihren Hals zuzog, wie er sie hinunterstieß.
„Ich habe sie umgebracht?“, fragte er Sigmund ungläubig und seine Beine begannen zu zittern.
„Das hier ist das Unbewusste“, sagte Sigmund, „es ist das, von dem Sie überzeugt sind, vielleicht ohne es zu wissen.“
„Ich habe sie umgebracht?“, fragte er noch einmal, weil er die Antwort nicht verstanden hatte.
„Warum glauben Sie, dass Sie sie umgebracht haben?“, fragte Sigmund, der sich nicht von seiner Reaktion aus der Ruhe bringen ließ, und er antwortete: „Wegen des Klimawandels“, weil es das erste war, was ihm einfiel.
„Klimawandel“, wiederholte er, weil er dachte, dass er dieses Wort erklären müsse. „Etwas hat sich verändert, ist abgekühlt“, stammelte er und auf einmal war Sigmund verschwunden und Luisa saß ihm gegenüber, saß, wie sie immer gesessen hatte auf ihrem Rattansessel, hatte die Füße auf den Couchtisch gelegt und sah ihn flehend an.
„Es ist nicht nur wegen des Kindes“, sagte sie. „Es ist auch wegen dir und mir, es kann einfach nicht funktionieren“, sagte sie weiter und er zuckte zusammen, weil er merkte, wie ihre Stimme sich hob, wie sie schriller wurde, so dass er die Eskalation bereits ahnen konnte.
„Du hast doch nur deine Bücher im Kopf, deine Literatur“ – er hasste es, wie sie Literatur
sagte – „du lebst doch längst in deiner eigenen Welt“, sagte sie schon lauter und presste einige Tränen hervor, die ihm platziert und heuchlerisch erschienen.
„Verstehst du das?“, rief sie, „wir bekommen ein Kind, du hast einen Sohn. Du schreibst und schreibst, für wen schreibst du? Niemand liest deine Bücher. Stapelweise kaufst du deine eigenen Bücher, stapelweise verschenkst du deine Bücher, stapelweise bleiben deine Bücher ungelesen, weil sich niemand, absolut niemand für deine traurigen, weltfremden Geschichten interessiert.“ Die letzten Worte schrie sie.
„Du weißt doch gar nicht mehr, wer du bist“, sagte sie nach einer Pause leiser, mitleidiger,
„du bist krank“, mit einem Hauch von Verachtung,
„ich verlasse dich“, mit einiger Genugtuung,
„es ist vorbei“, schon über die Schulter zurückgerufen, abschließend, unveränderlich.
„Was meint Luisa, wenn sie sagt, dass Sie krank sind?“, fragte Sigmund, der die Beine zwischenzeitlich übereinandergeschlagen hatte und an einem Glas trockenem Rotwein nippte.
„Was meinte Luisa?“
Plötzlich spürte er heftige Widerstände, zweifelte an der Integrität von Sigmund, zweifelte an dem Kaminzimmer, dem Ohrensessel, zweifelte an sich selbst.
„Das ist doch alles Fiktion“, schrie er, als auf einmal die Eieruhr in der Küche zu klingeln begann, Sigmund das halbvolle Glas mit einem Zug leerte, das Namensschild faltete und mit derselben Bewegung in einen schwarzen Aktenkoffer packte.
„Die Sitzung ist zu Ende“, sagte er noch, als er nach seinem Hut griff,
„wir werden uns wiedersehen“,
dann war er verschwunden.
 

Das zehnte Kapitel

Vor Kälte zitternd erwachte er, lag dort orientierungslos und verloren in der Finsternis, spürte den harten Steinboden in seinem Rücken und stieß mit einem lauten Schrei die Ratten beiseite, die, wohl zunächst probeweise seinen nackten Körper angeknabbert hatten. Er musste an Edgar Allan Poe und dessen Folterkammern denken, als er versuchte sich zu orientieren, lauschte auf ein unsichtbares Beil, das gnadenlos von der Decke hinabsank, doch da war nichts, kein Geräusch, der See lag wie erfroren unter ihm, die Ratten lauschten lautlos zurück, als er sich vorsichtig aufsetzte und den heftig zitternden eigenen Körper unter seinen Willen zwang. Es dauerte einige Momente, bis er in der Schwärze um sich herum die Höhle erkannte, die Erinnerung an den Brunnen  und das Wasser wachrufen konnte. Er hatte sich den Übergang nicht so schwierig vorgestellt, hatte gedacht, dass er am Seil baumelnd schon nach einigen Metern sanft in eine andere Realität hinübergleiten würde, dieser Ort, an dem er sich nun befand, war fremd, weder das eine noch das andere, nicht zuzuordnen, eine Art Zwischenwelt, aus der er einen Ausgang finden musste. Suchend blickte er sich um und glaubte etwas zu erkennen. Je mehr sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, desto mehr offenbarte sie: Die Schwärze war nicht gleichmäßig in der Höhle verteilt, es gab durchaus Licht, das an einigen Stellen von unten fahl durch die Wasseroberfläche brach. Der Felsvorsprung, auf dem er sich befand, wich nur einige Meter bis zu einer weiteren Wand zurück, existierte vielleicht nur, um ihn vor dem Ertrinken zu retten und obwohl er noch immer große Angst vor dem bewegungslosen Wasser hatte, wusste er, dass er nur schwimmend diesen Ort verlassen konnte, er würde tauchen müssen, dem Licht folgen, gegen die Strömung und Gedanken anschwimmen, die mit den verbrauchten Sonnenstrahlen in die Höhle gelangten. Sein Körper rebellierte, als er den Fuß erneut in das kalte Wasser hielt, wieder formte die Fantasie bösartige Fiktionen, die sich unter der Oberfläche tummelten, die ihn nur entkommen gelassen hatten, um ihn nun ein für alle Mal zu zerreißen. Wieder kämpfte er mit sich selbst, sog rasselnd die modrige Luft ein, dann war er im Wasser, ließ sich treiben, tauchte, schwamm dem Licht entgegen. Die Strömung war nicht besonders stark, träge flossen ihm vertraute wie fremde Bilder entgegen, Gedankenfetzen rieben sich aneinander, dahinter das Licht, das mit jedem Zug strahlender und geheimnisvoller wurde. Er sah den neuen König, sah wie er den Flüchtlingen die Hand auflegte, ihnen Namen gab, lauter Namen, die er kannte und die unheilvoll in seinem Kopf widerhallten. Er dachte, dass er schneller schwimmen musste, um das Schlimmste noch zu verhindern, dann ging es aufwärts, höher und höher, während die Luft knapp und die Bewegungen verzweifelter wurden. Mit einem erlösenden Schrei brach er durch die Wasseroberfläche, wusste, dass er am Ziel angekommen war, blickte sich suchend um und kroch dann an der kleinen Insel an Land, auf welcher der neue König mit seiner Mutter gesprochen hatte.

Obwohl er sich am Ziel wähnte, die Welt um sich herum als seine Schöpfung erkannte, verlor er mit einem Mal allen Mut. Ein kleiner verborgener Teil in ihm – der Skeptiker und Rationalist –
hatte daran gezweifelt, dass er jemals hier ankommen würde. Eben dieser Teil hatte ihm Mut gemacht, trotz allem Schrecken das Erlebte nicht ernst genommen. Verborgen aber stark war die Überzeugung gewesen, dass er kopfschüttelnd in seinem Ohrensessel erwachen würde. Dass er nun tatsächlich angekommen war, dass er die Luft atmete, die er erfunden hatte, war eine Tatsache, die sein durcheinandergewirbeltes Gehirn erst einmal begreifen musste. Ungläubig sah er sich auf dem schlammigen Eiland um, dann dachte er, dass es Wahnsinn gewesen war, dass er nackt und schutzlos hier lag, dem neuen König nichts entgegenzusetzen hatte, wenn dieser auftauchen würde, um den Rest seiner Persönlichkeit in sich aufzusaugen. Er versank in Selbstmitleid, dachte, dass er dies nicht verdient hatte, dass ihm kalt war, dass er nun hier erfrieren würde. Dann fiel ihm ein, dass er nicht in den gewohnten Kategorien denken durfte, dass diese Welt Fiktion – seine Fiktion –  war, dass er vielleicht mehr Macht besaß, als es den Anschein hatte. Er suchte im Mondlicht einige Zweige zusammen, allesamt nass und unbrauchbar, entsann sich, wie der neue König die Söldner hatte erblinden lassen, einfach, weil er es gedacht hatte. Er schichtete das Holz sorgsam aufeinander, sodass es jedem Pfadfinder zur Ehre gereicht hätte, dann dachte er, dass das Holz brennen würde, konzentrierte sich auf diesen Gedanken und starrte auf die nassen Zweige. Nichts passierte, nicht einmal ein Funken, und wieder waren da Zweifel, eine dumme Idee, Wahnsinn. Dann ein zweiter Versuch, Konzentration, die im Kopf schmerzte, Wärme, Funken, Prasseln, er stellte es sich genau vor, spürte einen heißen Luftzug, dann eine winzige blaue Flamme, die das Holz zischen ließ. Er sank hinunter auf den schlammigen Boden, betrachtete die kleine Flamme, die wie Hoffnung in seinem Herzen leuchtete, dachte, dass sie wachsen und das gesamte Holz erfassen würde, blies ihr im Geist Nahrung und Sauerstoff zu und sah, bestaunte, wie sie wuchs. Nach einigen Minuten brannte ein kleines Feuer, das nasse Holz brannte und tauchte die kleine Insel in flackerndes Licht. Während er die Hände über der Wärme rieb, begriff er die Mechanismen, dachte, dass er warme trockene Kleidung trug und als auch dies funktionierte, wünschte er sich ein Rebhuhn, das sich an einem Spieß über dem kleinen Feuer drehte. Die Macht, die er entdeckt hatte, der Geruch des brennenden Holzes, des bratenden Fleisches ließen ein Lächeln auf sein Gesicht treten, das, hätte es jemand beobachtet, als selig beschrieben werden konnte. Die Hilflosigkeit war überwunden, alles war eine Frage des Willens und dieser Wille musste noch wachsen, bis er dem neuen König gegenübertreten konnte. Er beschloss die Nacht über auf der Insel zu bleiben, sich zu stärken, vorzubereiten und während er dort saß und grübelte, hörte er nicht, wie sich das Wasser auftat, seine Mutter geräuschlos aus der Tiefe auftauchte, an das Ufer kroch und...“

Er kam zu sich und fand seinen Körper in einem hektischen, aufgeregten Zustand. Seine Hände fuhren über den Tisch und suchten den Bleistiftspitzer, der – jetzt sah er ihn – vom Tisch hinuntergefallen war. Staunend betrachtete er die letzten Sätze und ein wenig verspätet spürte er den Schmerz in seiner Hand, der entstanden sein musste, als er den Stift immer fester auf das Papier gedrückt hatte, um weiterschreiben zu können. Wäre der Spitzer nicht auf den Boden gefallen, hätte er wahrscheinlich in einer träumerischen Bewegung den Stift angespitzt, weitergeschrieben, bevor sein Bewusstsein in diesen Raum zurückgekehrt war. So war die Pause zu lang gewesen, das Band war gerissen, ratlos saß er in seinem Ohrensessel und betrachtete den Stumpf, der einmal ein Stift gewesen war. Dann dachte er an seine Mutter, las immer wieder den letzten Satz „an das Ufer kroch und…“, was verbarg sich hinter diesem „und“?
Er hatte nie wirklich verstanden, was damals passiert war, er war noch so jung gewesen und vielleicht auch gerade, weil das Erlebnis in der Küche so erschreckend, so grausam gewesen war, hatte es die Begleitumstände überlagert. Er fragte sich, ob da nicht vorher Anzeichen einer Krankheit gewesen waren, dachte, dass sie dagewesen sein mussten, versuchte sich zu erinnern, doch jede Erinnerung war nicht mehr als Fragment, Teil eines großen, unbegreiflichen Mosaiks, das sein Leben bildete. Ihm fielen einzelne Bilder, Situationen, Worte ein, doch es fehlten die verbindenden Teile, um sie zusammenzusetzen. Sein Verstand rotierte, versuchte Ordnung in diese Bilderflut zu bringen, dachte an den ersten Schultag, den ersten Schulranzen, die erste Brotdose und seine Mutter, die ihm diese mit einem gewissen Stolz übergab. Die Brotdose, ein Stück buntes Plastik und gleichzeitig das Gefühl des Verlustes, denn es war unmöglich ein gemeinsames Essen in dieses kleine traurige Gefäß einzupacken. Er dachte an den ersten Schulweg, das knirschende Tor, all die lachenden und spielenden Altersgenossen, die scheinbar diesen Schmerz der Trennung nicht fühlten, den tränenverschleierten Blick, mit dem er der Mutter hinterhergeblickt hatte, bis sie hinter einer Kurve verschwunden war. Irgendwo dort in dieser Zeit, vielleicht später, mussten Anzeichen für ihre Krankheit gewesen sein, Anzeichen, die er damals nicht verstehen konnte, als die Welt für ihn ganz selbstverständlich noch eine Scheibe gewesen war. Wieder suchte er in seinem Kopf, und da waren andere Erinnerungen, wie sie sich zu ihm hinunter über das Bett beugte, dieser mütterliche, vertraute Knoblauchatem, mit dem sie ihm einen Gutenachtkuss gab. „Schlaf, mein kleiner Prinz“, liebevoll gehauchte Worte, das Gefühl von Nähe, Geborgenheit, wenn sie ihn umarmte. „Schlaf, mein kleiner Prinz“, in dem Tonfall, in dem es nur Mütter, vielleicht nur seine Mutter sagen konnte. Wie ein Fotoalbum ging er seine Kindheitserinnerungen durch, bestaunte ihren Glanz und ihre Folgerichtigkeit, während er die ganze Zeit das Gefühl hatte etwas zu übersehen, was ganz offensichtlich zwischen den Zeilen stand. Während seine Gedanken in die Vergangenheit ausschweiften, griff seine Hand selbstherrlich nach dem Spitzer, hob ihn empor, während die andere den Stift wie einen Schlüssel in das kleine Loch führte. Mechanisch drehte er den Stift, dachte an ihren Geruch, während irgendwo in den Wirren des Unterbewusstseins der Eimer in dem Brunnen hinabfiel und klatschend auf dem verborgenen See aufschlug. Er dachte an Apfelkuchen, während die Hand bereits wieder zum Papier strebte, der Spitzer achtlos auf den Tisch fiel, dachte an die bunten Sommerkleider der Mutter, die vielen Farben, die miteinander um die Wette leuchteten.

„…und sich wie selbstverständlich zu ihm an das Feuer setzte, ihre knochigen Hände über den Flammen aneinanderrieb, das Kleid zerfetzt, mit Schlamm beschmiert, die Haare unordentlich und in nassen Strähnen durcheinander. Ihre Stimme war vertraut, vertraut und zugleich erschreckend fremd, als sie ihn aus leeren Augenhöhlen ansah und seinen Namen sagte.
„Mutter“, war das einzige Wort, das er hervorbrachte und es klang ebenso fremd, weil er es so lange Zeit nicht mehr ausgesprochen hatte.
„Ich sehe deine Krone“, sagte die Mutter „und deine stolze Kleidung ist mir direkt als erstes aufgefallen“, fuhr sie fort, während sie mit gierigen Blicken auf das Rebhuhn schielte, das von all dem ungerührt seine Kreise zwischen ihnen zog.
„Immer schon wusste ich, dass mein Kind zu etwas Besonderem geboren wurde, dass es nicht wie ich in Vergessenheit versinken wird. Du bist mein Sohn und du bist mein König. Du bist heimgekehrt, um zu unserm Besten dein Reich zu regieren.“
Fassungslos betrachtete er sie, dieses Zerrbild kindlicher Erinnerung, das wie ein fremdes Monster aus dem Sumpf gekrochen war und dem doch diese Stimme, diese Vertrautheit innewohnte.
„Ich kann nicht bleiben, Mutter“, sagte er stotternd und auf einmal erinnerte er sich, dass er auch als Kind gestottert hatte, erinnerte sich, wie seine Beine gezittert hatten, wenn er etwas Verbotenes getan und die Mutter ihn zur Rede gestellt hatte. Er erkannte ihren massigen, oftmals furchteinflößenden Körper in dem dünnen Gerippe wieder, das ihm dort gegenübersaß, er erinnerte sich, dass er sie als Kind zugleich geliebt und gefürchtet hatte.
„Du darfst nicht stottern“, rief die Mutter, „du darfst nicht stottern, damit man dich nicht…“
Er erahnte, er fühlte das Wort, das er vergessen hatte, an dem so viele andere Wörter, andere Erinnerungen hingen: „…für einen kleinen Schwächling hält.“
Das war es: Die Ambivalenz der Mutter, die zwei Seiten, der kleine Prinz und der kleine Schwächling. „Mutter. Rede nicht so mit mir“, sagte er und konnte jenen unterwürfigen und zugleich trotzigen Tonfall nicht vermeiden, in dem er ihr schon als Kind widersprochen hatte. Eine zaghafte Rebellion, die niemals von der Hoffnung auf Erfolg begleitet worden war.
„Mutter, was ist mit deinen Augen“, fragte er, noch immer fassungslos, überwältigt von ihrer dämonenhaften Anwesenheit. „Meine Augen“, schrie sie und lachte ohne zu lächeln, „ausgekratzt habe ich sie mir, wegen dir ausgekratzt, vor lauter Sorge ausgekratzt, alles Feuchte mit den Fingernägeln aus dem Schädel gerieben, weil ich nicht mehr weinen konnte, vertrocknet sind meine Augen, weil ich dich nicht mehr sehen konnte, deine schlaffe Gestalt, den hängenden Kopf, niemals, dachte ich damals, niemals wird er König werden und ich habe mich vor den Nachbarn verborgen, weil ich mich für dich geschämt habe.“
Gierig bohrte sie ihre langen Fingernägel in das Rebhuhn, riss mit modrigen Zahnstümpfen ein dickes Stück heraus, obwohl das Fleisch noch roh war, und ein dünner Blutfaden rann aus ihrem Mundwinkel.
„Immer musste man dich behüten“, schrie sie zwischen kleinen Fleischstückchen voll Verachtung in sein Gesicht, „immer etwas Besonderes, vorsichtig sein und dabei doch nichts als ein Bastard, wie du dich unter meinem Rock versteckt hast, vor allem Angst, das größer war als dein kleiner bleicher Körper.“ Zornig kaute sie das Fleisch und dann war ihre Stimme auf einmal versöhnlich, freilich ohne den herrschenden Klang zu verlieren.
„Aber nun ist alles gut“, flüsterte sie, „nun bist du König und auch wenn nicht mehr viel von mir übrig ist, wenn du dir sträflich lange Zeit gelassen hast, kann ich nun doch auch so etwas wie Stolz für dich empfinden.“
Er wartete, bis sie fertig gesprochen hatte, denn obwohl alles in ihm gegen diese Worte rebellierte – alles bis auf einen kleinen Jungen, der furchtsam sein Gesicht verbarg – hatte er nicht den Mut sie zu unterbrechen.
„Mutter, ich bin nur hier, weil ich etwas verloren habe, ich bin nur hier, weil ich etwas suche, das abhanden gekommen ist, ich kann hier nicht bleiben und ich will es nicht. Ich bin kein König, aber ich schreibe…“
Hier brachte ihn die Reaktion der Mutter aus dem Konzept, er verstummte und die Mutter, die ihre Aufmerksamkeit zunächst vollständig dem Rebhuhn zugewandt hatte und mit flinken Fingern kleine Knochen aus dessen Körper riss und zur Seite schleuderte zuckte zusammen. Das Wort „schreiben“ riss weckte ihre Aufmerksamkeit. Zornig blickte sie auf und obwohl es nur die leeren, verfallenen und verkrusteten Augenhöhlen waren, die ihm entgegenstarrten, ergänzte die Fantasie mühelos ihren vorwurfsvollen und zugleich verletzten,  leidenden Blick. Er erinnerte sich, wie sie ihren massigen, ihren riesigen Körper auf das Sofa geschleudert hatte und wie sie dort drachenhaft in sich zusammengerollt, Träne um Träne, Anklagen über ihn vergossen hatte. Er erinnerte sich, wie er dort stand und zwischen verletztem Stolz und der Ungeheuerlichkeit der zuckenden weinenden Mutter hin und hergerissen war, er erinnerte sich, wie er dann immer, immer und immer wieder den Stolz aufgegeben und ihre Nähe gesucht hatte, dass er zu ihr gegangen und sich in den überall weichen Körper gegraben hatte. Wie sie zusammen geweint, übereinander und untereinander geweint hatten, bis sie ihm schließlich den Kopf gestreichelt und „Mein kleiner Prinz“ gesagt hatte.
„Wie oft habe ich dir gesagt, dass dein Schreiben sinnlos ist, dass es schwach ist, schlecht, geradezu lächerlich. Ich habe dir gesagt, dass du deine Nase nicht hinter all diesen Büchern verstecken sollst, dass du etwas Anständiges, etwas Handfestes lernen sollst. So oft habe ich dir das gesagt“, schluchzte die Mutter. „Wer braucht all diese Gedanken?“, fragte die Mutter, und „Deine Schrift war immer schon so hässlich“, sagte die Mutter, „geschämt habe ich mich für deine Geschichten“, flüsterte die Mutter.
Wieder kämpfte er diesen Kampf und da war der Gedanke, dass vielleicht alles gut wäre, wenn er um das Feuer herumrutschen, dieses Gerippe an seine Brust pressen, weinen und um Entschuldigung bitten würde. Sie würde ihm verzeihen, so wie sie ihm immer verziehen hatte, würde ihm mit der Hand durch die Haare streichen und „Mein kleiner Prinz“ sagen. Er musste nur genau das tun, was sie wollte, ihren Willen hinter allem erahnen und ihm dann folgen. Doch die Zeit hatte es so gewollt, dass er mit dem Alter erwachsener, dass er stärker geworden war. Die Scham- und Schuldgefühle waren kleiner, der Stolz größer geworden und weil es sein Schreiben war, das sie angriff, konnte er sich ihr widersetzen.
„Nein“, sagte er, genau so wie der neue König, als er der Herausforderung getrotzt hatte.
„Nein“, sagte er noch einmal und wie dem neuen König gab ihm die Wiederholung Kraft.
Plötzlich sah er in der Mutter das, was sie war, nicht das, was sie zu sein schien, eine Herausforderung an seinen Willen, der Versuch ihn dort zu schwächen, wo er angreifbar war, er spürte den Atem des neuen Königs in seinem Nacken. Sie war sein Geschöpf, nicht seine Mutter.
„Du bist gar nicht meine Mutter“, stieß er entrüstet zwischen den Zähnen hervor, „du bist falsch, eine falsche Erinnerung.“
„Du bist ein Schwächling“, sagte sie, „ein kleiner Schwächling, den ich für einen König gehalten habe“, und er dachte, dass sie ein Trugbild war, nichts als ein böser Geist und dieser Gedanke half ihm, sich aus ihrem Bann zu befreien. Tastend griff seine Hand hinter sich und fand einen faustgroßen Stein, der vielleicht nur zu diesem Zweck seit dem Beginn der Geschichte dort gelegen hatte. Das kalte Gewicht gab ihm Halt, zornig pendelte der Arm hinter dem Rücken, eine Welle der Empörung überrollte ihn, kalter Hass auf diesen bösen Geist, der dort mit seinen Erinnerungen spielte. Mit einem einzigen Herzschlag war er über ihr, presste diesen hilflosen, verhungerten Scheinkörper mit den Beinen auf den Boden, holte mit dem Stein aus und ließ ihn zwischen Augenhöhlen, Schrei und Rebhuhn in die verhasste Erscheinung schlagen. Mit einem hohlen Knacken schlug Stein auf Knochen, ungefähr dort, wo der Haaransatz vor dem Alter zurückwich. Ein magischer Bann fasste die Hand wie beim Schreiben, führte sie in exakten Bahnen immer wieder in die Höhe und hinunter in das verhasste Gesicht, das dort Stück um Stück im Schlamm versank, dann war sie auf einmal verschwunden, nichts blieb zurück und mit ihr war jede Erinnerung an das Gespräch, an den Mord, an das Wort „kleiner Schwächling“ ausgelöscht, alles versank mit ihr im Nichts, löste sich auf, wie ein böser Alptraum, verschwand, während er sich erstaunt auf der kleinen Insel umblickte und dabei fragte, wo das Rebhuhn war, das sich einen Augenblick zuvor noch über dem Feuer gedreht hatte.     

Das elfte Kapitel

Als er die Insel verließ, dämmerte es. Ein neuer Morgen zog über dem kleinen See herauf und Licht erstrahlte, tausendfach gebrochen von der Wasseroberfläche, durch die er auf zu neuen Ufern schwamm. Er folgte dem Weg des neuen Königs und die Erinnerung führte ihn in den Wald, in die Richtung, in der er ihn vermutete. Rasch schritt er aus, erwartete jeden Moment die Straße durch das Unterholz schimmern zu sehen, doch stattdessen veränderte sich der Wald, wurde dichter, undurchlässiger. Er hatte sich – ebenso wie bei dem Brunnenschacht –  vollkommen falsche Vorstellungen von diesem Ort gemacht, dachte er, als er nicht mehr sicher war, dass der Wald tatsächlich ein Wald war. In seiner Geschichte war die Straße der zentrale Ort der Handlung gewesen, der Wald nicht viel mehr als Kulisse, einfach, weil Straßen nicht im Nichts verliefen und weil die Bäume ihm geeignet erschienen waren, um Sicht und Fantasie des Lesers nach links und nach rechts hin zu begrenzen.
Er war sich nicht einmal mehr sicher, ob der Wald von Anfang an Teil der Geschichte gewesen war oder ob er mit der Genesis des neuen Königs zusammenhing. Zumindest war es nicht sein Wald, waren es nicht seine Gedanken, die ihn immer fremder umfingen. Die Fremdheit war es auch vor allem, die ihm Angst machte. So seltsam auch der Abstieg durch den Brunnen, die unterirdische Höhle, sein Auftauchen auf der Insel gewesen waren, er hatte diese Orte als Produkte seiner Fantasie erkannt und akzeptiert, sie waren ihm trotz aller Ängste vertraut gewesen. Dieser Wald war anders. Er kannte jene alte Weisheit, nach welcher der Künstler bei der Schaffung eines Bildes immer nur auf Formen zurückgreifen konnte, die er kannte, und selbst, wenn er sie verfremdete, neu kombinierte oder auftrennte, war ihr Ursprung immer etwas Vertrautes, Bewusstes, doch dieser Grundsatz schien hier außer Kraft gesetzt. Die düstere Stimmung, die ihn umfing, hatte etwas durchgängig Fremdes, hatte nicht im Entferntesten etwas mit dem zu tun, was er sich unter einem Wald vorstellte. In seinen Erzählungen und Romanen waren oft Wälder aufgetaucht, oft Kulisse des Geschehens gewesen, und wenn er über einen Wald geschrieben hatte, war er immer nach bestimmten Prinzipien vorgegangen, hatte alte, knorrige Äste beschrieben, dichte Blätterwände, Sonnenstrahlen, die sich durch das Blätterdach verirrten, zumeist eine ruhige, gleichzeitig spannende Grundstimmung. So sehr er den Wald auch verfremdete, er blieb immer Wald, eine Ansammlung von Bäumen, doch aus diesem Wald, durch den er nun schritt, schien alles entfernt zu sein, was ihm sonst an Wäldern aufgefallen war. Der Boden war nicht trocken, keine Äste knackten unter seinen Füßen, der Untergrund war weich, schlammig und nachgiebig, ein einziger Morast, der nur widerwillig seine Füße mit schmatzenden Geräuschen freigab. Kein Lichtstrahl brach durch das Unterholz, es war fast vollständig dunkel, aber trotzdem konnte er in einem begrenzten Umfang sehen, ohne jedoch sagen zu können, woher das Licht kam. Er schritt durch eine surreale, entfremdete Welt, die ihm jeden Schritt schwer machte. Die Bäume um ihn herum waren viel zu groß, viel zu breit, eher gewaltige Säulen als Bäume, keine Äste standen ab und aufgrund der Dunkelheit war es nicht möglich zu sagen, wie weit sie sich in die Höhe erstreckten. Aus diesem Nichts, in dem sie nach oben hin verschwanden, hingen armdicke, klebrige und dornenbewehrte Ranken hinab, die bis knapp über dem Boden schwebten und ihre Stacheln wie Zähne fast ohne Widerstand tief in die Haut trieben, brennende Wunden rissen, und immer wieder musste er stehen bleiben und seinen Körper von ihnen befreien. In allen Wäldern, über die er bisher geschrieben hatte, war es immer angenehm kühl gewesen, hier herrschten tropische Temperaturen, welche die Kleidung an der Haut kleben ließen. Dicke Schweißperlen waren fast augenblicklich auf seine Stirn getreten. Doch die größte Sorge machte ihm nicht einmal der Wald, er hatte Angst vor dem, was sich in ihm verbergen konnte. Wenn diese seltsamen Pflanzen nicht seiner Fantasie entsprungen waren, dann musste jemand anderes sie ersonnen haben und ihm graute vor der Vorstellung der potentiellen Waldbewohner, wenn er diese furchtbaren entarteten monolithischen Bäume betrachtete. Seit Ewigkeiten war er nun schon durch diese nahezu vollständige Dunkelheit gegangen, längst hatte er jegliche Orientierung verloren, wenn er jemals eine solche besessen hatte, alle Konzentration galt den dornenbewehrten hölzernen Riesenschlangen, die er nur mühsam und immer viel zu spät entdeckte. Seine Kräfte ließen bereits nach und versickerten mit seinem Blut in dem Waldboden. Längst hätte er eine Pause eingelegt, wenn da nicht die Angst gewesen wäre in dem schlammigen Grund zu versinken, wenn er stehen blieb, zu ertrinken, wenn er rastete. Irgendwann, in einem Zustand nahezu endloser Erschöpfung, hatte dann das Flüstern begonnen. Unmerklich waren die Stimmen erschienen, so als wären sie bereits die ganze Zeit dagewesen, und immer wieder ein klein wenig lauter geworden, böse Stimmen, die aus allen Richtungen kamen, durcheinandersprachen, Stimmen, von denen er immer nur einzelne Worte, nie ganze Sätze verstand, Worte, die er kannte, die er bereits einmal gehört hatte, aber die keinen Sinn ergaben. „Den Fuß aufschlitzen“, sagte eine Stimme, und ohne Sinn oder Zusammenhang antwortete eine andere: „hinter den sieben Bergen.“ Es ließ sich keine Richtung ausmachen, aus der sie kamen, von nirgendwo und von überall drangen sie an sein Ohr, zornig, traurig, schmeichelnd, aber immer mit für ihn negativen Emotionen behaftet. Er musste alle Konzentration aufwenden, damit er nicht einfach in Panik verfiel, weglief, denn das wollten die Stimmen und sie würden erst verstummen, wenn er leblos in den dornigen Ranken hing. „Beißen“, flüsterte eine Stimme, „die Zähne zerbeißen“, flüsterte eine andere und sie wurden lauter, drohender. „Hört doch einfach auf“, schrie er, doch sie hörten nicht auf ihn, lachten, schrien durcheinander, Tausende von ihnen. Irgendwann wollte er einfach nur noch sterben, alle Kraft war verbraucht, er konnte es nicht mehr ertragen, lehnte sich an den nächsten der gewaltigen Baumstämme, die im Dunkel aufragten.
„Versagt“, sagte eine Stimme, „schlecht“, eine andere, „keine literarische Qualität“,
„nichts als das hilflose Gestammel eines schuldigen Jungen“. In einer hilflosen Bewegung fuhr
er mit der Hand durch die Luft, spürte, wie die Füße einsanken, dann stießen seine Finger auf einmal auf Widerstand, der sich von der glatten harten Oberfläche des Baumes unterschied.
„Da war etwas, das nicht dorthin gehörte“, dachte er und stellte zu seiner Überraschung fest, dass es ein dicker, rostiger Metallnagel war, den irgendjemand in den Baum getrieben haben musste. Instinktiv zögernd, weil er eine Enttäuschung fürchtete, tastete er weiter, fand einen zweiten Nagel, begriff, dass es Tritte waren und stieg mit der letzten verbliebenen Kraft den Baum empor. „Angst“, sagte eine Stimme, „hast du Angst?“, fragte eine andere und er hatte Angst, immer wieder fürchtete er, dass seine tastende Hand ins Leere griff, dass dort keine Nägel mehr waren, denn er hätte keine Kraft mehr für einen Abstieg gehabt, doch immer wieder fand er Halt, immer wieder ging es ein Stück höher, bis er schließlich in der Dunkelheit raue Bretter ertastete, eine kleine Ebene im Nirgendwo, ein Baumhaus, auf das er seinen Körper mit den allerletzten Kraftreserven emporwuchtete. „Nicht dein Kind“, war das letzte, was er von den Stimmen hörte, die nicht mehr flüsterten, sondern schrien, Enttäuschung über seine Rettung, Wut über diese plötzliche Wendung, dann endlich forderte die Erschöpfung ihren Tribut, alles wurde schwarz und für einige Momente war es still.

„Dies ist Traum und Deutung zugleich“, sagte Sigmund, der ihm so, als wäre er niemals fort gewesen, gegenübersaß, die Beine übereinandergeschlagen hatte, wieder ein Glas mit trockenem Rotwein in der Hand, wieder dieser vertrauliche, aber dabei musternde Blick. Eine lange und irgendwie zu dünne Zigarette verqualmte zwischen seinen Fingern.   
„Wo bin ich?“, war die erste Frage, die er fand, als er wieder in seinem Ohrensessel saß, die Hände die kunstvollen Schnitzereien umklammerten, so als könnten sie ihm Halt geben.
„Was ist das für ein Wald, was sind das für Stimmen?“
Sigmund betrachtete ihn eine Weile schweigend, ließ sich Zeit mit der Antwort, antwortete schließlich mit einer Gegenfrage.
„Was glauben Sie“, fragte er, „was glauben Sie denn, wo Sie sind?“
„Der Wald der Fiktionen“, sagte er, weil es das erste war, was ihm einfiel,
„aber es ist nicht meine Fiktion, alles ist so fremd.“
„Warum ist alles fremd?“, fragte Sigmund und man sah ihm an, dass ihm diese Frage Freude bereitete.
„Ich weiß es nicht“, antwortete er, „ich habe so etwas noch nie gesehen, die Bäume, die Ranken, der schlammige Boden, diese düstere Stimmung, alles ist verkehrt und dies ist kein Ort, der meiner Fantasie entsprungen ist.“
„Entsprungen“, wiederholte Sigmund und auf einmal erhielt das Wort einen zweiten Sinn.
„Es ist ein Fehler zu glauben, dass das Unbewusste lediglich aus all dem geformt wird, was  einmal gewusst und dann vergessen wurde“, dozierte Sigmund und seine Haltung straffte sich, so als stünde er hinter einem Rednerpult.
„Es ließe sich sogar behaupten, dass das Gewusste und dann Vergessene nur einen winzigen Teil ausmacht, so wie die Erde nur ein winziger Teil des Universums ist. Sie müssen verstehen, dass ein Großteil des Unbewussten niemals bewusst war, niemals bewusst sein wird, dass Sie selbst nur einen winzigen Teil von dem kennen, was Sie bestimmt und antreibt, was vielleicht schon all ihre behaarten Urahnen bestimmte und antrieb. Was sind Triebe, was Instinkte und was all das, für das es nicht einmal einen Namen gibt. Wo sind wir, wenn wir schlafen, was passiert mit uns, wenn wir uns auf etwas konzentrieren, Sie wissen es nicht.“
„Was bedeutet das für mich?“, fragte er, weil die vielen und schnell aufeinanderfolgenden Worte ihn benommen machten.
„Ihr Wissen über diesen Ort ist begrenzt“, sagte Sigmund, „es gleicht, um in der bisherigen Metaphorik zu bleiben, einer kleinen Straße, die von einem Planeten aus Wald eingeschlossen wurde. Die eine Seite der Straße ist das Erleben, die andere das Vergessen, die Laufrichtung ist entscheidend“, sagte Sigmund.
„Aber was wollen all diese Stimmen?“, fragte er zurück.
„Was meinen Sie?“, fragte Sigmund und er antwortete:
„Sie wollen mich vertreiben, sie hassen mich.“
„Warum wollen die Stimmen Sie vertreiben?“, fragte Sigmund
und seine eigene Antwort überraschte ihn.
„Weil sie mich fürchten.“
Und es war eine Weile still.
„Wer sind sie?“, fragte er und Sigmund lachte:
„Dieser Wald ist der Friedhof der schlimmen Gedanken.
Zwischen der Wildheit und dem Hass unbekannter Mächte findet sich auch all das, was Sie von Ihrer Straße verbannt haben, böse Gedanken, welche die anderen hätten infizieren können, all das, was Sie gefürchtet, gehasst, aber niemals überwunden haben, die Demütigungen der Kindheit, der Jugend, allesamt verdrängt, liegen sie im Schatten versteckt und zittern vor ihrer Entdeckung.“
„Warum zittern sie vor ihrer Entdeckung?“
„Das ist komplizierter“, sagte Sigmund, „und wie alles Komplizierte lässt es sich am besten mit einem Bild erklären. Es gibt eine Parasitenart, die in einer sehr speziellen Art von Symbiose mit einem ganz bestimmten Fisch lebt. Der Parasit dringt dabei unbemerkt in das Maul des Fisches ein und beginnt dessen Zunge zu fressen, wohlgemerkt ohne dass der Fisch dies bemerkt. Nach und nach frisst der Parasit die Zunge vollständig auf und dann, das ist das Entscheidende, nimmt der Parasit Platz und Funktion der verspeisten Zunge ein. Gemeinsam lebt er mit dem Fisch, teilt mit ihm dessen Nahrung, ohne dass der Fisch von ihm weiß, verstehen Sie, diese Absurdität der Natur ist nur möglich, weil der Fisch zu keinem Zeitpunkt von dem Parasiten weiß, weil er den Fremden gewissermaßen assimiliert, Fische sind nicht besonders intelligent, aber prinzipiell stimmt der Vergleich, wenn Sie diese kleine Ungenauigkeit entschuldigen. Und nun, was meinen Sie, passiert, wenn der Fisch den Eindringling entdeckt, wenn er bemerkt, dass etwas anderes ohne sein Wissen Teil seines Organismus geworden ist, dass da keine Zunge mehr, sondern ein fremdes, hässliches Geschöpf in seinem Mund haust?“
Er dachte über dieses Bild nach, versuchte zu verstehen, sah die Parallelen, aber konnte sie nicht in Worte fassen.
„Der Fisch wird nichts anderes tun, als sich dieses unverschämten Eindringlings zu entledigen, er wird ihn zerbeißen und dann wird er verhungern, vielleicht sogar ersticken. Es ist ein Bund fürs Leben, den diese beiden geschlossen haben und sobald der Fisch von dem anderen weiß, ihn entdeckt hat, werden sie beide sterben. Es gibt Dinge, die nur im Verborgenen wirken, und es gibt Regionen des Geistes, die nicht entdeckt werden dürfen. Nicht alles Schlechte bleibt auf den zweiten Blick schlecht, doch gerade dieser zweite Blick ist es, der alles zu zerstören vermag.
Zerbricht der Geist an der Idee, wird auch die Idee sterben. Dieser Ort, die wilden Gewächse und der Schatten, den sie werfen, ist ein Ort, der niemals sehend betreten werden darf und nur der Kunst ist es gestattet, ihn eine Weile traumwandlerisch zu betreten.“
Wieder dachte er nach, prüfte Wort für Wort das Gesagte und es war die klingelnde Eieruhr aus der Küche, die ihn aus seinen Grübeleien riss.
„Noch einmal werden wir uns sehen“, sagte Sigmund und dann werden Sie wissen, was ich nicht sagen darf, aber nun muss ich gehen“, sagte er entschuldigend,
„es warten noch eine ganze Reihe von Patienten.“
Er zwinkerte ihm zu und das zuvor zumeist ernste Psychoanalytikergesicht wurde für einige Momente zu einer grinsenden Clownsmaske, dann verschwand er und mit ihm das Kaminzimmer, schließlich der Ohrensessel und er selbst, nachdem sie noch eine Weile, wie schwerelos, im Nichts gehangen hatten.
Eben in dem Moment, als er wieder zu sich kam, die erschöpften und schmerzenden Glieder hoch über dem Waldboden streckte, hatten sich die Stimmen zu einem tiefen bedrohlichen Grollen vereinigt, das den Baum und das kleine Baumhaus zum Zittern brachte. Vertraute, aber zur Unkenntlichkeit verzerrte Stimmen waren darunter, dazwischen gänzlich fremde, alte Stimmen, die sich immer wieder vor die anderen schoben, rhythmische, treibende und eindeutig feindselige Laute und erst, als er die Hände hob und ihnen Einhalt gebot, verstummten sie, schlagartig, allesamt gemeinsam, so als hätte jemand den Stecker aus einer verborgenen Stereoanlage gezogen.
„Ich bin nicht euretwegen hier“, rief er ihnen zu, weil er sie nun verstand und
„ich werde von hier fortgehen, ohne euch zu suchen.“
Schweigend gähnte der leere Wald zurück und er wartete eine Weile auf Antwort, bis er begriff, dass das Schweigen die Antwort war. Misstrauisch stieg er die Tritte hinab, doch es blieb still, als seine Füße auf dem weichen Morast auftrafen, und obwohl er das Gefühl hatte, von überall her aus den Schatten heraus beobachtet zu werden, kreuzte niemand seinen Weg, als er weiter, nun in die richtige Richtung, ging.


Das zwölfte Kapitel

Der unwirkliche Wald, der zuvor jeden Schritt in eine Qual verwandelt hatte, wich nun vor ihm zurück, die Füße sanken nicht mehr so tief in den Boden ein, es war, als würde dieser fremde Ort nun seine Anwesenheit akzeptieren. Die dornenbewehrten Ranken zeigten plötzlich eine Art Entgegenkommen und Wohlwollen, selbst wenn er sie mit dem Körper streifte, war die Berührung sanft, sie verbissen sich nicht mehr in sein Fleisch, vielmehr wiesen sie ihm den Weg, denn er musste nur ihren ausweichenden Bewegungen folgen.
Nach und nach veränderte sich der bedrückende Ort, die beklemmende Hitze wich einer beruhigenden Kühle, bald bemerkte er die erste, wenn auch noch verkrüppelte, Eiche, die zwar fehl am Platz, aber nicht mehr gänzlich sinnlos wirkte. Der Wald um ihn herum wurde immer mehr Wald, immer vertrauter, so weit das Auge blickte, knorrige Eichen, Herbstlaub und es gab eine Sonne, welche die Dunkelheit sanft zurückdrängte. Der Boden war nun mit bunten Blättern bedeckt, und eben, als er dachte, dass diese wie ein Teppich den schmalen Pfad zierten, erinnerte er sich, begriff und ging schneller. Zielsicher trugen ihn seine Füße und seine Augen hielten bereits Ausschau nach der kleinen Lichtung, auf der er sein Kind vermutete. Weil die aufgehende Sonne immer zahlreichere Lücken im Blätterdach fand und seine Augen blendete, schloss er sie, so sicher fühlte er den Weg und er wäre beinahe über das kleine Bündel gestolpert, wenn er es nicht erahnt und rechtzeitig die Schritte abgebremst hätte. Friedlich lag es dort, aufgebahrt, ebenso, wie es der neue König verlassen hatte, und obwohl er wusste, dass das schlafende Kind nicht sein Kind war, nicht sein Kind sein konnte, spürte er doch sofort jene unendliche Zuneigung, das Gefühl, das sich solange in ihm gestaut hatte und nun mit einem Mal durch den Damm der Widersprüche hervorbrach. Genauso hatte er sich sein Kind vorgestellt, hatte es von dem Moment an zu lieben begonnen, als Luisa von ihm erzählt hatte. So viele schlaflose Nächte, so viele wache Stunden hatte er sich diesen kleinen Körper vorgestellt, ihn herbeigesehnt, dieses kleine Leben, das nun so unschuldig vor ihm lag und schlief und mit seinen kleinen Atemzügen von der fremden Welt kostete. Bereits einige Jahre, bevor Luisa ein Teil seines Lebens geworden war, hatte er sich dieses Kind gewünscht, einen kleinen neuen Menschen, den er formen und auf die Welt vorbereiten konnte, jemanden, der die eigenen Werte weitertrug, sie zumindest kennenlernte und prüfte, vielleicht schätzen lernte und sie dann einer neuen Generation schenkte. Der zugegebenermaßen egoistische Wunsch den eigenen Tod zu überleben. Nach und nach waren die alten Freunde zu Bekannten, zu Vätern und somit naturgemäß zu Idealisten geworden. Fasziniert hatte er betrachtet, wie sich ihre Werte verschoben, Welten veränderten, wie vertraute Menschen, die er nur als Kinder gekannt hatte, erwachsen wurden. Zuerst hatte ihn diese Veränderung, die ja schließlich auch ihn betraf, einfach nur gestört, eine ganze Weile lang waren ihm dann all diesen frischgebackenen Väter gleichgültig gewesen, aber irgendwann war er dann doch neidisch – und er hasste Neid –  auf sie geworden. Aus den zahllosen weinenden, lachenden oder einfach erstaunten Kindergesichtern, die ihm im Laufe seines Lebens vorgestellt worden waren, hatte er sich sein eigenes Kind zusammengesetzt, das dann später in Luisas Bauch gewachsen und genau wie er dem Wiedersehen entgegengefiebert hatte. Dieses „Wunschkind“ hatte sie ihm genommen und genau das war der entscheidende Punkt, den er ihr niemals verziehen hatte. Abgöttisch hatte er sie und ihre Launen geliebt, sie getröstet, wenn sie verzweifelt war, und hatte doch gleichzeitig die ganze Zeit gewartet, ausgeharrt und sich den Moment des Wiedersehens vorgestellt, das Schnappen, mit dem die Nabelschnur zerschnitten wurde, den ersten Atemzug, den ersten Schrei, die beruhigende Stimme eines Arztes, der ihm versicherte, dass alle Gliedmaßen vollzählig, dass es ein kerngesundes Kind sei, dann: Luisas erdrosselter Körper, der schräg angewinkelte Kopf, die grotesk verkrampften Beine und das gnadenlose Licht der Halogenleuchten. Darunter das Unsägliche, der Todesstoß und Verrat, das Ende aller Träume, diese grauenvolle Lache, das düstere Loch in Verstand und Küchenbodenrealität, das kleine Elend, kaum genug um ein Kehrblech damit zu füllen, dann: das schlafende Kind, das zu seinen Füßen auf dem Waldboden lag, ein winziges Lächeln in dem winzigen Gesicht, ein vorüberfliegender Traum, irgendein geheimes Bild, irgendetwas Schönes. Überwältigt von seinen Gefühlen betrachtete er dieses kleine Wunder, lachte, träumte mit dem Kind, prüfte den Wunsch es einfach in den Arm zu nehmen und mit ihm zurück in die Realität zu steigen, aufzuwachen, im Ohrensessel, und endlich Vater zu sein. Behutsam, denn er wollte diesen Schlaf nicht vertreiben, ging er in die Hocke und strich mit dem Handrücken, dort, wo die Haut am weichsten ist, über die ihm sonderbar vertrauten Züge.
Je länger er dort saß und den Schlaf des Kindes bewachte, je stärker er sich als Vater fühlte, desto stärker wurde auch der Gedanke, dass er es niemals sein konnte und in seine Freude mischte sich kalter Schmerz. Das Kind war nicht wirklich, nichts als das Konstrukt seiner damals so hoffnungsvollen Fantasie, kein wachsendes Leben, kein Mensch, sondern nichts als ein Symbol für eine Lücke, die niemals geschlossen werden konnte. Dieses Kind würde niemals älter, niemals erwachsen werden, ebenso wie die Straße nicht endete, über welche die Flüchtlinge seine Erinnerungen getragen hatten. Der Gedanke erschreckte ihn, doch er besaß eine unwiderlegbare Folgerichtigkeit. Er versuchte sich damit abzufinden, zu akzeptieren, dass es nichts als Fiktion war, ein böser Geist, der ein glückliches Gewand gewählt hatte, um sich zu verbergen, er dachte, dass es dieses Kind gar nicht gab, als es die Augenlider öffnete und die zwei suchenden Augen seines Sohnes ihren Vater fanden. Ein kleines Gesicht, das sich in Sekundenschnelle in ein einziges breites Lächeln verwandelte, Mimik, die Worte formte, „endlich bist du da“ und „ich habe lange auf dich gewartet“. Vorsichtig hob er das kleine Bündel auf, näherte ihre Gesichter einander an und so betrachteten sie sich eine Weile. Er versuchte sich jedes Detail einzuprägen, jede einzelne kostbare Linie in diesem Kindergesicht, obwohl er ahnte, dass er es vergessen würde. Er dachte an Luisas Grab, dachte, dass er sich letztendlich für nur einen Sarg entschieden hatte, einen Sarg, weil nur der wirklich sterben konnte, der tatsächlich gelebt hatte.
„Du bist nicht mein Kind“, sagte er liebevoll, bettete es wieder auf dem Blätterhaufen und zitterte dabei innerlich vor dem, was er nun tun musste. Alles um ihn herum war falsch, Fiktion, eine einzige Lüge und so musste auch er falsch handeln, um in diesem System der Falschheit bestehen zu können, er musste diese Welt ordnen, um nicht an ihr zu zerbrechen. Er hatte niemals ein Kind gehabt, würde niemals ein Kind haben, denn er war zu alt und wenn er einmal starb, dann würde die Erinnerung an ihn nicht einmal seine Generation überleben. Es war ein trauriger, aber ein folgerichtiger Gedanke. Immer noch beobachteten ihn die unschuldigen Augen, in denen auf einmal ein Funke Angst zu schwimmen schien, der sich rasch ausbreitete. Zärtlich und wie zum Abschied legte er seinen Daumen auf den winzigen Mund, den Zeigefinger unter die winzige Nase.
„Es wird alles gut“, flüsterte er, ein Satz, der so oft geflüstert wurde, wenn alles schlecht war und es immer schlimmer werden würde, „es wird alles gut“, flüsterte er und wartete.

In einem einzigen Augenblick erfassten zwei gewaltige Emotionen den neuen König. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass er das Kind vergessen hatte und dass es starb, dass der Andere in seine Welt eingedrungen war und sein Kind getötet hatte. Er spürte wie all die kostbaren Erinnerungen verschwammen, die er an das Kind geknüpft hatte, und wie ein verwundetes Raubtier richtete er sich auf und schrie seinen unbändigen Schmerz hinaus, hinweg über die Köpfe seiner erschrockenen Untertanen.

In dem Moment, in dem das kleine Gesicht seine Farbe vom empörten Rot zum leblosen Blau wechselte, das Kind aufhörte zu strampeln und erstickte, hörte er den Schrei des neuen Königs, der wie ein Donner anschwoll und sich über dem Wald entlud. Erschrocken blickte er auf und vergaß das kleine Gesicht, das unschuldige Lächeln, dann die aufgerissenen angsterfüllten Augen genau in dem Moment, in dem auch das Kind verschwand und er mit leeren Händen und alleine auf dem Boden kauerte, den Zeigefinger seltsam abgespreizt, so als würde er stumm in die Richtung weisen, aus welcher der Schrei bis zu ihm gedrungen war. Er spürte, dass der neue König sich auf ihn zubewegte und begriff, dass der Moment der Konfrontation nahte. Dann trat er aus dem Dickicht und stieg über die Leitplanke. 
Als seine Füße den verkrusteten Asphalt berührten, der staubig und zugleich gefroren seinem Schritt Widerstand bot, begriff er die Bedeutung dieses Momentes, in dem er das betrat, was er selbst, mit seinen Gedanken, erschaffen hatte. Während der Wald zunächst fremd, später nur unwirklich vertraut gewesen war, erkannte er die Straße nahezu augenblicklich als seine Straße wieder. Zäh lief sie wie ein dunkler schwarzer Fluss durch die Landschaft, zog sich fort, so weit das Auge sehen konnte, um irgendwo in der Ferne in einem einzigen Flimmern aus Luftspiegelung und Hitze zu verschwinden. Links und rechts säumte sie die verkohlte Leitplanke, die in ihrer Unendlichkeit einen Kreis bilden musste, daneben der spärlich bewachsene Grasstreifen, ein Stück schmutziger Boden, um das Wasser der Leichen aufzusaugen. Nur die Leitplanke gab der Straße eine zeitliche Dimension. Ebenso wie die Menschen sich, seitdem es sie gab, gegenseitig ermordeten, folterten und vertrieben, hatten sie auch ihre Straßen befestigt, um Mord, Folter und Vertreibung besser und vor allem effizienter organisieren zu können. Leitplanken gab es jedoch erst, seitdem es motorisierte Fahrzeuge gab und so waren sie wohl Ausdruck seiner Zeit, dem zynischen Ende des 20. Jahrhunderts. Er hörte den Geschützlärm in der Ferne, der jetzt, wo er ihn bemerkte, auch auf die Postmoderne verwies, mächtige und irgendwie flachtönige Explosionen, davor das zuckende Stakkato automatischer Waffen, leise, wie ein Flüstern. Alles verlief ineinander, alles verlor seinen Sinn. Eine Straße im Nichts, irgendwo auf der Welt, oder eben in einer anderen. Seine Augen suchten und fanden die feinen Haarrisse im Asphalt, denen auch der neue König gefolgt war, bevor er König geworden war. Überall gab es Risse, die vom häufigen Gebrauch der Straße erzählten. Unzählige Füße hatten sie verformt und auch die Wurzeln aus den angrenzenden Wäldern hatten die Stärke des Asphaltes geprüft, Risse überall, die immer wieder zusammenliefen, einander aufhoben und sich wieder trennten. 

Als er wieder aufschaute, sah er ihn. Der desertierte Bote hatte wohl bereits einige Zeit am Straßenrand gewartet, denn die Beine trugen ihn zunächst nur mühsam, unsicher, als er sich von der verkohlten Leitplanke erhob und in die Mitte der Straße trat.
Gefasst blickte ihm der Bote entgegen, der nun nicht mehr Bote war und das Gesicht von Gérard trug, der einmal sein einziger und bester Freund gewesen war.
„Zusammen mit den Anderen bin ich hinter deinem Sarg hergeschritten“,
sagte er in das vertraute Gesicht, um von vornherein jegliche Missverständnisse auszuschließen,
„du bist nicht wirklich, bist Vergangenheit.“
„Ich will nur leben“, antwortete der Bote, der Gérards Stimme verwendete, als wäre es seine eigene, und die Mimik war so vertraut, die Illusion derart perfekt, dass er sich schuldig fühlte, als er der Gestalt in die Augen blickte.
Er hatte sich bis zu diesem Punkt einfach treiben lassen, war dem Willen des Waldes und seiner Intuition gefolgt, die ihn auf diese Straße und dem neuen König entgegengeführt hatten. Er spürte, dass die Anwesenheit des alten Freundes hier falsch war, begriff, dass er all das, was der neue König in dieser Welt verändert hatte, zerstören musste, um alles in seine geordneten Bahnen zu lenken, jede Veränderung musste ungeschehen gemacht werden, um seine eigene Fiktion wieder seinem Willen zu unterwerfen.
Ebenso erging es ihm in diesem Moment, er spürte den Drang diese fremde Gestalt, die nicht Gérard, nichts als Illusion war, zu vernichten. Energie und Wille ballten seine Fäuste, ließen ihn schwerer atmen, ein guter Teil von ihm war in diesem Augenblick nichts als Waffe und Zerstörungswille und genau das war es, was ihn erschrecken und innehalten ließ.
Der Zorn, den er spürte, richtete sich nicht gegen den treulosen Boten, nicht gegen diese bloße Fiktion, dieser Zorn war anders und er galt Gérard, den der Bote nur repräsentierte. Gérard aber war nicht nur sein Verleger, sondern auch sein bester Freund gewesen, und er verstand diese Emotionen nicht, diesen dunklen Willen, der nach dessen Blut auf dem Asphalt dürstete, jener Drang zu töten und zu morden, der letztendlich nichts als der Drang zu vergessen war, doch warum, diese Frage irritierte ihn. Jede Erinnerung an Gérard, die ihm einfiel, war positiv, er war sein einziger, sein bester Freund gewesen und einen guten Teil seines bisherigen Lebens
– tatsächlich ungefähr die Hälfte –  niemals längere Zeit von seiner Seite gewichen.
Und doch war da noch etwas anderes, das ihn antrieb, eine dunkle Ahnung, die sich nicht erklären ließ und er dachte sich, dass der Bote die Antworten kennen musste, die ihm nicht einfielen, jene Erinnerungen, die der neue König gestohlen hatte.
„Du bist nicht mehr mein Bote, hast dich von mir losgesagt“, flüsterte er mit mühsam unterdrücktem Zorn Gérard entgegen, der nur regungslos dort stand, den Kopf leicht geneigt hielt.
„Wer bist du nun, welche Geschichte hat dir der neue König erzählt?“,
fragte er, und
„Was weißt du, was ich nicht weiß?“,
schrie er.
Gérard schwieg und das machte ihn umso zorniger, denn die Antworten schienen wichtig.
Emotionen drängten sich in ihm, schoben und pressten sich übereinander, ließen den Damm ächzen, den eigenen Willen erbeben, der nur mühsam die Flut zurückhielt, es war so schwer die Beherrschung zu wahren, ein hohles Ächzen im Kopf, dann schoss seine Hand nach vorne, eine verschwommene Bewegung, ein Schlag, schneller als der eigene Verstand, hart und brutal, er schlug mitten hinein in Gérards wehrloses Gesicht und die Ordnung zerbrach zu einer spritzenden Masse, Blut und Knochenstaub, ein Schlag, der in der Realität getötet hätte.
„Ich darf es dir nicht sagen“, presste Gérard hervor, der mit keiner Bewegung versucht hatte seine Vernichtung zu verhindern, der einfach dastand und ein stummer Zeuge seiner eigenen Zerstörung war.
„Es ist alles, was ich habe.“
Mühsam hielt er den zweiten Schlag zurück.
„Ich kann dich zwingen“, keuchte er und
Gérard antwortete, ruhig und gefasst,
ergeben in das Schicksal, das ihn erwartete:
„Das kannst du nicht, du kannst mich nur vernichten, niemals zwingen.
Jeder Moment ist kostbar, selbst wenn er nichts als Leiden und Schuld beinhaltet.
Jeder Atemzug hat seine eigene Würde.“
Wieder tobte eine Woge der Wut durch seine Adern, wieder zuckte sein Körper,
verschmolzen die Finger zur Faust, wieder schlug er zu, tiefer und fester,
ein wehrloser Brustkorb aus hohlen und morschen Knochen.
„Ich will das nicht“, schrie er und in diesem Moment verstand er die Gewalt, derer sich auch der neue König bedient hatte, es war diese Welt, die aggressiv machte, die ihn in sich aufsog, überall Hass und Zorn, ein Ort, über den sich schreiben ließ, aber der nur schwer zu ertragen war, wenn man ihn durchschritt, ein Ort, der zu weit von Gewissen oder Moral entfernt war.
Gérard sank zu Boden und er sank mit ihm, nichts als Illusion und doch, der sterbende Freund, Angst und Sühne, der Zorn verrauchte ebenso schnell wie er gekommen war und für einen Moment war er fassungslos über seine Tat.
„Es tut mir leid“, flüsterte er,
„aber du bist falsch, falsch, falsch, du bist nur Lüge und willst die Wahrheit vor mit verstecken. Ich habe dich geliebt, du warst der einzige, der beste, der treueste Freund, den ich jemals hatte.“
Tränen klebten in seinen Augen, wollten nicht weichen, tropften und er bettete den Kopf seines Freundes.
„Ich will dies alles hier nicht vernichten, ich will es ordnen, ich darf nicht den Verstand verlieren“, sagte er nun leise und entschuldigend.
Gérard schwieg noch immer, doch in der Entschlossenheit in seinen Augen glaubte er nun einen Funken von Mitleid zu entdecken, innerliches Schwanken, er blutete so stark, gemeinsam saßen sie in dieser dunklen Lache und er wusste keinen Ausweg, schrie und weinte, ballte in hilflosem Zorn die Fäuste, Zorn, der nicht mehr Gérard, sondern ihm selbst galt. Die tröstenden Hände des Wahnsinns, er wollte einfach schlafen, hinwegdämmern, geistige Krämpfe, er dachte an den Ohrensessel.
„Eine Insel im Strom der Zeit“, sagte Gérard auf einmal und erbarmte sich seiner,
„es war alles Lüge“, sagte er und
„ich bin niemals dein Freund gewesen.“
Und obwohl er ahnte, dass er nun die Antworten bekommen würde, die er sich zuvor noch so sehnlich gewünscht hatte, ein ehrlicher und somit kompromissloser Abschied, Aufarbeitung, nicht Verdrängung, wollte er Gérards Wahrheit nun nicht mehr hören, sie machte ihm Angst, es war nicht das, was er erwartet hatte. Er konnte diese Worte nicht glauben, denn in Wirklichkeit war Gérard jene metaphorische Insel gewesen, jener Fels im Strom der Zeit, der zwar vom Wasser geschliffen, aber nicht wie all die anderen fortgetrieben worden war.
„Wir haben uns damals an der Universität getroffen“, sagte er, „im Seminar, haben diskutiert, Schiller“, sagte er und dann die erste Frage,
„wohin sind wir danach gegangen?“
„Wir sind zu mir gegangen“, antwortete Gérard und mit den Worten lief Blut aus seinem Mund, er würde jetzt bald sterben, verschwinden, und mit ihm die Wahrheit.
„Gar nicht weit vom Universitätsgebäude, in der Lindengasse“, und mit Gérards Worten erinnerte er sich, sah das verwitterte Straßenschild, die Kreuzung, das alte Backsteinhaus, ringsum die immergrüne Efeuwand, die es von allen Seiten geduldig durchbohrte.
„Wieso sagst du, dass du niemals mein Freund gewesen bist?“,
fragte er Gérard und obwohl dieser große Schmerzen hatte, stahl sich ein Lächeln in das entstellte Gesicht, kein böses oder höhnisches Lächeln, eher so etwas wie Erleichterung über eine Ironie, die viel zu lange verschwiegen werden musste.
„Nichts war ich als eine Hure“, sagte Gérard, der immer einen großen Sinn für Pathos gehabt hatte, und sein Lachen schleuderte kleine Blutspitzer auf die unwirkliche Straße, „hörst du, man hat mich bezahlt, Monat für Monat Geld, alles war geplant, kein Zufall, kein Schicksal, Bestimmung, die Bestimmung eines anderen, ein Lügennetz, von dem ich nur ein kleiner Teil gewesen bin.“
Er verstand nicht, wollte nicht verstehen, dann dachte er weiter, ein dunkler Gedanke, ein Verdacht, „meine Bücher“, flüsterte er, „ich habe dir vertraut.“
„Keines von ihnen ist erschienen“, flüsterte Gérard zurück, dem nun jedes Wort Schmerzen zu bereiten schien, „alles war nur Schein, Auflagenzahlen, Autorenabrechnungen, selbst die Absagen, alles nichts als Schein, alles Illusion und du konntest es nicht merken. Er hat deine Bücher gekauft, er hat dich bezahlt, so wie er mich bezahlt hat, so wie er die Leute bezahlt hat, die dich interviewten, er hat all die Liebesbriefe, all die Hassbriefe geschrieben, er hat deine Rezensionen verfasst, so wie er deine Bücher korrigiert hat.“
Mit jedem Wort Gérards glaubte er tiefer in ein dunkles Loch zu stürzen, nichts gab es mehr, an dem er sich halten konnte und doch war es nur Schein, musste Schein sein, die Wahl war schnell getroffen, all dies war nicht wirklich.
„Wer ist es denn gewesen?“, fragte er, nun mit Spott in der Stimme, Spott für den sterbenden Gérard, der behauptete niemals sein Freund gewesen zu sein.
Dieser Dialog war nichts als überflüssige Dramaturgie, der sterbende Cato, ein klischeehaftes Bild, nur eine verfremdete Erinnerung, die ihn aufhielt auf seinem Weg dem neuen König entgegen.
„Der gestiefelte Kater“, hustete Gérard zwischen Schleim und Blutklumpen, unzählige Körpersäfte mischten sich in seinem Tod, warme, gefrierende Augen, kein Glanz, kein Schrei, keine Erleuchtung, nur diese drei wahnsinnigen Wörter, deren Bedeutung er nicht verstand, dann starb Gérard, starb und verschwand und mit ihm die Erinnerung. Er vergaß den Boten, der ihm in den Weg getreten war, vergaß das Zusammentreffen, das Gespräch mit Gérard, der immer sein bester und sein einziger Freund gewesen war.
Er fand sich auf der Straße wieder, im Schneidersitz auf dem Asphalt, und kopfschüttelnd erhob er sich, um mit weit ausholenden Schritten dem Ende dieser Geschichte entgegenzugehen. 
Dann sah er den König, der sich unwirklich aus dem Flimmern löste, in dem Straße und Horizont miteinander verschwammen.  Er hatte sich keine Worte zurechtgelegt, keine Vorbereitungen getroffen, fühlte aber, dass es richtig war, dass er auf ihn zuging und dass er sich nicht vorbereiten konnte und so ging er weiter. Eine gewaltige Aura der Macht umwehte die fremde Gestalt, ein warnender Hauch, der ihm entgegenströmte, Dunkelheit und Schatten, verdichtet zu einer furchterregenden Gestalt, die gerade durch das Fehlen jeglicher Kontur umso erschreckender und unwirklicher wurde. Und doch war dieses Bild falsch, er spürte, dass es falsch war. Es war das, was er sehen sollte, eine Larve, hinter der etwas anderes verborgen war. Mit schonungslosem Blick durchbohrte er den neuen König, suchte Halt in der verschwommenen Silhouette und er sah etwas, das sich unter der Hülle verbarg. Inmitten dieser dunklen Wolke aus Würde und herrschender Gewalt glaubte er etwas zu sehen, das klein und schutzbedürftig mitschritt. Für die Dauer eines Herzschlages glaubte er einen Jungen zu erkennen, der den Kopf ängstlich gesenkt hielt und vielleicht nur 12 oder 13 Jahre alt war, kein neuer König, nicht einmal Prinz, die kleinen Hände lächerlich zu Fäusten geballt, „nichts als ein kleiner Schwächling“, dachte er und diese Worte kamen ihm merkwürdig vertraut vor.

Der neue König beobachtete misstrauisch die Gestalt, die ihm dort entgegenkam, ein kleiner Mensch auf der endlosen Straße, ein unbedeutend kleiner Körper, der die Frechheit besaß ihm die Stirn zu bieten. Es musste der Herrscher einer fremden verborgenen Welt jenseits der Wälder, es musste der Andere sein, der das Kind ermordet hatte. Obwohl er König, diese Welt sein Reich war, verunsicherte ihn der Blick dieses hageren Mannes, den er immer besser erkennen konnte, ein suchender Blick, dem er sich ausgeliefert fühlte, der vielleicht etwas sah, das ihm selbst verborgen geblieben war. Er sah einen dünnen und bleichen Mann, dem das Leben bereits einige traurige Linien in das Gesicht gegraben hatte, unrasiert und in verwaschener, fremdartiger Kleidung. Er sah Entschlossenheit in den unbekannten Augen, Entschlossenheit und Konzentration, fühlte fremde und unwirkliche Gedanken, die er nicht verstand und die trotzdem einen Sinn ergaben. Ein Teil von ihm fürchtete diesen Zusammenstoß, fürchtete ihn mit der Intensität eines erschrockenen Kindes, der Impuls wegzulaufen und sich zu verstecken, gleichzeitig Schock und Starre, die im Körper gefror, doch die Wut war stärker und durchspülte das Eis mit lodernden Flammen. Wilder und animalischer Zorn war mit dem Tod des Kindes gewachsen, seines Kindes, das die Frau mit dem kostbaren Lächeln in seine Arme gelegt hatte. Er wollte den Anderen packen, greifen und zerreißen, vernichten, doch die Blicke des Fremden lähmten ihn, wieder fühlte er sich hilflos, schwach, klein, allesamt neue, unbekannte Gedanken, die erschreckende Entdeckung eigener Schwäche, dann erreichten sie einander und er baute sich zu seiner vollen Größe auf, um den Anderen einzuschüchtern. 

Wie ein Monolith stand der neue König übermächtig vor ihm, überragte ihn, war unnahbar, unbesiegbar, fleischgewordene Unterwerfung, und er dachte, dass es Wahnsinn gewesen war ihm gegenüberzutreten.
„Wer bist du?“, fragte er empor zu der hünenhaften Gestalt und kam sich klein und schwach vor, so als hätte er es gewagt einen Gott zu erwecken.
„Ich bin all das, was du niemals sein wolltest“, schrie der neue König und er schrie, wie ein Gott schreit, mühelos übertönte seine Stimme den Donner der Geschütze in der Ferne.
„Ich bin deine Schuld, das was du vergessen, das was du verdrängt hast. Dieser Ort, diese Menschen sind der Abschaum deines Lebens, der Unrat, den du von deinen sauberen Wegen gekehrt hast.“
Er spürte, dass der neue König log und diese Lüge entlarvte ihn. Wenn er selbst hilflos der Willkür der Übermacht des Anderen ausgeliefert war, gab es für diesen doch keinen Grund zur Lüge. Nur der lügt, der die Wahrheit aus Angst verbirgt.
„Luisas Lächeln“, rief er der riesigen Gestalt entgegen,„niemals hätte ich es verdrängt oder vergessen, du hast es mir gestohlen.“
Der neue König betrachtete ihn. Man merkte ihm an, dass er seine Worte abwog.
„Nichts habe ich dir gestohlen, du selbst hast sie hier hinuntergestoßen. Ich habe nichts getan, als sie festzuhalten, als du sie dir zurückholen wolltest, sie war das einzige Schöne, das erste Schöne, das ich gesehen habe, seit ich existiere. Ist dir bewusst, zu welchem Leben du uns verdammt hast, hörst du den Lärm der Geschütze, höre genauer hin.“
Er lauschte auf den Lärm in der Ferne, den er bislang nur unterschwellig wahrgenommen hatte. Unzählige feindliche, böse Geräusche mischten sich ineinander, dazwischen Stimmen, die Stimmen, die er aus dem Wald kannte, Schimpfwörter mit boshaften Kinderstimmen geschrien, Spott und Häme, erwachsene Stimmen, vertraute Stimmen, gefürchtete Stimmen, Geringschätzung in allen Tonlagen. Längst Vergessenes und Verstoßenes, dazwischen seine eigene Stimme, Weinen, Flehen, Gebete, die er in seiner Kindheit an Gott gerichtet hatte.
All diese Stimmen ängstigten ihn und es kostete Kraft sie zu ertragen und nicht einfach fort, von ihnen wegzulaufen.
„Seit ich existiere, höre ich dies“, sagte der neue König, „all diese Anfeindungen, Anklagen, bösen Worte, die mich verfolgen, vor denen wir alle geflüchtet sind, ohne auch nur zu ahnen, was unser Verbrechen war. Begreifst du diese Hölle.“
„Du hast meine Erinnerungen gestohlen“, sagte er und beherrschte mühsam die Angst hinter seiner Stimme, dabei war es nicht die Gestalt des Königs, die ihn ängstigte, es war die Möglichkeit einer Schuld, die ihn zurückschrecken ließ.
„Meinst du, ich habe das geplant?“, fragte ihn der neue König, „Ich habe mir diese Existenz nicht ausgesucht, ich habe sie bis jetzt nicht begriffen. Meine einzige Erinnerung war diese Straße, auf der wir jetzt stehen. Es hat mit dem Ohrensessel begonnen, erst mit ihm kamen die Gedanken. Ich habe mich dort hingesetzt um zu sterben, das weißt du. Was hättest du getan?“
„Du hast kein Recht zu existieren“, antwortete er, „du bist nicht real, ich habe dich ausgedacht, selbst wenn du bereits eine Weile in meinem Unterbewusstsein herumgegeistert bist. Du bist nicht real. Du hast keine Rechte.“
Die Worte gaben ihm Kraft, zerstörten ein wenig die Illusion dieses Ortes, es war nichts als eine Geschichte, seine Geschichte.
„Stell dir vor, du besitzt einen Wald“, sagte der neue König, ohne auf diese Worte einzugehen, einen Wald, der so groß ist, dass du niemals jede Lichtung, niemals jeden Baum, geschweige denn jedes Blatt kennen kannst, selbst wenn du ein Leben lang durch diese Dunkelheit streifst. Neben deinem Wald ist eine Wüste, die noch größer, vielleicht unendlich ist und dort leben jene, die du aus deinem Wald verstoßen hast. Mühsam fristen sie dort ihr Leben unter brennender Sonne, während du durch die Bäume geschützt im Schatten lebst.
Wenn nun jemand anderes die abgestorbenen, die faulenden Äste, das gefallene tote Laub
aufsammelt, all dies neu zusammensetzt und sich ein trostloses kleines Heim, die Illusion einer Heimat darin errichtet, sie neu zusammensetzt, jeder Zweig, jedes Blatt eine neue Funktion bekommt, sich eigene Erinnerungen zwischen dem Blätterwerk bilden, ist es dann noch dein Haus, wenn es nicht einmal auf deinem Land errichtet wurde. Ist es nicht falsch, wenn der eine alles, der andere nichts besitzt?“, fragte der neue König und man sah den Triumph in seinen Augen.
Er schwieg, durchdachte dieses Beispiel, suchte den Fehler und fand ihn nicht, dann dachte er wieder an Luisa, Luisas Lächeln.
„Luisa“, sagte er, „du hast dich nicht mit den abgestorbenen Ästen begnügt, du hast die schönsten und edelsten Bäume gefällt und in deine Wüste geschleift, um deiner traurigen Straße einen Rahmen zu geben. Ich bin nicht wie du“, schrie er und nun wich der neue König zurück vor dieser Entschlossenheit.
„Ich habe Erinnerungen, die nur mir gehören, habe eine Vergangenheit, habe eine Mutter, habe eine Geschichte. Du, du hast nicht einmal einen Namen.“
Der neue König lachte.
„Und du, wie ist dein Name?“, fragte er gehässig und ihm fiel keine Antwort ein.
Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, fieberhaft suchte er in seinen Erinnerungen, suchte und kramte in dem, was ihm verblieben war, sein Name. Er fühlte den Abgrund, über dem er schwebte, doch noch, noch war die Schwerkraft wirkungslos, dies hier war seine Welt, seine Imagination. „Die Laufrichtung ändern“, dachte er wieder und hinter diesen Worten schien sich die Lösung zu verbergen.
„Du wirst mir weichen müssen“, sagte er zum neuen König, „du hast keine Macht über mich.“
Und wieder lachte der neue König und wieder war da Triumph in seiner Stimme.
„Denkst du, ich würde dich so einfach gehen lassen“, flüsterte er boshaft, kalt und dann schneidend:
„Ich habe in deinem Wald gesucht, habe in deinen Paketen und Koffern gewühlt, all das geöffnet und ans Licht gezerrt, was du so sorgsam verschnürt hast. Umstellt sind wir längst von allen falschen Entscheidungen, Fehlern, Demütigungen, bösen und bösesten Erinnerungen. Ich habe sie alle nur für dich herbeigerufen, habe auf dich gewartet, um dir eine Hölle zu schenken“, sagte der neue König.
Er blickte sich um, sah zunächst nichts, dann entdeckte er, noch fast vollständig verborgen
durch das dichte Unterholz jenseits der Leitplanken, Augen, Gestalten, böse Gestalten, deren Hass bis zu ihm auf die Straße schwappte. Ein verdammtes Heer aus Verbitterung und Enttäuschung, alle hatten sie sich versammelt, um ihn zu sich hinunterzureißen. All das, wovor er sich in seinem Leben gefürchtet hatte, drang wie eine einzige dunkle Wand auf ihn ein, Grimassen, Fratzen, Spott, dazu die Stimmen, die immer lauter wurden.
Faustschläge von allen Seiten, Spucken, Kratzen, Untergehen, „die Laufrichtung ändern“, dachte er und in dem Moment, als sie alle nach ihm griffen, ihn zerreißen wollten, der neue König lachte und triumphierte, da begriff er.
In diesem Sekundenbruchteil höchster Verzweiflung erreichte er einen Moment der Erkenntnis, der selten und kostbar war. Die Metapher des Brunnens hatte einen entscheidenden Fehler, war nicht vollständig. Er hatte sein eigenes Zutun, den kreativen Prozess, das Transferieren von Realem in die Fiktion außer Acht gelassen. Genauso, wie er den Eimer aus der Tiefe zog und hinüber in das Dorf trug, genauso brachte er jedes Mal einen Eimer mit, Wasser, das nicht nur emporgezogen wurde, sondern das auch hinunter in den Brunnen floss, um sich unten, in dem verborgenen See, zu vermengen. Und mit einem Mal sah er den Brunnen, sah sich selbst, wie er den Eimer hob, wie er ihn hinab in die Tiefe goss, einen Eimer, der so voll war, dass es nicht aufhörte zu fließen. Rinnsale bildeten und bündelten sich, rannen durch die Steinrillen, hinab, immer mehr, immer schneller, schließlich eine Flut von Bildern und Gedanken, das was sich so lange aufgestaut hatte, sein Anteil an der Geschichte. Dumpf klatschte das Wasser auf die Oberfläche des Sees und hallte von den Wänden wider, in der Mitte entstand ein gewaltiger Strudel, aufgewirbelt schlugen die Wassermassen durcheinander, in einem tiefen Grollen bebte der See um die kleine Insel herum, dann explodierte die Oberfläche in einer gewaltigen Fontäne, schoss empor und tauchte die Welt in Wasserdampf, veränderte sie.
„Ich habe euer Schicksal nicht geschrieben“, schrie er gegen die Wand aus Gestalten, die er nun erkannte, jeden Einzelnen, der ihm Schlechtes getan hatte,
„ich habe keine Verantwortung für euch“, schrie er und
„ihr könnt mich nicht mehr erschrecken“.
„Ich weiß, dass du es nicht absichtlich getan hast“,
sagte er zu dem vorwurfsvollen Gesicht einer alten Jugendliebe, die ihn bitter und schmerzhaft betrogen hatte,
„ich verzeihe dir, sagte er zu dem kleinen dicken Jungen, der ihm auf dem Schulweg immer aufgelauert hatte,
„es tut mir leid“, zu dem unvergessenen Obdachlosen, der ihn immer auf dem Weg zur Universität gegrüßt hatte, aber der dann doch gestorben war, bevor er sich durchgerungen hatte, ihm etwas zu geben,
„ich habe keine Angst mehr vor dir“, sagte er zu dem kahlrasierten Schläger, der ihm genau sechs unvergessene Male in seiner Jugend in das Gesicht geschlagen hatte.
Und die Gestalten wichen zurück, als er sie erkannte.
„Ihr habt keine Macht über mich“, sagte er schon leiser und betrachtete sie. In meinem Lebensfluss wart ihr nichts als kleine Steine, die vielleicht kurzzeitig das Wasser aufwirbelten, niemals aber“, und er lachte vor Geringschätzung
„niemals aber die Laufrichtung verändern konnten.“
„Und es gab auch nicht nur Schlechtes in meinem Leben“, sagte er zum neuen König, ich habe viele andere, habe schöne Erinnerungen“, sagte er und dachte an die Mutter, wie sie in der Küche stand, stand und nicht lag, wie sie manchmal gesungen hatte, während sie in den Töpfen rührte, dachte an Kindergeburtstage, die ersten Kurzgeschichten, Preise, Publikationen, dachte an Luisa und er sah sie lächeln.

Das dreizehnte Kapitel

Es war einer der schönsten Momente in seinem Leben gewesen, die Erinnerung, die er gesucht und so schmerzlich vermisst hatte, nicht das erste Lächeln, als sie sich kennengelernt hatten, es war ein anderer Moment gewesen, im Kaminzimmer, in dem sie auf dem Rattansessel und er in dem Ohrensessel gesessen hatten. Er hatte an einer Kurzgeschichte geschrieben, sie gelesen und so, wie er es manchmal tat, wenn er schrieb, hatte er zuweilen mit leerem, weil abwesenden Blick in ihre Richtung geschaut. Und obwohl er mit den Gedanken tief in den Assoziationsketten seiner Figur gehangen hatte, hatte er sie gesehen, vielleicht genauer gesehen als jemals zuvor und gedacht, dass sie wunderschön war. Er hatte die Geschichte vergessen und sie beobachtet, wie sie dort saß, hatte das Glück gefühlt genau sie unter Millionen von Fremden gefunden zu haben, war mit seinem Leben, sich selbst im Reinen gewesen, hatte sie in diesem Moment mehr geliebt, als er es jemals für möglich gehalten hatte. Und genau in jenem Augenblick, jener Eruption der Gefühle hatte sie aufgeblickt, hatte seinen Blick bemerkt und gelächelt. Es war ein zeitloser, ein ewiger Moment gewesen, einvernehmliches Glück, das den Körper so vollständig ausfüllte, dass kein Platz mehr für Gedanken blieb. Luisas Lächeln und der Moment, in dem er glücklich gewesen war.
Die Erinnerungen sprudelten nur so hervor, Luisa mit Skimütze, als sie im Urlaub gewesen waren, Luisa, die gerade erwacht war und mit verträumten Augen nach ihm suchte, ihr Kopf an seiner Schulter, wie sie gejubelt hatte, als damals sein neues Buch erschienen war. Für jede Erinnerung, die er nun fand und bewunderte, wichen die Gestalten um ihn herum zurück, wurden blasser und kleiner, fast durchsichtig, bedeutungslos. Sein Lächeln, nicht sein Hass trieb sie zurück in die dunklen Wälder. Irgendwann lag die Straße wieder verlassen vor ihm, nur der neue König stand bewegungslos an seinem Platz.
„Wer bist du?“, fragte er den neuen König und nun hatte seine Stimme die Macht ihm zu befehlen.
Wieder lachte der neue König und zeigte sich ungerührt vom Geschehen.
„Ich“, sprach er ohne einen Hauch von Schonung, „ich bin deine Schuld,
ich bin das, was du vergessen willst, aber nicht kannst.“
Und dann zeigte sich der neue König, entdeckte sich selbst, warf die Schemen und Schatten wie einen Umhang von sich fort und es war nur ein kleiner Junge, ein Junge, den er erkannte.
„Du bist an mir vorbeigegangen“, sagte der kleine Junge und jedes Wort war nun eine Anklage. Mit einem Schlag traf ihn die Faust der Erkenntnis, er verstand nun, er begriff die Folgen, die nicht nur an diesem Ort, sondern auch in der Realität mit diesem Gesicht verbunden waren.

Es war Nacht gewesen und er war von einer jener zahlreichen Feiern nach Hause gegangen, die ebenso wie Referate, Handouts und Bürokratie zu seinem Studium gehört hatten. Es war eine Feier gewesen, das wusste er noch, obwohl er sich nicht mehr erinnern konnte, was oder wer gefeiert worden war. Eine Feier, an deren genauen Verlauf er sich nicht erinnern konnte, weil sie wie alle Feiern jener Zeit aus den gleichen Elementen zusammengesetzt war. Eine bunte Ansammlung introvertierter Menschen, die sich für intelligent hielten, dazwischen extrovertierte Selbstdarsteller, die sich gegenseitig mit ihren Meinungen überschrien, laute Musik und Alkohol, Rauchschwaden, Banalitäten und sich lichtende Haarkränze. Ein Abend, der nicht lange im Gedächtnis blieb, aber auf dem Heimweg, auf dem Heimweg war dann etwas Schlimmes geschehen. Er war betrunken gewesen, hatte sich an einem der damals obligatorischen Trinkspiele beteiligt, geistlos mit den anderen gelacht, irgendwann nur noch mit gläsernen Augen vor sich hingestarrt und später den gewohnten Heimweg allein den Füßen überlassen. Dann hatte er es auf einmal gehört, das Weinen eines Kindes, unüberhörbar verzweifelt, direkt vor ihm, in einem Hauseingang. Nur weil eine Laterne nicht allzu weit entfernt ihr Licht bis dorthin sandte, hatte er ihn sehen können, einen kleinen Jungen, der fremd und verlassen in der Kälte zitterte. Er hatte ihm angesehen, dass er nicht wusste, wo er war, innerhalb von kürzester Zeit hatte er trotz totalem Rausch die Situation begriffen, ein kurzes Aufblitzen von Klarheit und dann betrunkene Entrüstung, dass dieses Kind seinen Heimweg störte. Es wäre verantwortungslos gewesen, ihn dort sitzen zu lassen und obwohl er nicht im geringsten Lust auf die Konsequenzen, Erklärungen, vielleicht sogar Polizei, Komplikationen, Schwierigkeiten hatte, musste er ihm wohl helfen.
„Ich bin an dir vorbeigegangen“, wiederholte er die Worte des neuen Königs und dachte, dass da noch mehr war, dass er sich erinnern würde, wenn er sich nur anstrengte, Leerstellen füllte, die sich um den Jungen reihten. Nacht war es gewesen, Neumond, Nacht und Gelächter, betrunkenes Gelächter, Metall, das gegen Glas schlug, Stiefeltritte auf dem Asphalt, die ihm entgegenkamen und dann sah er sie im Schein einer entfernten Laterne auftauchen, einen ganzen Haufen betrunkener, aggressiver Jugendlicher, fünf oder sechs, unkontrollierte Wut und kahlrasierte Schädel, Tritte gegen parkende Autos, Wutschreie, all dies wahrgenommen in Sekundenbruchteilen, gerade in dem Moment, als er sich dem Jungen zuwenden wollte, die schmerzhafte Gewissheit, dass er sich entscheiden musste.
Die Autos parkten auf der Straße und waren bis dicht an den Bürgersteig herangefahren worden, so dass der Gehsteig für die nächsten Meter verengt war, einen Tunnel bildete, in dem er auf die Jugendlichen treffen würde. Der Tunnel, der genau an dem Hauseingang begann, in dem der kleine Junge saß.
„Vorbeigegangen“, murmelte er.
Zunächst war er stehengeblieben, außerhalb des Lichtkegels, in dem der Junge saß, stehengeblieben ein Stück weit vor der künstlichen Verengung des Weges und dann war er…
…war er… vorbeigegangen, rechts an den Autos vorbei, verborgen und mit wild pochendem Herzen, verfolgt von den Blicken des Jungen, der ihn entdeckt hatte.
Weil die Jugendlichen den Jungen sahen, achteten sie nicht auf ihn und doch zuckte er zusammen, als er sie stoppen und er ihre rohen und brutalen Stimmen über die Straße peitschten hörte. Er bog gerade um die rettende Ecke, als er jenes Geräusch hörte, das er vergessen hatte, diesen dumpfen bösen Laut, den er erfolgreich verdrängt hatte, das Geräusch, das entsteht, wenn man mit aller Kraft gegen einen nachgebenden Gegenstand trat, ein dumpfer Knall, der sich wiederholte, keuchender Atem, dann Fußgetrampel, das Klirren von Scherben, die Stimme des Jungen, der laut und verzweifelt um Hilfe rief, Rufe, von denen er wusste, dass sie ihm galten und er war gelaufen und je schneller er lief, desto sicherer war er gewesen, dass sie ihm folgten, immer wieder glaubte er ihre Stiefel auf dem Asphalt, ihre sich gegenseitig anfeuernden Schreie in seinem Rücken zu hören, bis er das Haus erreichte, mit rasenden Fingern die Tür öffnete.
Erst als er sie hinter sich zugeworfen hatte und sein Atem sich langsam beruhigte, obsiegte die Scham und das schlechte Gewissen, Zorn über die eigene Feigheit, der Wunsch umzukehren und das Wissen darum, dass er dies nicht tun würde, dass es ohnehin zu spät war und all diese Emotionen stiegen mit der Erinnerung in ihm auf, all dies fühlte er, als er den neuen König betrachtete, der nichts als ein kleiner Junge und zugleich Sinnbild seiner schlimmsten Schuld war.

„Es tut mir leid“, sagte er und fühlte grenzenloses Mitleid, das aber nicht dem neuen König
– denn dieser war nur eine Projektion seines Unbewussten – sondern dem Fremden aus der Bar galt, in dem er nun den kleinen Jungen erkannte, in dessen Brief er nun die bittere Wahrheit las, dessen Behinderung möglicherweise Folge seiner eigenen Feigheit war.
Er begann zu zittern.
Diese Erinnerung, die so lange unbemerkt unter Oberfläche gelegen, gewachsen war, schließlich als neuer König eine Gestalt bekommen hatte, stellte die entscheidenden Postulate seiner Selbsttheorie in Frage. Hätte ihn einmal jemand gefragt, er hätte sich als hilfsbereit, als moralisch, in einem eng begrenzten Sinne vielleicht sogar als mutig bezeichnet, doch die Erinnerung widersprach nicht nur, sie vernichtete diese Einschätzung. Das Leben hielt immer Prüfsteine bereit, oft nur einer in einem langen Leben, selten zwei und egal wie man lebte, wie Überzeugungen und Ideale im Kopf verteilt waren, dies war der Moment, wo man es beweisen konnte, beweisen musste, der Moment, der zählte und er hatte versagt, war davongelaufen, hatte trotz besseren Wissens das Falsche getan und nun, gut 20 Jahre später, bekam er die Rechnung dafür präsentiert.
„Es tut mir leid“, sagte er noch einmal, diesmal zum neuen König, der die Gestalt dieses Jungen trug.
Der neue König sah ihn lange an, doch da war kein Triumph mehr, er begriff, dass er verloren hatte.
„Vernichte uns nicht“, sagte der neue König.
„Auch wir sind ein Teil von dir“
und „es steht in deiner Macht“, bat der neue König, während er mit den Knien in den Staub der Straße sank.
Verwirrt betrachtete er die zusammengesunkene Gestalt, den kleinen dürren Jungen, der nun ungefähr die Haltung eingenommen hatte wie damals, als er an ihm vorbeigegangen war.
Er hatte gewonnen, sich durchgesetzt, seine Gedanken verteidigt, doch da war kein Triumph.
Er spürte, wie es ihn fortzog, dachte an den Fremden in der Bar, seine Schuld, sah die Realität und wollte fort. Zögernd trat er nach vorne zu dem Jungen, der überhaupt nicht mehr an einen König erinnerte.
„Ich werde euch Frieden schenken“, sagte er noch und strich dem Jungen durch die schmutzverkrusteten Haare, dann verblasste die Welt um ihn herum und schließlich auch er selbst.

Er dachte, dass er gewonnen hatte, als er den Stift beiseite legte und wieder in seinem Kaminzimmer, in dem Ohrensessel saß, dann dachte er sofort an den Fremden in der Bar und fühlte sich schuldig. Dieser Mann, der ihm so beherrscht, so ruhig gegenübergesessen hatte, sah in ihm – und das womöglich zu Recht – den Zerstörer seines Lebens. Er hatte zwar nicht selbst zugeschlagen, aber er hatte es geschehen lassen, hatte weggesehen. Seine Tatenlosigkeit erschien ihm rückblickend nicht nur beschämend und feige, unerklärlich war es, dass er nicht zumindest die Polizei gerufen hatte, ebenso unerklärlich wie das totale Vergessen dieses Erlebnisses, das in seinem Unterbewusstsein eine so wichtige Rolle gespielt hatte. Er hatte versagt, als Mensch und als Bürger. Tiefes Mitleid füllte seinen Kopf und er dachte, dass er sich entschuldigen, dass er zumindest versuchen musste es zu erklären. Sofort dachte er an die Bar, blinder Aktionismus ergriff ihn, die Bar, Kings Cross, der einzige Anlaufpunkt, der ihn zu dem Fremden führen konnte und erst, als er sich erheben, aufstehen wollte, in Gedanken schon bei Mantel und Haustür war, fiel ihm auf, wie schwach er war, dass die Beine ihn kaum trugen. Erschrocken bemerkte er die eigene Schwäche, musste sich auf dem Couchtisch abstützen, um nicht zu stürzen. Hunger verdrängte jeden anderen Gedanken, dann Durst, übermächtiger Durst. Er musste viele Stunden, wenn nicht tagelang geschrieben haben. Die Sonne verwies auf Spätnachmittag, doch bot keinen wirklichen Anhaltspunkt. Er entdeckte zwei Bleistiftstummel, die neben einem Berg von Spitze auf dem Tisch lagen, einen weiteren hielt er noch immer in der Hand, die Schublade, in der die anderen lagen, stand weit offen, die Schrift in seinem aufgeschlagenen Notizbuch war kleiner und kleiner geworden, vier Zeilen füllten eine, ein weiterer Stummel auf dem Boden, die Hände taten weh, Kopfschmerzen, die Zigarettenpackung, die Flasche Rotwein, leer. Er sank wieder zurück in den Ohrensessel, erst einmal tief durchatmen, vollkommen kraftlos, der übermächtige Drang zu schlafen, er sah alles verschwommen, aber da war auch der Durst, der jeden Atemzug mit Schmerz füllte und er dachte, dass er in die Küche zum Wasserhahn laufen musste, dass er vielleicht elendig verdursten, an seiner trockenen Zunge ersticken würde, wenn er jetzt einschlief. Die plötzliche Todesangst weckte versteckte Kräfte in ihm, wieder versuchte er aufzustehen, wieder gaben die Beine ächzend nach, es knackte in den verrenkten, schon lange nicht mehr durchbluteten tauben Stümpfen. Er fiel, kroch, mit grotesken, furchtbar anstrengenden Bewegungen, zog sich vorwärts über den Teppich, die Fliesen, schließlich durch die Küchentür. Hier wurde ihm schwarz vor Augen und er biss sich mit einer wilden Bewegung in den Arm, spürte keinen Schmerz, biss heftiger, tiefer, schmeckte Blut auf der Zunge, dann erreichte er irgendwie den Kühlschrank, griff, was er erreichte, Milch, noch nicht sauer, fragte sich noch, wie lang es wohl dauerte, bis Milch im Kühlschrank sauer wurde, trank, gierig, Milch lief hinunter über sein Kinn, schlucken, trinken, dann Bewusstlosigkeit. 

„Das ist Traum und Deutung zugleich“, sagte Sigmund, der in einer inzwischen irgendwie vertrauten Position auf dem Rattansessel saß, sich hemmungslos von dem Rotwein bediente und dabei ein Lächeln im Gesicht trug, das ihn zornig machte.
„Warum haben Sie mir das nicht gesagt?“, fragte er und konnte die Wut in seiner Stimme nicht verbergen. Es war unfair gewesen, den kleinen Jungen vor ihm zu verheimlichen, so viel Ärger und Schmerz wäre ihm erspart geblieben, wenn er es von Anfang an gewusst hätte.
„Hätten Sie es denn geglaubt?“, fragte Sigmund amüsiert zurück und beantwortete dann die Frage selbst: „Nein, Sie hätten es nicht geglaubt, Sie mussten es selbst erfahren. Es ist nicht die Aufgabe des Psychoanalytikers Antworten zu geben oder Diagnosen zu stellen“, sagte er belehrend, „es ist die Aufgabe unserer Zunft, den Patienten selbst die Antworten und die Diagnose finden zu lassen.“
„Du bist doch gar kein Psychoanalytiker“, konnte er sich nicht beherrschen zu antworten.
„Du bist doch gar nicht real, ich weiß gar nicht, was du bist“, schrie er und es tat gut zu schreien und der Wut über sich selbst einen neuen Adressaten zuzuweisen.
Sigmunds Lächeln wurde breiter.
„Spüren Sie diese Widerstände?“, fragte er und schlug das rechte Bein recht kokett über das linke, ein kleiner bärtiger Mann, dessen Charme er sich nicht entziehen konnte.
„Was erscheint Ihnen denn realer?“, fragte Sigmund, „ein therapeutisches Gespräch in Ihrem Kaminzimmer oder der Kampf mit einem König, der nichts als sublimierte Personifizierung eines traumatischen Erlebnisses ist, oder ist es etwa der reale Widerpart Ihrer Schuld, der kleine Junge, an dem Sie vorbeigegangen sind“, eine Entscheiodungsfrage in der Tonlage jener antiquierten Herzblattmoderation, „jener Junge, der nun Mann ist und der Ihnen Briefe in der Handschrift Ihrer toten Mutter schreibt? Woran ermessen Sie denn Realität“, fragte Sigmund interessiert und ließ keine Zeit für einen Einwand.
„Die Realität, mein Freund“ – er sagte wirklich „mein Freund“ –, „die Realität ist immer nur ein kleiner Teil des Ganzen.“
Es blieb einige Momente still, während er über das Gesagte nachdachte, während er überlegte, ob dieser Sigmund gerade alles oder nichts verraten hatte.
„Wie kann er mir Briefe in der Handschrift meiner Mutter schreiben?“, fragte er Sigmund und dieser fragte zurück:
„Wie hat er das nur gemacht?“
„Er hat es gelernt“, war seine Antwort, die erste, die ihm einfiel und deren Tragweite ihn erschreckte.
„Wie hat er es wohl gelernt?“, fragte Sigmund und er antwortete:
„Die Alben, er muss in den Alben gelesen haben.“
„Wie konnte er an die Alben kommen?“, fragte Sigmund und es gab nur eine Antwort.
„Er war hier“, sagte er und seine Worte verblüfften ihn,
„er war hier“, murmelte er vor sich hin, „die ganze Zeit hier“, und in dem Moment, in dem ihm bewusst wurde, dass dies die Antwort, die Erklärung war, klingelte die Eieruhr in der Küche und als er wieder hinüber zu Sigmund blickte, hatte dieser bereits seinen Hut aufgesetzt.
„Wir werden uns noch einmal begegnen“, sagte er im Gehen und als er ungefähr in der Mitte des Raumes angelangt war, wandte er sich noch einmal um.
„Sie müssen mehr essen“, sagte er freundschaftlich.
„Ein gesunder Geist wohnt nur in einem gesunden Körper.“
Er konnte ihn noch einmal lachen hören, als er im Flur war, das Lachen eines verschrobenen Intellektuellen, der sich schon lange nur noch über die eigenen Witze amüsierte, lachen, dann war es still.

Als er wieder zu sich kam, lag er vor dem Kühlschrank auf dem Küchenboden, ungefähr dort, wo Luisa gelegen hatte, als das Unsägliche geschehen war, ungefähr dort, wo sie aufgeschlagen war, nachdem er den Strick durchtrennt und sie wie eine riesige Puppe über die Arbeitsplatte hinabgerutscht war. Wieder fühlte er sich zu schwach um aufzustehen, doch diesmal ging es besser, keine Todesangst, aber immer noch Hunger und immer noch Durst, furchtbarer Durst. Er musste sich übergeben haben, während er bewusstlos war, denn er fand sich in einer klebrigen und stinkenden Lache wieder, rutschte beim ersten Versuch mit den Händen darin weg, dann gelang es aufzustehen und während er wie ein Säugling am Wasserhahn hing und trank, dachte er, dass er hätte ersticken können und dass es Glück – kein Zufall – war, dass sein Kopf, und damit auch die Zunge, zur Seite gefallen war, so als hätte ihn ein unsichtbarer Helfer in die stabile Seitenlage gezwungen. Draußen war es finsterste Nacht, vielleicht drei oder vier Uhr und er dachte an die Worte Sigmunds.
„Er war hier“, murmelte er.
Mit diesen drei Worten änderte sich die gesamte Situation. Er war nicht zufällig mit jemandem zusammengetroffen, dem er einmal ein Unrecht angetan hatte, dieser Fremde, der erwachsene kleine Junge, hatte ihn beobachtet, war in diesem Haus gewesen, hatte vielleicht mit einem psychotischen Glanz in den Augen Stunde um Stunde neben seinem Bett gewacht, während er schlief. Mit dem Wissen, dass es jemanden gab, der ihn hassen musste, der womöglich in seinem Haus gewesen war, ergab sich ein bunter Strauß von erschreckenden Möglichkeiten, dachte er, während er trank. Wie verrückt musste jemand sein, der so lange die Handschrift seiner Mutter geübt hatte, bis sie ihr unverkennbar glich, welcher wahnsinnige Gedanke hatte ihn wohl angetrieben, als er die vielen Kringel gezeichnet und in einem wahrscheinlich spontanen Einfall von Ironie dieses Ausrufezeichen gemalt hatte? Der Gedanke machte ihm Angst und während er alles, was auch nur im Entferntesten essbar war, auf ein Tablett lud, um es hinüber ins Kaminzimmer zu tragen, arbeitete sein Verstand fieberhaft und er überlegte, was er als nächstes tun konnte.
Der erste Gedanke eines aufgeklärten Staatsbürgers, der von einem potentiellen Psychopathen bedroht wird – wie emotionslos hatte er ihm gegenübergesessen – war der Beistand der Polizei, der Helfershelfer der Gerechtigkeit, doch obwohl ihm dieser Gedanke zunächst gefiel, einfach weil er eine Verlagerung der Verantwortung bedeutete, schreckte er doch vor ihm zurück. Noch immer brannte in ihm ein schlechtes Gewissen und auch die Tatsache, dass das Eindringen eines Unbekannten in sein Haus lediglich durch die geschickten Fragen eines eingebildeten Psychoanalytikers herausgekommen war, erschien ihm nicht stichhaltig genug, um zu einer Anzeige auszureichen. Überhaupt war auch das Motiv des Fremden zu dürftig um einem überforderten Schichtdienstler verständlich zu sein.  Schließlich hatte er nicht selbst zugeschlagen, vorbeigegangen war er, die Laufrichtung geändert. 20 Jahre waren eine lange Zeit
und zudem hatte der Mann ihm nichts getan, hatte ihn in keiner Weise angegriffen, obwohl er, falls er tatsächlich da gewesen war, reichlich Gelegenheit dazu gehabt hätte; alleine in der Zeit, als er besinnungslos in dem Ohrensessel, besinnungslos auf dem Küchenboden gewesen war. Die Entwendung eines Albums war ein verschmerzbarer Verlust, zumal er nicht glaubte, dass eines von ihnen fehlte.
„Was wiederum bedeutet, dass er zumindest zweimal in deinem Haus war und es zurückgebracht hat“, sagte eine innere Stimme und er verschluckte sich an seinem überladenen Sandwich.
In dieser Nacht konnte er trotz aller Erschöpfung nicht schlafen. Obwohl die Kulisse seiner Wohnung noch immer die gleiche war und ihn unverändert umfing, hatte sich alles verändert.
Wie ein Kind lag er in seinem Bett und horchte auf verdächtige Geräusche, obwohl er noch eine ganze Stunde lang das große Haus abgesucht hatte, das eine ganze Reihe von potentiellen Verstecken bot. Immer wieder, wenn er die Augen schloss, glaubte er ein Geräusch zu hören und jedes Mal, wenn er die Augen aufriss, rechnete er mit einer fremden Gestalt neben seinem Bett. Irgendwann stand er dann wieder auf, schaltete alle Lichter ein und ging hinunter ins Kaminzimmer, wo er noch einige Stunden in sinistrer Spannung verweilte, irgendwann doch einschlief und erst erwachte, als es bereits wieder hell und Mittag war.   


Das vierzehnte Kapitel 

Er erwachte mit schmerzendem Rücken in dem Ohrensessel, brauchte erst eine Weile, um sich zurechtzufinden, dann kehrte Schlag auf Schlag die Erinnerung zurück, die Konfrontation mit dem neuen König, die Erkenntnis, wer dieser war, das Gespräch mit Sigmund und dann der Fremde, der womöglich zweimal in seiner Wohnung gewesen war. Mit der Distanz, die man zwangsläufig gewann, wenn man eine Nacht über eine Sache geschlafen hat, − so kurz und zerrissen der Schlaf auch gewesen war –  erschien ihm seine Panik am letzten Abend übertrieben. Das Haus verfügte seit einem Einbruch vor einigen Jahren über ein modernes Sicherheitsschloss, es war unwahrscheinlich, dass tatsächlich jemand bei ihm eingedrungen war. Auch wenn er nun die Beweggründe des Fremden durchschaute, war er sich nicht sicher, ob diese den Anderen in sein Haus geführt hatten. Es konnte auch alles Zufall sein, doch dieser Zufall hatte einen schalen Geschmack. Zu viele Zufälle hatten sich in den letzten Tagen aneinandergereiht. Als er mit schmerzenden Gliedern in die Küche trat, gesellte sich auch die Erinnerung an die Bewusstlosigkeit vor dem Kühlschrank zu seinen übrigen Gedanken. Der ganze Raum hatte den bitteren Geruch seines Mageninhaltes angenommen, der Boden war besudelt mit Milch und Rotwein, in dem er auch den einen oder anderen Fetzen seiner Magenschleimhaut zu entdecken glaubte, ein unappetitliches Bild, gerade dann, wenn man soeben aufgestanden ist. Er riss die Fenster auf, stand zitternd eine Weile in dem kühlen Luftzug, dachte, dass es Winter wurde, die Tage langsam kürzer und kälter. Während die Kaffeemaschine stampfend und pumpend Wasser durch den Filter presste und den Geruch in der Küche um eine weitere Note bereicherte, suchte er unter der Spüle nach einem Lappen und begann dann den Boden zu wischen. Ganz im Sinne der antiken Katharsislehre hatte er das Gefühl, mit dieser symbolischen Reinigung – und den Affekten, die ihm dabei durch den Kopf schossen – ausgeglichener und ruhiger zu werden. Immer wieder zog er den nassen Lappen über den klebrigen Boden und wrang ihn mit aller Kraft im Spülbecken aus. Monotone Bewegungen halfen ihm immer beim Nachdenken, boten dem Geist die Möglichkeit sich in den Körper zurückzuziehen, sich mit Eigenem zu beschäftigen, wenn die Bewegungen mechanisch waren. Luisa hatte sich immer um den Haushalt gekümmert – er war einkaufen gegangen – und es war eine langwierige Umstellung gewesen, nun die Verantwortung für Schmutz und Verwahrlosung bei sich selbst zu suchen. Sie fehlte ihm so sehr. Das stand außer Frage.
Als er den Spüllappen erneut auswrang und sich dabei ihr Lächeln vor Augen rief, stießen seine Finger auf etwas Ungewohntes, Unerwartetes, ein kleines Stück Aluminium, das er überrascht aus dem Lappen befreite. Es war ein Teil von einer Folie, mit der in den Medikamentenpackungen die Pillenfächer versiegelt wurden, es war sogar ein Teil des Schriftzuges lesbar, „ha“ stand dort und ein halbes „r“, das aber vielleicht auch ein „i“ war. Erstaunt betrachtete er es von allen Seiten. Zweifellos war es das, was überblieb, wenn man eine Tablette aus der Packung drückte, aber er nahm keine Tabletten, nicht einmal Aspirin.
Schon in seiner Kindheit waren Tabletten in ihrem Haus verpönt gewesen. Seine Mutter hatte immer gesagt, dass ein heißer Tee und eine gesunde Mahlzeit die gleiche, aber dabei natürliche Wirkung hatten, und solange keine schwerwiegende Krankheit sein Leben bedrohte
─ hier unterschied er sich von Scientologen –, war er diesem Credo gefolgt. Natürlich gab es einfache Erklärungen für diese Folie, so wie es immer einfache Erklärungen gab. Die wahrscheinlichste, dass ein Windstoß gemeinsam mit den aerodynamischen Flugeigenschaften des Folienstücks ausgereicht hatten, um dieses durch das angelehnte Fenster zu tragen. Trotzdem irritierte es ihn, einfach weil es fremd war, nicht hierhin gehörte und weil die Kausalkette aus Wind und Flug erneut einen Zufall darstellte. Sorgsam glättete er es und steckte es unbewusst vorsichtig, fast zärtlich in seine Brieftasche, so als hätte es eine besondere Bedeutung oder würde noch eine solche erhalten.
Inzwischen war der Kaffee durchgelaufen, hatte den üblen Geruch soweit durch die Fenster hinausgetrieben, dass er freier atmen konnte. Der Boden war zwar nur notdürftig gereinigt, aber fürs erste genügte ihm dieser oberflächliche Glanz. Erst als er die Kanne hinüber ins Kaminzimmer trug, fielen ihm die vielen Fußstapfen auf, all der Schmutz, den er aus der Küche ins Kaminzimmer, aber auch die Treppe empor ins Schlafzimmer getragen hatte.
Er beschloss dies zunächst zu ignorieren und ließ sich in dem Ohrensessel nieder, goss die Tasse voll, während er darüber nachdachte, wie er an diesem Tag vorgehen wollte.
Alles in ihm drängte nach einer Aussprache mit dem fremden Mann, die Frage war nur, wie er am besten mit ihm in Kontakt treten konnte. Es war unwahrscheinlich, dass die Bar bereits am frühen Nachmittag geöffnet hatte, doch er beschloss es einfach zu versuchen. Ein Gefühl sagte ihm, dass dies der richtige Weg, das nächste Ziel war, und nachdem er ausgiebig gefrühstückt hatte, machte er sich auf den Weg.

Es war einer jener tristen Tage, dachte er, als er hinaus auf die Straße trat, einer jener Tage, an denen man besser zuhause blieb. „Wohl dem, der jetzt noch - Heimat hat!“, hatte Nietzsche wohl bei einem ähnlich trüben Wetter geschrieben. Dicke Wolken kündigten bereits Regen an und verbargen die Sonne, so dass alles in ein düsteres Licht getaucht war. Zielstrebig ging er den vertrauten Weg zur Straßenbahnhaltestelle und musste nicht lange warten, bis ein Waggon vor ihm hielt und die Türen sich öffneten. Die gesamte Fahrt über versuchte er sich vorzustellen, wie er auf den Fremden treffen würde, über den er nun Bescheid wusste, dessen Geschichte er nun zumindest soweit kannte, wie sie ihn betraf. Obwohl es unwahrscheinlich war, dass er ihn finden würde, war dort das Gefühl eines nahenden Zusammentreffens, so als liefe alles auf diesen Moment hinaus, wo er nun wissend in die fremden Augen blicken würde. Das Schild „Kings Cross“ war nicht beleuchtet, so wie er es erwartet hatte und trotzdem stieg er aus und ging auf die Bar zu, die der einzige Bezugspunkt zu dem Fremden war.
Wieder war es ein Zufall, der ihn weiterführte, Zufall oder Bestimmung, inzwischen war er sich nicht mehr sicher, denn unverhofft öffnete sich die Tür zur Bar und der Kellner, an den er sich dunkel erinnerte, trat heraus in den düsteren Nachmittag.
„Ich wusste, dass Sie kommen“, sagte er, ein kräftiger, aber unauffälliger Mann, dessen Oberarme wahrscheinlich nicht nur durch das Spülen von Gläsern so hervortraten.
Irritiert gab er ihm die Hand.
„Ich habe etwas für Sie“, sagte der Kellner.
„Er hat mir gesagt, dass Sie heute kommen würden, nur in der Zeit hat er sich gehörig vertan. Ich habe früher mit Ihnen gerechnet“, sagte der Mann, und während er ihn noch überrascht
und somit schweigend ansah, drückte er ihm einen gefalteten Zettel in die Hand.
„Das wär’s dann wohl“, sagte der Mann von der Bar und er sah seinem Lächeln an, dass er sich soeben ein gehöriges Trinkgeld verdient hatte.
„Viel Spaß“, sagte er noch und verriet damit seine Indiskretion, verriet, dass er etwas über den Zettel wusste, dann verschwand er durch die Tür, aus der er hinausgetreten war und schloss sie zweimal ab, irgendwie endgültig. Alleine blieb er zurück, während er die ersten Regentropfen auf dem Kopf spürte. Er flüchtete sich in einen Hauseingang, während die Intensität des Regens wuchs und schließlich derart stark auf das Pflaster hämmerte, dass das Geräusch alles übertönte.
Er entfaltete den Zettel.
„Die psychiatrische Klinik St. Luisa veranstaltet einen Tag der offenen Tür. Angehörige und Freunde sind herzlich eingeladen, auch außerhalb der regulären Öffnungszeiten unsere Einrichtung zu besuchen“, stand dort in einer auf billigem Papier gedruckten Schreibschrift, notdürftig verziert mit einigen traurigen Blumen, die fast zynisch an ihrem Platz wirkten. Das Datum, das unter den Satz gedruckt war, nannte den heutigen Tag, da war er sich sicher, ohne ihn zu kennen, die Adresse lag nicht weit entfernt, leicht zu Fuß zu erreichen.
Unter den Vordruck war handschriftlich etwas hinzugefügt, „Herzlichst Ihr Ludwig Tieck“, stand dort und wieder war es die Handschrift der Mutter, die Erinnerungen hervorrief, genau wie der Name der psychiatrischen Einrichtung. „St. Luisa“, wieder war ein Zufall möglich, doch spätestens an diesem Punkt begriff er, dass der Andere keine Zufälle benötigte, dass alles, was mit dem Fremden zusammenhing, von langer Hand geplant, jedes Details erwogen und beschlossen war. Gerade als er aufbrechen wollte, als die Neugier ihn dazu drängte durchnässte Kleidung in Kauf zu nehmen, ließ der Regen nach – wieder einer dieser Zufälle – und da der Einladung eine kleine Wegbeschreibung beigefügt war, folgte er dem Weg, den der Andere für ihn ersonnen hatte.
Er ging die Straße entlang, wieder einmal folgte er einem Weg, und er ging langsam, obwohl es noch regnete, so langsam, wie es nur möglich war ohne aufzufallen. Sein Blick überflog die Auslagen hinter den Schaufensterscheiben, bunte Produkte, die sich in das Leben der vorbeiziehenden Passanten drängen wollten, doch seine Gedanken waren weit fort von seinem Körper und dem, was die Gesellschaft euphemistisch als Entertainment – er hasste dieses Wort –
bezeichnete. Hinter ihm lag der neue König, die Konfrontation mit diesem fiktiven Gegenspieler, der wohl nichts als ein Symbol für eine wirkliche, eine reale Schuld, einen realen Menschen war, der nun das Ziel dieses neuen und vielleicht letzten Weges bildete. Er verließ die breiten Einkaufsstraßen und der Weg führte ihn aus der Stadt hinaus, die traurigen Reihenhausfassaden wichen ebenfall traurigen großangelegten, bereits abgeernteten Nutzfeldern, in große Rechtecke zerteilte Flächen, die weder Natur noch Kultur waren, kein verschlungener Urwald, keine Bäume.
„Realität“, dachte er und fragte sich, warum es so einfach war, Wahnsinn und Sinnhaftigkeit auseinanderzuhalten. Er überwand den Drang schneller zu gehen, der ihn immer und automatisch überfiel, wenn der Blick bis weit in die Ferne reichte, das Ziel sich aber noch nicht ausmachen ließ. Der Wind wehte nur leicht, aber seltsam treibend in seinem Rücken, Rückenwind, der ihn auf sein Ziel zutrug. Wieder dachte er an das bevorstehende Gespräch, das Aufeinandertreffen, und immer wieder kreiste sein Verstand um jene Fragen, warum, warum erst jetzt, warum nach so vielen Jahren und zu welchem Zweck? Er hatte von vornherein ausgeschlossen, dass es dem Anderen, der sich Tieck nannte, um Geld, finanzielle Wiedergutmachung oder eine symbolische Entschuldigung ging – er hasste jenes Wort und den damit verbundenen Gedanken, dass Worte Schuld auch nur ansatzweise relativieren konnten –. Er ahnte, dass die Beweggründe des Anderen ernster waren, er fühlte die Ernsthaftigkeit geradezu, dachte, dass ihr Treffen einen anderen Sinn haben musste, der sich aber noch nicht entschlüsseln ließ. Was war wohl mit den anderen geschehen, mit jenen, die tatsächlich zugeschlagen hatten, was war ihre Strafe gewesen?
Mitten in dieser Gedankenflut, die ihm durch den Kopf schoss, entdeckte er eine alte hölzerne Bank, die einen verwitterten, aber stabilen Eindruck machte, eine verlassene Bank am Wegesrand, ein altes literarisches Motiv, und er beschloss sich zu setzen. Wildvögel hatten mit ihrem Kot Wildblumen um diesen Ort herum ausgesetzt, die umso mehr leuchteten, da die Felder vergiftet und nur die Nutzpflanzen giftresistent waren. Zufall war es wohl, der die Samenkörner an diesen Ort geführt hatte, Zufall auch, dass keine dieser Blumen ausgerissen und als spontanes Geschenk oder Entschuldigung – er hasste dieses Wort – missbraucht worden war.
Bequem saß es sich auf dieser Bank, die härter als der Ohrensessel sein Gewicht abfederte, aber doch weich genug war, um es eine Weile auszuhalten,
Cervantes hatte einmal geschrieben, dass der Weg bedeutender als die Herberge war und so durchdacht und geflügelt die Worte auch waren, ließ sich mit Fug und Recht auch das Gegenteil behaupten, dachte er, auf der Bank zwischen den Wildblumen. Wenn man die Symbole „Weg“ und „Herberge“ anders verstand, nicht Streben und Stillstand in ihnen sah, wenn man die Bank
– und was war diese im Reich der Metaphern anderes als eine Herberge – mit Kontemplation, Reflexion assoziierte und sie blindem Handeln, stumpfen Aktionismus gegenüberstellte, dann war die Bank ebenso wichtig wie der Weg, vielleicht wichtiger. Mit der fortschreitenden Beschleunigung der Gesellschaft waren die Momente selten geworden, in denen die Menschen einfach regungslos verharrten und nicht schliefen, mit vollem Bewusstsein innehielten und die Gedanken nach innen richteten. Er selbst kannte diese asketischen Momente zur Genüge
– immerhin spielte sich inzwischen ein Großteil seines Lebens in dem Ohrensessel, im Kaminzimmer ab –, doch trotzdem war es immer wieder ein beruhigendes Gefühl innezuhalten, mit voller Konzentration nichts zu tun, nicht zu handeln und den Blick in die Ferne schweifen zu lassen. Es war wohl ungefähr das, was Schopenhauer mit der Verneinung des Willens gemeint hatte, wenn auch nicht mit der gleichen Konsequenz und ohne den lähmenden Pessimismus. Wie immer beruhigte es ihn, in literarischen oder philosophischen „großen“ Gedanken zu denken, die eigenen Probleme wurden kleiner, belangloser, wenn man sich mit den Problemen der Menschheit beschäftigte. All die problembehafteten Fragen, die durch- und übereinander in seinem Kopf widergehallt waren, ließen sich jetzt ordnen und kanalisieren; mit jedem Atemzug wurde er ruhiger. Die Zukunft war und blieb unbestimmbar, der Gegenspieler größtenteils verborgen, unsichtbare Hände, die an den Fäden der Bestimmung zogen, doch ein entscheidender Punkt lag offen zutage und so deprimierend er auch war, er verhalf ihm zu einer gewissen Gleichgültigkeit: Er hatte nichts zu verlieren, niemanden mehr, der ihm etwas bedeutete und um den er sich gesorgt hätte. Er war allein, alleine auf dieser Bank zwischen den Wildblumen, alleine auf diesem Weg zwischen den Nutzfeldern, alleine in diesem Leben, irgendwo zwischen Geburt und Tod. Abgesehen von virtuellen Zahlen und Nullen – die Null hatte er niemals als Zahl akzeptiert – auf seinem Girokonto, besaß er nichts, das man ihm nehmen konnte, nichts als das nackte Leben und wie es im Volksmund hieß:
Einem nackten Mann kann man nicht in die Tasche greifen. Noch immer bezweifelte er, dass der Andere ihn töten wollte, ein solcher Vorsatz erschien ihm zu plump und bei der Energie und Weitsicht, mit welcher der Andere sein Netz gesponnen hatte, wäre er längst – hätte der Andere es nur gewollt - verbrannt, begraben und vergessen, nicht mehr da, aus dem Spiel genommen. Der Andere wollte irgendetwas von ihm und in diesem Moment entschied er, dass er es ihm geben würde. Der Knoten wäre dann zerschlagen, die Schuld beglichen, ihre Wege würden auseinandergehen und vielleicht würde er auf dem Rückweg erneut an dieser Bank halten, rasten und über den verbleibenden Rest seines Lebens nachdenken. Mit dieser Erkenntnis erhob er sich, strich wie verabschiedend mit dem Finger über das alte Holz, erschrak und fluchte über einen Splitter in seinem Finger, erhob sich und nach einer Weile konnte er in der Ferne den grauen Betonklotz des Psychiatriegebäudes auf einer Anhöhe ausmachen. 

Das fünfzehnte Kapitel

Die Frau am Empfangsschalter ging bereits auf die 60 zu, eine rüstige Frau, der man ansah,
dass sie wohl bereits einen Großteil ihres Lebens hinter dieser Schalter verbracht hatte, dachte er, als er in die Vorhalle trat. Sie wirkte wie einer dieser Menschen, die ihr Leben anderen weihten, keine Schminke, eine strenge Frisur, alles an ihr war zweckmäßig, nicht der geringste Versuch sich selbst zu verschönern, eine in sich selbst ruhende Person, eine irgendwie beruhigende Akzeptanz der eigenen Hässlichkeit. Über der Schalter hingen mehrere prall gefüllte Luftballons in verschiedenen Farben, Kindergeburtstagsatmosphäre, Tag der offenen Tür in der Psychiatrie.
„Ich würde gerne einen Herrn Tieck besuchen“, sagte er, als er sie erreicht hatte und zog den Zettel hervor, den ihm der Barmann gegeben hatte. „Ludwig Tieck“, ein Pseudonym, mit dem man wohl nur an einem bildungsfernen Ort bestehen konnte.
„Sind Sie ein Angehöriger?“, fragte die Frau mit einer distanzierten Stimme, irgendwie abwehrend, so als wollte sie ihre Schützlinge vor der Welt dort draußen beschützen.
„Ich bin ein alter Freund“, antwortete er und brachte ein Lächeln zustande.
„Wenn das so ist“, antwortete sie und lächelte nun auch. Wieder glaubte er in ihr Inneres zu blicken, nun war er nicht mehr einfach ein Fremder, sondern eine Art Überraschung, ein besonderes Ereignis in der Monotonie dieses Ortes.
„Herr Tieck war in den letzten Tagen so verschlossen“, sagte sie,
„Sie kennen ihn, ich muss das nicht erklären, aber in den letzten Tagen, er hat kaum etwas gegessen, ein wenig Abwechslung wird ihm guttun. Sie hätten ja bereits früher einmal vorbeikommen können“, sagte sie, mit einem vorwurfsvollen Unterton und ließ ihm keine Zeit zu antworten.
„Ich kenne das“, sprach sie weiter und kam dabei um den Schreibtisch herum.
„Anfangs, wenn jemand eingeliefert wird, drängen sich oft die Besucherscharen. Dutzende von Menschen tummeln sich um die armen Patienten, die doch oft gerade deshalb hier sind, um ein wenig Abstand von dieser bösen Welt dort draußen“ – sie sagte tatsächlich „böse Welt dort draußen“ – „zu gewinnen. Sogenannte Freunde geben sich die Klinke in die Hand, doch dann, wenn die Wochen verstreichen, wenn sich alle sattgesehen haben, wird es sehr schnell still hier. Die Menschen kommen eigentlich nicht gern hierhin“, sagte sie, als sie durch die Tür neben dem Schalter trat und er ihr folgte. „Dieser Ort erinnert sie an die Grenzen ihres eigenen Geistes, so viele fürchten sich vor diesen Mauern und dann, irgendwann, kommen nur noch Postkarten zu den Feiertagen, schließlich gar nichts mehr“, sagte sie, während er ihr durch die Gänge folgte und versuchte die Orientierung nicht zu verlieren. „Vielleicht ist das schrittweise Vergessen die beste Art Abschied zu nehmen, ich weiß es nicht, aber warum erzähle ich Ihnen dies alles?“, fragte sie und weil ihm nicht die entsprechende Floskel einfiel, um sie zum Weitersprechen zu ermutigen, schwieg sie, strich vor ihm über die Gänge, wie ein menschliches Irrlicht, dem er durch den Wahnsinn folgte, nickte energisch manchem der Patienten zu, die verloren auf dem Gang standen und nur gelegentlich langsam und betäubt zurücknickten. Vorbei ging es an Topfpflanzen mit traurig herabhängenden Blättern, Fenstern ohne Fenstergriffe, immer wieder wich er leeren Blicken aus, hatte das Gefühl, dass ihn dieser Ort aufsog, die surreale Angst, dass man ihn dort behalten, einsperren würde, wenn er sich falsch verhielt. Sie stoppten vor einer gläsernen Tür, hinter der ein dicker, fülliger Pfleger in weißem Kittel stand. Wieder schoss eine Welle der Angst in ihm empor, erschrocken betrachtete er die massive Tür, die sich hinter ihm schließen würde und die sich aus eigener Kraft wohl nicht mehr öffnen ließ.
„Ich lasse Sie nun hier alleine. Denken Sie daran sich abzumelden, wenn Sie gehen. Alles Gute“, sagte sie, ungefähr in der Tonlage, in der man viel Glück wünscht. Dann wandte sie sich ab und er folgte mit den Augen noch einige Momente den rhythmischen Bewegungen ihres fülligen und doch schwungvollen Gesäßes, fühlte sich verloren und ermaß die Möglichkeit sich einfach wegzudrehen, davonzurennen, diesen Ort und seinen Bewohner einfach zu vergessen. Der Pfleger öffnete die Tür, die mehrfach, er glaubte dreimal, abgeschlossen war und an die Stelle der durchaus bemühten Freundlichkeit der Empfangsdame trat nun der misstrauische Ernst dieses in jeder Hinsicht gewaltigen Mannes.
„Zu wem wollen Sie“, fragte er barsch, und er hatte nur mühsam seine Stimme unter Kontrolle, als er „Ludwig Tieck“ zurück flüsterte, jenes Zauberwort, das ihm Einlass in diese beklemmende Welt gewähren würde. „Sesam öffne dich!“
Mit groben Händen und übertrieben ruckhaften und einschüchternden Bewegungen tastete ihn der Mann ab, nahm ihm seinen Schlüsselbund weg und obwohl dies wohl alles Routine war, fühlte er sich entmündigt, so als wäre ihm die letzte Verbindung zur Außenwelt soeben abgeschnitten worden.
„Sie glauben nicht, was die alles hier reinschmuggeln“, sagte der Pfleger, mehr zu sich selbst als zu ihm, als er die Tür abschloss; diesmal war er sich sicher, dass es drei Umdrehungen waren. „Folgen Sie mir!“, schon nicht mehr der Tonfall, in dem man mit einem freien Mann sprach, bereits jener befehlende Unterton, der Konsequenzen androhte, wenn man sich nicht fügte. Er folgte ihm, rannte fast hinter den großen, weit ausholenden Schritten des Pflegers her. Hier gab es keine Topfpflanzen mehr, dafür Bilder von Pflanzen hinter bruchsicherem Glas und hinter den Fenstern ohne Griff entdeckte er weiße Gitter.
Sie bogen wieder um mehrere Ecken, standen schließlich vor einer Zimmertür, auf der die Nummer 1.003 und in stummer Ironie der Name des Dichters „Ludwig Tieck“ vermerkt war.
„Wenn Sie etwas benötigen“, sagte der Pfleger, der nun bereits in elliptischen Satzkonstruktionen sprach „der rote Knopf, direkt neben dem Lichtschalter, einfach drücken.“
Dann ging er grußlos davon und er fand sich alleine wieder, verlassen auf einem Psychiatriegang, lauschte in betretenem Schweigen auf ein wiederholtes wütendes Räuspern in einem anderen Zimmer, blieb einige Sekunden dort stehen, versuchte sich die richtigen Worte zurechtzulegen, fühlte die Versuchung des ansteckenden Wahnsinns auf das Räuspern zu antworten, schließlich trat er ein.

Der Fremde, der auch der kleine Junge war und der sich Ludwig Tieck nannte, saß genau in der Mitte des Raumes auf einem Rollstuhl, blickte vegetativ in Richtung der Tür, so als hätte er ihn genau in diesem Moment erwartet und darüber vergessen. Er war zunächst zu perplex, um etwas zu sagen, betrachtete einfach den fremden Mann, der nur entfernt an jenen Barbesucher erinnerte, den er kennen gelernt hatte. Hätte er nicht erlebt, wie dieser schwache, kraftlose Körper energisch argumentiert und über Literatur diskutiert hatte, wäre er auf die Tarnung hereingefallen. Er hätte nichts gesehen als einen hilfsbedürftigen schwachen Körper, jemanden, dem man in der Straßenbahn Platz machte, dem man aber nicht in die Augen blickte. Dieser Mensch war das personifizierte Elend, es gab keine Mimik in dem Gesicht, alles hing schlaff herunter, dazu diese Kraftlosigkeit, die gebeugte Haltung, kein Körpergefühl, so als wäre er auf den Stuhl gegossen worden. Der Scheitel, der am Abend in der Bar wie mit dem Messer gezogen die Haare geteilt hatte, war nun unordentlich bis zur Unkenntlichkeit verschoben und überwuchert, eine hilflose Person, dachte er, bis er die Illusion überwand und bewundern musste. Jetzt, wo er ihm gegenüberstand, diesem genialen Schauspieler menschlichen Leids, nun wo er mit eigenen Augen sah, wie perfekt dieser seine Rolle spielte, erschien alles möglich, jeglicher Zweifel vernichtet, ihm war alles zuzutrauen und er war sich nicht sicher, ob sie Feinde waren. Er wusste nicht, wie er das Gespräch beginnen sollte, begriff, dass er hier nach den Regeln des Anderen spielen musste, der ihn dort mit erschreckend echter Katatonie durchschaute, dem ein Speichelfaden aus dem Mund und in seinen grünen Pullover rann. Regungslos verharrte er an der Tür, musterte ihn, die verkrampften wie erstarrten Hände auf den Rollstuhllehnen, dann glaubte er eine Regung in dem abwesenden Gesicht zu entdecken, ein Zucken des Kopfes zur Seite, eine kleine Bewegung der Augen und er begriff, dass er die Tür schließen sollte, schloss sie, wendete ihm dabei kurz den Rücken zu, ließ ihn aus den Augen und als er sich wieder umdrehte, war eine erschreckende Veränderung mit seinem Gegenüber vor sich gegangen.

„Du weißt, wer ich bin“, sagte der Fremde und dann warf er mit einer einzigen wilden Bewegung alle Verkleidungen von sich ab. Die Augen verloren ihren uninteressierten, teilnahmslosen Blick, die Apathie wich glühendem Hass, die schlaffen Arm- und Beinmuskeln strafften sich vor Empörung.
„Ich habe dich dafür gehasst, verflucht, verachtet, aber niemals hätte ich auch nur gewagt zu denken, dass du mich vergisst, dass du deine Schuld einfach auslöschst, so lebst, als wäre nichts geschehen. Ich habe dich beobachtet, Jahr für Jahr beobachtet und ich konnte es nicht fassen, wie sorglos du dein vermeintliches Glück um dich zusammengeschart hattest, deine Frau, der wachsende Erfolg deiner Bücher. Ich habe jedes deiner Bücher gelesen, jede deiner Kurzgeschichten, immer wieder habe ich sie gelesen und nach einer Entschuldigung, nach dem schlechten Gewissen gesucht, Buchstabe für Buchstabe deine Sätze abgetastet und nichts als Überheblichkeit und Vergessen gefunden.“
„Es tut mir leid“, sagte er, „ich hatte selber Angst, ich war betrunken, was hätte ich tun sollen.“
Der Andere lachte ein böses Lachen, seine Augen leuchteten jetzt geradezu und in diesem Moment begriff er, dass er chancenlos war, dass der andere sich über Jahre hinweg auf dieses Gespräch vorbereitet hatte, dass er jede Antwort, die ihm einfiel, bereits erwarten würde.
„Du hättest alles verändern können. Mein ganzes Leben ist in dieser Nacht zerbrochen. Ich hatte keine großen Wünsche, wollte nichts besonderes“, er schwieg einen Moment, bezwang seine Wut, wurde fast grüblerisch, „ich habe das niemals verarbeitet, musst du wissen, sehe die Bilder noch heute, zusammengeschmolzene Synapsen, die sich nicht mehr entwirren lassen, immer wieder diese Bilder, jede Nacht, jeden Tag, dein Gesicht.
Wenn Du auch nur das kleinste Fünkchen Interesse gehabt hättest, ein schlechtes Gewissen, den Wunsch es wiedergutzumachen, dann hättest du in einem der Krankenhäuser erfahren, dass sie mir die Beine zertrümmert haben, den Kiefer ausgerenkt, die Rippen zerbrochen und damit das Kind zerstört, das ich war. Meine Würde in den Asphalt getreten, nichts, was ein Kind begreifen, nichts, was es verzeihen kann.“
„Ich konnte es nicht wissen“, sagte er, fast stotternd, denn er begriff die Schuld, die er damals auf sich geladen hatte.
„Du hast es gewusst“, kalte Gewissheit in den Worten des Anderen. „Weil du es gewusst hast, bist du davongerannt, dein Blick hat dich verraten, dieser Blick, den ich immer wieder sehe, der Abschied eines Verräters. Du hast mir zugenickt. Du hast sie gesehen, bevor ich sie gesehen habe, du hättest etwas sagen können.“
Obwohl seine Stimme keine bösere Tonlage treffen konnte, hielt der Fremde sie doch auf einer Lautstärke, bei der sie die Zimmerwände nicht überwand, sein Hass war so kontrolliert, so berechnend, dass er für keinen Moment die Fassung verlor. Er begriff, dass jedes Wort geplant, jede Geste eingeübt war und er verstummte vor dieser von langer Hand geplanten Anklage. Ein Teil in ihm wollte einfach gehen, zurück in das alte Leben, ohne dieses Wissen, er empfand Trotz, den jeder fühlte, wenn er beschuldigt wird, egal wie zutreffend und richtig die Anklage auch war. Er hätte einfach gehen und diese arme Gestalt in ihrem Hass alleine lassen können, ihm die Angriffsfläche nehmen, damit er in Apathie und Selbstzerstörung verstummte, aber er konnte sich nicht bewegen.
„Du wolltest, dass ich hierher komme“, konnte er nur sagen, „du wolltest, dass ich dich finde, das Gespräch in der Bar, der Brief, die Handschrift, all das sollte mich hierher führen. Hier bin ich und sage dir, dass es mir leid tut, dass ich mich schäme. Ist es das, was du wolltest?“
Obwohl der Andere nicht einmal einen Moment lang die Fassung verlor, spürte er doch, dass dieses Eingeständnis ihn überraschte, dass sie von seinem Drehbuch abwichen, die Geschichte verließen, die er für sie ersonnen hatte.
„Nein“, sagte der Andere und wieder lachte er ein böses Lachen, „nein, das war es nicht.
Meinst du eine Entschuldigung wiegt ein zerstörtes Leben auf? Es ist bereits aufgewogen, jetzt in diesem Moment ist es gesühnt, weil du nun erfährst, dass auch ich dein Leben zerstört habe.“
Er begriff nicht und schüttelte nur den Kopf, wollte diesen Triumph des Anderen nicht akzeptieren. „Wie meinst du das?“
„Ich wusste das mit deiner Mutter“, sagte der Andere und immer noch lachte er.
„Nicht weil ich nur dich beobachtet und jedes Wort deiner Bücher auf deine Persönlichkeit hin geprüft habe, ich habe auch deine Freunde beobachtet, jeden einzelnen dieser wechselnden Gestalten, habe Gérard beobachtet, Luisa beobachtet.
Auf einmal blitzte ein furchtbarer Gedanke in seinem Kopf auf. Das Wort „Luisa“ aus diesem Mund, das Unsägliche, ein schrecklicher Verdacht.
Ich habe mich in ihr Leben gedrängt, es war einfach, weil es geplant war, alles durchdacht, der Ariadnefaden, erinnerst du dich. Ich habe sie kennengelernt, ihr zugehört, irgendwann habe ich sie gefickt – er sagte tatsächlich „gefickt“ – ,er legte alle Verachtung in dieses eine Wort. „Ich habe sie gefickt, lange bevor ihr euch kennengelernt habt, habe sie für dich vorbereitet, sie für dich ausgesucht, ich war immer da, war auf deiner Hochzeit, du hast mich nicht gesehen. Ganz hinten habe ich gesessen.“
Seine Füße wurden schwach, er musste sich setzen, glitt hinunter auf die Bettkante, betrachtete erschrocken den bösen Mann, der ihm im Rollstuhl gegenüber saß.
„Und ich habe die Schlinge für sie geknüpft, gewartet bis ihr Bauch runder wurde, habe dich durch das Fenster beobachtet, wie du sie gefickt hast, beobachtet habe ich dich, wenn du mit diesem verträumten Blick dein Ohr auf ihren Bauch gelegt hast.“
„Du hast sie getötet?“
„Nein“, er schüttelte den Kopf,.„du darfst nicht so einfach denken. Du musst das Ganze mehr als Kunstwerk sehen. Es wäre plump und falsch gewesen sie zu töten. Ich hätte mir meine Hände schmutzig gemacht. Nein, ich habe dein Leben so verändert, dass du sie getötet hast, habe sie ausgesucht, weil sie für deine Art am empfänglichsten war. Sie hatte bereits einen Selbstmordversuch hinter sich, sie war labil, ich weiß, dass sie dir das nicht erzählt hat. Ich habe dein Leben gelenkt, deine Auflagen aufgekauft, deine beruflichen Verpflichtungen gesteuert, dafür gesorgt, dass du keine Zeit hattest, wenn sie dich brauchte.
Ich habe ihr traurige Gedanken geschenkt, habe ihr Drogen gegeben, nachts, wenn sie schlief, habe dir andere, entgegengesetzt wirkende Drogen gegeben, nachts, wenn du geschlafen hast, ich war immer da, auch in der Nacht, in der du sie gefunden hast. Ich habe hinter dir gestanden, als du die Tür geöffnet hast, die ich für dich geschlossen habe, du hast meinem Atem in deinem Nacken gespürt, als du auf dem Küchenfußboden zusammengebrochen bist. Bemerkst du die Ironie, du bist Schriftsteller, du musst sie sehen, du hast nicht nur mein Leben zerstört, du hast deine Mutter getötet, weil du ihr nicht geholfen hast, ich habe dich die Mutter deines Kindes umbringen lassen, weil du ihr nicht helfen konntest, ich habe dich bestraft, weil du mir nicht geholfen hast, doch erst jetzt, wo du es weißt, ist es eine wirkliche Strafe. All das, was du als dein Leben, deine Entscheidungen, deine Freiheit, aber auch dein Unglück und dein Schicksal angesehen hast, habe ich für dich vorbereitet. Dein Leben ist nichts als Fiktion, nichts als ein besonders gemeiner Einfall und ich war es, der ihn für dich ersonnen hat.“
Er lachte ein letztes böses Mal, dann sank sein Kopf zur Seite, der Hass in seinem Blick schien nun nicht mehr verborgen, sondern endgültig besänftigt, die Botschaft war überbracht, aufgelöst in der Schadenfreude, die ihm aus dem nun wieder stumpfsinnigen Gesicht entgegenblickte.
„Das kannst du nicht.“, stammelte er.
Unendlicher Zorn flammte auf, verbrannte jedes Schuldgefühl zu Asche, seine Hände griffen nach der hilflosen Gestalt im Rollstuhl, zogen und zerrten, er schlug seine Faust gegen den zuckenden Kopf.
„…hasse dich“, mühsam herausgepresste Worte, Wutschreie, dann auf einmal das Zimmer voller Menschen, weißgekleidete Gestalten, die ihn von dem Monster wegzerrten, Krankenpfleger, unter deren Kitteln zähe Muskeln seinen Willen brachen. Er wurde hinausgezerrt, wehrte sich, strampelte, schlug, kratzte, seine Schuhsohlen schleiften über den glatten Fliesenboden, schweben, dann auf den Rücken gezwungen, die Ahnung einer Spritze, Schmerzen, dann Zeitlupe.
„Der….kann….einmal….beruhigen“,
Langgedehnte Wortfetzen, dann Schwärze.


Das sechzehnte Kapitel

Sigmund saß wohl bereits schon eine ganze Weile neben der Pritsche, denn er wirkte erleichtert, als er zu sich kam und instinktiv die Stärke der schweißgetränkten Fixiergurte prüfte, an ihnen zerrte und doch mit unerbittlicher Gewalt auf dem Rücken gehalten wurde, wie ein Käfer, der sich nicht alleine auf die Beine drehen kann.
„Weder Traum noch Deutung“, murmelte Sigmund und blickte ihm dabei besorgt in die Augen.
„Wieso habe ich es nicht bemerkt?“, schrie er, denn mit einem Mal waren alle Erinnerungen wieder da und sofort senkte er beschämt seine Stimme, denn er wollte nicht auf sich aufmerksam machen. Er hatte die breiten und harten Ellenbogen des gewaltigen Pflegers kennen und fürchten gelernt, ein anderer hatte sich in seinen Rücken gekniet.
„Sie haben nicht die richtigen Fragen gestellt“, antwortete Sigmund, ohne auf seinen wütenden Tonfall einzugehen. Er wirkte dabei distanziert, aber nicht ohne eine Spur von Mitleid in der Stimme.
„Wie kann ich damit weiterleben?“, fragte er Sigmund, von dem er sich Trost erhoffte, und dieser antwortete: „Das Leben ist ein wundersames Geschöpf und es findet immer einen Weg, immer findet es einen Weg, auch wenn uns der Weg nicht immer gefällt, wie folgen ihm.“
„Ist das die Realität?“, fragte er, um irgendeinen Halt zu finden, denn er hatte das Gefühl zu stürzen.
Sigmund stockte, betrachtete ihn, nun ähnlich misstrauisch wie der Pfleger. Er glaubte Zorn in den sonst so gutmütigen Augen schimmern zu sehen, zumindest Entrüstung.
„Realität“, sagte Sigmund, „die Realität wird überschätzt, ich habe es bereist gesagt, mein Freund.“  Wieder sagte er „mein Freund“, aber diesmal nicht in einem freundschaftlichen, sondern eher belehrenden Tonfall. „Ist das hier nun Ihre so hoch geschätzte, so innig geliebte und verteidigte Realität? Eben noch sinnierend im Ohrensessel, nun frierend auf der Fixierpritsche, kommt Ihnen das nicht seltsam vor, aber nein, Sie zweifeln, zweifeln an allem anderen. Der Wahnsinn sprießt in jedem, die Menschen können es nur verschieden gut verbergen, jeder ist wahnsinnig und hegt und pflegt dieses kleine Pflänzchen von Kindheit an, lässt es wachsen und gedeihen, versteckt es vor den Blicken der anderen. Merken Sie nicht, wie alles verschwimmt, wie Dinge gleichzeitig wahr und falsch sein können. Der Pluralismus scheitert, weil er die Möglichkeit beinhaltet, dass der Pluralismus gar nicht existiert. Realität lässt sich nicht klassifizieren, herleiten oder begründen, jede Kartierung ist wertlos, weil sich die Gefilde ständig verschieben. Alles ist im Fluss, panta rhei, was ist Realität?“, fragte Sigmund vorwurfsvoll und unterbrach seinen kleinen Vortrag, doch er erhielt keine Antwort.
„Was ist denn das Wertvolle an dem, an das sich alle klammern? Wo liegt der Maßstab?“, fragte Sigmund, und er schwieg weiter, weil er den Vortrag dieses in vielerlei Hinsicht eingebildeten Psychoanalytikers nicht unterbrechen wollte.
„Wenn Sie nun morgen aufwachen, mit dem Psychiater reden, der übrigens ein guter Freund von mir ist, wenn Sie ihm versichern, nicht gefährlich zu sein, wenn sie ihn belügen, weil er die Wahrheit nicht glauben wird, diesen Ort verlassen und nach Fußweg und  halbstündiger Bahnfahrt im Kaminzimmer, im Ohrensessel sitzen, dann war Ihr Besuch hier wohl Realität, dafür Ihr ganzes Leben davor Illusion, ist es nicht so, unterbrechen Sie mich, wenn ich einen Fehler mache“, sagte Sigmund, doch er hatte nicht den Mut ihn zu unterbrechen.
„Wenn nun aber diese Zwischenschritte fehlen würden, wenn Sie mit einem Mal, von einem Augenblick auf den anderen in ihrem Ohrensessel sitzen, in ihm erwachen würden, dann wäre dieser Ort hier, die Pritsche, die Fixiergurte, der Besuch, das Gespräch mit Ihrem alten Freund, die Erkenntnis seiner Strafe nichts als Illusion, Traum und Fiktion. Begreifen Sie die Dummheit jeglicher Zuordnung. Wie kann es von der noch unbestimmten Zukunft abhängen, ob die Gegenwart real ist oder nicht?“
Sigmund schwieg und ließ seine Worte wirken.
Wieder war er sich nicht sicher, ob dies ein genialer Gedanke oder schierer Wahnsinn war, durchdachte das Gesagte und versuchte den Sinn oder wenigstens einen Fehler zu finden.
„Wie kann ich damit weiterleben?“, fragte er erneut, flehentlich, weil er die Antwort nicht verstand. „Die ganzen Jahre, mein ganzes Leben war nur Schein“, presste er hervor, „ich war nichts als eine Marionette, die an unsichtbaren Fäden hing“, „eine Marionette“, wiederholte er, „und nicht nur das, alle um mich herum hingen an denselben Fäden, wurden von derselben Hand gelenkt, die mich so zielsicher auf den Abgrund zu führte.“
Er musste schlucken. Dann flüsterte er, weil er Angst hatte, dass seine Worte die Zellenmauern überwinden konnten.
„Ich weiß gar nicht mehr, wer ich bin“, flüsterte er, „alles, alles an das ich geglaubt habe, waren nichts als Illusionen“, schluchzte er.
„Was haben Sie denn dann verloren?“, fragte Sigmund und unterbrach den Anfall von Selbstmitleid.
„Illusionen“, antwortete er und staunte über die Folgerichtigkeit dieses ersten Gedankens, der ihm durch den Kopf geschossen war. Wenn Sigmund ihm Fragen stellte, war es einfach, die richtigen Antworten zu finden und irgendwie beruhigte ihn der Gedanke. Nichts hatte er verloren als Illusionen, die Möglichkeit irgendwie weiterzuleben, Lichtstrahl in finsterster Nacht „ein schmutziger Fetzen von Hoffnung“ hatte Camus einmal geschrieben.
„Was haben Sie verloren?“, fragte Sigmund noch einmal, weil ihm die Antwort wohl nicht ausreichte und er sagte „Luisa“, weil dies das erste war, das ihm einfiel, Luisa, deren Leben ein so trauriges Ende gefunden hatte.
„Sie haben um Sie getrauert?“, fragte Sigmund und er merkte seiner Stimme an, dass er die Antwort bereits kannte, dass er nur fragte, damit er selbst diese Antwort geben konnte.
„Ja“, schoss es aus ihm hervor und er dachte an die Einsamkeit des Kaminzimmers, all die kleinen Spuren von ihr, die mit der Zeit ausradiert worden waren, der flüchtige Geruch ihres Parfums an den Zimmerwänden, ihr Kissen, in dem er hatte ersticken wollen, ihre Kleider, die so ordentlich aufgereiht in ihrem Schrank hingen, er selbst, weinend zusammengerollt auf dem Fußboden.
„Ich habe gelitten“, sagte er mit fester Stimme und wieder waren es die eigenen Worte, die Trost spendeten.
„War es eine schöne Zeit, die Sie mit ihr hatten?“, fragte Sigmund einfühlsam und er ahnte, worauf dieser hinauswollte.
„Ja“, schoss es wieder hervor und mit jenem Wort unzählige Erinnerungen an ihr gemeinsames Leben, kostbare Augenblicke ungeteilter Zweisamkeit.
„Wer hat eure Wege zusammengeführt?“, fragte Sigmund und obwohl er damit gerechnet hatte, lief ein kalter Schauder über seinen Rücken.
„Er“, sagte er, „Tieck, der gestiefelte Kater.“
Sigmund lächelte über diese Assoziation, vielleicht dachte er selbst an die Märchen aus dem „Phantasus“, vielleicht an den blonden Egbert, zumindest lächelte er nun wieder häufiger und die Strenge war aus seinem Gesicht gewichen.
„Es ist Ihre Entscheidung“, sagte Sigmund und er sagte es abschließend, so als würden sie sich nun nie mehr wiedersehen.
„Nichts bleibt, wie es war“, sagte er zum Abschied, „auch die Vergangenheit bewegt sich“,
fügte er hinzu, dann nahm er seinen Hut, der an einem altertümlichen Haken an der nackten Wand hing, ein Haken, der auch nur für diesen Moment der Aufmerksamkeit existiert hatte und verschwand, als auch Sigmund verschwand. Alleine blieb er zurück in der dunklen Zelle und während sich die Erde langsam, ewig und unerbittlich um ihre eigene Achse drehte, dachte er über sein Leben nach.


Epilog

„Die Ruhe nach dem Sturm“

Am nächsten Tag saß er in dem behaglich warmen Kaminzimmer, lehnte sich entspannt und mit innerem Frieden in seinem Ohrensessel zurück und betrachtete die ersten Holzscheite dieses Jahres, die knisternd in seinem Kamin zu Asche verbrannten. Das Manuskript „Der neue König“ lag aufgeschlagen vor ihm, er hatte den ganzen Vormittag über darin gelesen, Wort für Wort die Reise nachvollzogen, die ihn in die Fiktionalität geführt hatte. Die Geschichte schloss sich, das finale Aufeinandertreffen der Kontrahenten, der Showdown – er hasste diesen Anglizismus – war vorüber, es folgte die Ruhe nach dem Sturm, die so selten in der Literatur erwähnt wurde. Doch es war noch nicht zu Ende.
„Ich werde euch Frieden schenken“, stand dort in seiner Handschrift und er fühlte jene Hochstimmung, die ihn überkam, der Gedanke, dass er es nun vollenden würde, dass er sein Versprechen halten und dem neuen König Frieden schenken würde. Suchend blickte er sich um, ob alles für diesen feierlichen Moment beisammen war. Aus dem Becher, der vor ihm stand, sendete der heiße Kaffee kleine Dampfwölkchen in den Raum, die Zigarette antwortete qualmend aus dem Aschenbecher und er griff nach dem Bleistift, um dem neuen König eine  Heimat zu geben.
Er ließ etwa zwei Finger breit Platz unter dem letzten Satz, suchte und fand die Mitte des Papiers, schrieb „Epilog“ in geschwungenen Buchstaben auf das Papier.

„Mit weit ausholenden Schritten marschierte er die Straße entlang und da die Zeit an diesem Ort wirk- und belanglos war, ging er einfach immer weiter, bis er schließlich den Thron auf dem Abhang neben der Straße sah. Ringsherum war ein großes Durcheinander, überall lagen geplünderte und zerwühlte Koffer, dazwischen wie lange Schlangen die Seile, mit denen sie verschnürt gewesen waren. Ansonsten war der Ort verlassen, verwaist, weder Flüchtlinge noch Schläfer, doch er spürte ihre Gegenwart, ahnte ihre Blicke aus dem Unterholz. Er zögerte einen Moment, bevor er sich auf dem Thron niederließ, spürte die Macht, die in ihm verborgen war, dann gab er nach, setzte sich und seine gebieterische Stimme drang über die Welt zu seinen Füßen.
„Ich befehle euch!“
Eine Weile geschah nichts, dann traten die ersten, dürren und erbärmlichen Gestalten aus den Wäldern hervor und er musste den Blick abwenden, weil so viele schmerzhafte Erinnerungen in all den vertrauten Gesichtszügen verborgen lagen.
„Ich befehle euch“, rief er wieder und es wurden mehr, ein einziger Strom ausgemergelter Menschen, die sich hintereinander versteckten und doch nicht einander verbergen konnten.
Beschämt und mit hängenden Köpfen gingen sie hinüber zu den Koffern und begannen zusammenzupacken, was sie liebgewonnen hatten. Mitleid erheischend blickten sie zu ihm hinüber, als sie die Lasten wieder auf ihre Schultern schnallten. Ein Windstoß blies die Erinnerung an ihre kurze Freiheit davon, Resignation kehrte in die zuvor noch hoffenden Gesichter zurück und der Geschützlärm in der Ferne schwoll wieder an.
Die beiden Diener lösten sich aus der Menge, nahmen wieder ihren Platz rechts und links neben dem Thron ein, verharrten bewegungslos, bis sie tot und nichts als stumme Leichen waren. Dann, als der Flüchtlingszug sich langsam und schwerfällig wieder in Bewegung setzte, die gedrungenen Gestalten sich alle wieder einreihten, die Blicke wieder starr auf den Rücken des Vordermannes gerichtet, war es nur noch eine einzige Gestalt, die auf dem schmalen Grasstreifen vor dem Thron stehengeblieben war, und sein Herz erbebte, als er sie erkannte.
In diesen letzten Sätzen seiner Geschichte schlossen sich alle Kreise und so hatte er gewusst, dass er sie noch einmal sehen würde, hatte ihn gefürchtet, jenen Moment, in dem er Luisa ein letztes Mal in die Augen schauen würde.
Unschlüssig stand sie dort, wusste nicht, ob sie bleiben oder sich den anderen anschließen sollte.
Er rief ihren Namen und sie näherte sich ihm ängstlich, den Kopf gesenkt und mit ihm den Blick, so als wäre er König.
„Es tut mir leid“, flüsterte sie und ihre Augen weinten, quollen über vor Leid, zerbrechlich sah sie aus, gebeugt und ernst, nichts erinnerte an das Lächeln, das er einmal geliebt hatte, eine starre Maske unendlichen Leides, nur in den Augen Bewegung und ein Ozean voller Schuld. Er hatte sie so sehr geliebt, wie er überhaupt lieben konnte, dann, später, nachdem das Unsägliche passiert war, hatte er sie gehasst, so sehr gehasst, wie ein Mensch nur hassen konnte, verletzt hatte sie ihn, verraten und sein einziges Kind mit in den Tod genommen.
Niemals hatte er geglaubt ihr diesen Betrug vergeben zu können, doch nun, wo er wusste, dass sie nicht aus freiem Willen heraus gehandelt hatte, war es einfacher an sie zu denken, vielleicht sogar möglich zu verzeihen.
„Es war nicht deine Schuld“, sagte er und nun weinte er selbst, weinte um ihre gemeinsame Vergangenheit, weinte um das Kind, weinte um Luisa und die Liebe, die er für sie empfunden hatte. Dann erreichte sie ihn und sie lagen sich in den Armen, griffen nacheinander und suchten aneinander Halt, immer wieder atmete er sie ein, durchwühlte mit den Händen ihre Haare, suchte ihr Gesicht, all die vertrauten Stellen, strich über Wangen, Mund und Nase, suchte seine verlorene Heimat.
„…nicht deine Schuld“, wiederholte er, strich ihr über den Rücken, wollte diesen gebeugten Körper aufrichten, verlor sich in ihr, träumte, zwischen schweren Atemzügen, war für einen Moment glücklich, gedankenlos, schwebte, dann begriff er, dass sie tot und für immer verloren war und sein Glück wandelte sich in Schmerz. Wild presste er sie an sich und schrie, schrie, wurde dann ruhiger und nahm Abschied.
„Du musst gehen“, sagte er ernst zu der Gestalt, die nicht Luisa sein konnte, und als diese antworten wollte: „Ich befehle dir zu schweigen“, weil jedes weitere Wort von ihr den Abschied unmöglich gemacht hätte.
Er erhob sich vom Thron und es war ein Moment der Versuchung, in dem er über den weichen Polstern schwebte, unentschlossen, ob er gehen oder bleiben sollte. Er spürte die Verlockung König zu sein, Macht zu haben, sie zurückzurufen und sie in dieser Welt von neuem, vielleicht für immer zu lieben. Er blickte ihr nach, wusste, dass ein Wort, ein Gedanke genügte, die Entscheidung zu bleiben, König zu sein, doch er spürte auch Heimweh, dachte an das Kaminzimmer, den Ohrensessel, die Realität, die nicht nur schlecht war und dann, dass er hier nicht zuhause war. Realität und Fiktion ließen sich nicht austauschen und alles, was sie ihm hier schenken konnte, besaß er bereits, hatte es nur tief – viel zu tief – in seinem Herzen verschlossen, war nun bereit sich seiner Vergangenheit zu stellen und sie somit endgültig zur Vergangenheit zu machen. „Die Vergangenheit bewegt sich nur, wenn man ihr genügend Platz einräumt, um ihre starre Haltung zu verändern“, dachte er und „gibt man ihr nicht diesen Raum, so wird sie eines Tages ihr Gefängnis sprengen“, dachte er weiter und sah im Geiste Sigmunds zustimmendes Lächeln. Luisa zögerte mit ihm, verharrte und trotz der Endgültigkeit seines Entschlusses war es so schmerzvoll zu schweigen, sie nicht zurückzurufen, als sie schließlich ging, ein letzter bedeutungsvoller Blick verband sie, dann zerriss das Band, sie reihte sich ein, wurde wieder Teil des Flüchtlingsstroms. Schließlich war sie nicht mehr von den anderen zu unterscheiden. 
Langsam beruhigte er sich, dachte an ihr Lächeln und daran, dass es nun vorüber war, dass er Frieden finden konnte. Er wandte sich ab, kehrte den Flüchtlingen den Rücken zu und betrachtete den Thron, den Ohrensessel, mit dem alles begonnen hatte, staunte, wie die Messingknöpfe im Sonnenlicht funkelten.

Einige Momente zögerte er noch, Momente, die Stunden glichen und unbestimmbar waren, dann drückte er mit einer langsamen aber entschlossenen Bewegung den Fuß gegen die Rückenlehne, legte sein ganzes Gewicht in diesen tritt, weiter und weiter schob er ihn zurück. Dann gab der Thron nach, schwankte eine Weile über dem Abgrund, zögerte den Sturz hinaus, der bereits unvermeidlich war, der Schwerpunkt verlagerte sich, dann fiel er und war von der Straße aus nicht mehr zu sehen, stürzte den Abhang hinunter und war nichts mehr als ein alter zerschlissener Ohrensessel. Er selbst blieb noch eine Weile auf dem Abhang stehen, genoss diesen Moment des Abschieds, betrachtete all die verstoßenen Relikte seiner Vergangenheit, die stumm hintereinander her trotteten, ihn nun nicht mehr sahen, und…“

Er legte den Stift beiseite, betrachtete das, was er geschrieben hatte und dachte, dass es ein böses Ende wäre, dass es aber noch nicht vorbei war und dass er dem neuen König Frieden versprochen hatte. Er hatte es immer gemocht, wenn sich in Erzählungen Kreise schlossen, dies gab dem Ganzen immer eine besondere innere Logik, schweißte den Text zusammen, und er wusste bereits genau, wohin er die Schritte des neuen Königs lenken würde. Er bemerkte, dass die Zigarette bereits verglüht, der Kaffee inzwischen kälter war – nicht mehr dampfte –, doch dies war belanglos, als er die Mine wieder auf das Papier senkte.   

„Seit Tagen marschierte er und besaß keine Erinnerung außer dieser Straße. Er konnte nicht mehr sagen, wie lange es so ging, ein Fuß vor den anderen, die ewige Straße, konnte nicht mehr sagen, wie lang es schon so ging und wann er begonnen hatte an den Tod zu denken.
Alles erschien merkwürdig gedämpft, alles verlor seine Farben, selbst die Gedanken.
Schon seit Stunden erschien ihm der schmale spärlich bewachsene Grasstreifen hinter den verkohlten Leitplanken als Verlockung. Sein Körper schmerzte an jeder nur erdenklichen Stelle, Blut sickerte beständig durch seine aufgerissenen Füße, mit jedem Schritt wurde es weniger Leben, das durch seine Adern kreiste, er zweifelte bei jedem Atemzug, ob er die Kraft finden würde diese trockene Luft wieder aus seinem Brustkorb herauszupressen, kleine Dampfwölkchen vor seinem Mund zeigten ihm, wie kalt es noch war und dass er schnell erfrieren würde, wenn er seinen Körper in einer bequemen Position bettete.
Kraftlos wankte er zur Seite und überwand einen kurzen Moment des Schwindels, der sofort einsetzte, als er seine Schritte aus dem gewohnten Rhythmus brachte, wich den Habseligkeiten verschiedener Flüchtlinge aus, stieg mit einer letzten, empörenden Kraftanstrengung über die Leitplanke, einen kleinen Abhang empor und als er die Kuppe erreicht hatte, blickte er staunend nach vorne über die weite Landschaft und dort war ein Paradies.

Vom Hügel verborgen hatten sich Menschen versammelt, um gemeinsam mit ihm in die Zukunft zu schreiten. Kleine notdürftige Häuser hatten sie bereits errichtet, während sie auf ihn gewartet hatten und er ahnte in dieser Ansammlung im Sonnenaufgang eine neue Stadt, die sie gemeinsam errichten würden. Zögernd blickte er den Gesichtern entgegen, die nicht Untertanen, sondern seine Brüder, Gleiche unter Gleichen waren. Kinder tollten bereits auf den satten Wiesen umher, hatten vielleicht als erste den zurückliegenden Ernst vergessen und erkundeten spielend ihre neue Heimat.
Seine Silhouette auf der Straßenkuppe erregte auch das Interesse der anderen Flüchtlinge und immer mehr Gesichter versammelten sich dort, rieben sich die Augen und konnten nicht glauben, dass die Flucht beendet, ein Platz für sie gefunden worden war.
Noch zögerten sie, doch als er dann nach vorne schritt und den Ersten, die ihn begrüßten, in die Arme fiel, folgten sie, erst vereinzelt, dann geschlossen und es wurde eine neue Gemeinschaft geboren.“

Mit dem überschwänglichen Gefühl das Richtige getan zu haben, legte er den Bleistift beiseite, las die letzten Sätze und lächelte mit dem kleinen Jungen, der nun eine Familie hatte.
Er trank einen Schluck von dem kalten Kaffee und dachte dabei, dass er Frieden geschlossen hatte, Frieden mit der Fiktion wie mit der Realität. Er hatte die Chance ein neues Leben zu beginnen, neue Entscheidungen zu treffen und er fühlte die Freiheit, die in diesem Gedanken lag.

„Gemeinsam schritten sie in die Dämmerung eines neuen Tages“,

schrieb er und als er dann das Manuskript behutsam beiseitelegte und hinaus auf die Terrasse trat, um für einige Momente nicht zu denken und den Sonnenuntergang zu betrachten,
fühlte er sich so, als stünde er am Beginn einer langen Reise.

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