Der neue König (1)
Erzählung
von autoralexanderschwarz
Der neue König
(2009)
Teil 1
„Blut von meinem Blut, Fleisch von meinem Fleisch, Saat meiner Gedanken“
Das erste Kapitel
„Am Straßenrand stand ein alter verwitterter Ohrensessel, daneben lagen zwei tote Menschen“, schrieb er in sein Notizbuch und dann: „Obwohl es langsam Frühling wurde und das erste Grün bereits im Verborgenen auf seinen kurzen Sieg lauerte, waren die Nächte noch schneidend kalt und der sterbende Winter hatte wie zum Abschied unzählige Eiskristalle in die Bärte der Leichen getrieben, hatte die schreckensgeweiteten Augen der Natur angeglichen und sie gnädig mit Eis überzogen“,
schrieb er weiter, hastig, so wie er immer hastig schrieb, wenn die Gedanken schneller wurden als die Hand, wenn die Geschichte zu fließen begann.
Er legte den Stift beiseite und betrachtete diese ersten Sätze die er geschrieben hatte,
die ersten Sätze, die ihm gefielen, seit das Unsägliche passiert war. Die ersten Sätze, die weiter führten als in Kompromisse, Selbstzweifel und Resignation, durchgestrichene Wörter.
Die Geschichte lag vor ihm, noch roh und unausgeformt, aber er begriff die Richtung, fühlte das Licht, das über einer neuen Welt erstrahlte und obwohl da noch zahllose Schatten waren, die er noch nicht auszufüllen vermochte, fühlte er den erbarmungslosen Ostwind, der mit den Haaren der Toten spielte, bestaunte die Morgenröte eines neuen Tages. Er dachte sich, dass er soeben das überwunden hatte, das er sich selbst nicht, das niemand erklären konnte und dem man unverschämterweise trotzdem einen Namen – Schreibblockade – gegeben hatte. Er betonte im Geist jede Silbe voller Geringschätzung, obwohl er jenes verhasste Wort niemals ausgesprochen hätte. Dieses Wort war wie so viele Wörter nichts als ein Beispiel für den seltsamen Trieb des Menschen alles zu benennen, alles zu kategorisieren, selbst das, was nicht kategorisierbar war. Selbst das Nichts hat einen Namen, dachte er sich.
Er selbst sprach lieber vom Fließen, von fließenden Gedanken, die nach eigenen Regeln, vielleicht sogar regellos, nach unverstandenen Gesetzmäßigkeiten, vielleicht sogar gänzlich ungesetzlich ihren Weg an die Oberfläche fanden, jenem geheimnisvollen Bereich entflohen, den man seit Freud das Unbewusste nannte, die Summe dessen, was der Mensch am Menschen nicht verstand, eine Definition, die streng genommen gar keine Definition war. Das Unbewusste, in dem alle Geschichten begannen, in dem die verborgenen Quellen der Fantasie lagen. Irgendwo dort unten in jenem verschlungenen Urwald, den bereits der altkluge Umberto Eco als den Wald der Fiktionen beschrieben hatte, irgendwo zwischen diesem Wurzelwerk des Wahnsinns, hatten sich jene Gedanken formiert, waren Geschichte geworden und hatten beschlossen sich einen Erzähler zu suchen. Es lag wohl nahe, dass der Ohrensessel in der Geschichte auf irgendeinem Weg der Ohrensessel war, in dem er selbst gerade in seinem Kaminzimmer saß und schrieb, obwohl er ihn auch an Thomas Bernhard und die Erzählung „Holzfällen“ erinnerte, die zwei toten Menschen ließen sich bereits schwerer zuordnen, es lag nahe, dass sie auf irgendeine Art mit dem Unsäglichen zusammenhingen, doch hätte er jemals geglaubt, dass sich Literatur mit Triebenergie und Kindheitstraumata erklären ließe, wäre er wohl niemals Schriftsteller geworden. Wie auch immer diese Wortfolgen in ihm entstanden waren, der Ohrensessel und der Tod waren der Ausgangspunkt, zu dem der routinierte Schriftsteller nur noch Raureif und Morgenröte ergänzen musste. „Schreiben bedeutet Macht“, hatte er einmal in einem Aufsatz geschrieben und dies nicht in einem sozialen, sondern in einem schöpferischen Sinne gemeint. Dem Autor kam in der Welt der Fiktion eine gottesähnliche Funktion zu, ebenso wie er Figuren schuf, konnte er sie leiden, wenn er wollte auch sterben lassen. Obwohl diese zwei leblosen Körper nur Statisten hinter dem Auftritt eines ganz Anderen waren, der bereits seinen Schatten vorauswarf, hatte er sie dennoch unsterblich gemacht, wusste, dass eines Tages die Fantasie vieler Leser diesen beiden traurigen Gestalten ein Gesicht geben würde. Der Ohrensessel war der Ausgangspunkt, der Ohrensessel und der Tod.
Er überflog mit einem Blick seinen Couchtisch, vergewisserte sich, dass alles vorhanden war, was er in den nächsten Stunden benötigte, seine Augen fanden den Bleistift und wie magisch zog es seine Hand zu diesem vertrauten Werkzeug, zu jener Brücke, welche die subjektive Hand mit dem objektiven Papier verband. Dann begannen die Gedanken wieder zu fließen, erst langsam und stockend, steigerten sich dann, und mit ihnen die Geschwindigkeit des Bleistiftes, der über das Papier strich, sprudelten aus jener geheimen Quelle, die er so lange versiegt geglaubt hatte, flossen durch die Hand, durch die Bleistiftmine zu Zeichen und Symbolen zusammen, wurden Realität.
„Der Ohrensessel war kunstvoll mit rotem Leder bespannt, die Armlehnen mit Messingknöpfen überzogen, die geheimnisvoll in der frühen Mittagssonne glänzten, Relikt einer besseren, einer friedlichen Zeit und gleichzeitig der Höhepunkt eines erbarmungslosen Kampfes, den sein schwindender Verstand gegen den übermächtigen Wahnsinn kämpfte. Ganz langsam schob sich der Flüchtlingszug an dieser Erscheinung vorbei, viele dürre Hälse bogen sich zur Seite und in dem einen oder anderen Gesicht konnte man Erinnerungen aufblitzen sehen. Es war ein außergewöhnlich schöner Sessel, kaum beschädigt und derartig fehl am Platze, wie eine Friedenstaube, die sich zwischen die Aasvögel mischen würde, die den Zug begleiteten. Eine Symbiose des Schreckens: die Vögel wurden immer fetter, dreister, furchtloser, die Menschen unter ihnen immer dünner, verzweifelter, immer hoffnungsloser. Er konnte nicht mehr sagen, wie lange es so ging, ein Fuß vor den anderen, die ewige Straße, konnte nicht mehr sagen, wann er begonnen hatte an den Tod zu denken. Es war kein plötzlicher Gedanke, vielmehr eine sich langsam verdichtende Gewissheit gewesen, die er irgendwann nicht mehr ignorieren konnte. Das tagelange Marschieren, dieser Todesmarsch, der kein Ziel hatte und bei dem alle allen folgten, hatte ihn wie die anderen tief in den Körper hineingepresst. Er war zu einer Maschine geworden, die Schritt um Schritt nach vorne zog, mühsam das Gleichgewicht hielt, keine Hoffnung über die nächste Straßenkuppe hinaus, kaum ein Gedanke überwand den gebeugten Rücken des Vordermannes, ab und zu ein leerer Blick zur Seite, wenn wieder ein Körper auf den Boden fiel, ein Geräusch, das zermürbte, aber nicht mehr erschrecken konnte, ansonsten folgten die Augen den feinen Rissen in der verkrusteten Asphaltdecke, immer weiter war er gegangen, dann, der Gedanke an den Tod, irgendwann der Moment, in dem er gar nicht mehr bedrohlich erschien, eher wie ein alter Bekannter, dem man lange und aus den falschen Gründen misstraut hatte, dann: der Ohrensessel und mit ihm unabänderliche Assoziationen, Entspannung, Ruhe, vielleicht so etwas wie Heimat, wenn es denn Heimat gab. Alles erschien merkwürdig gedämpft, alles verlor seine Farben, selbst die Gedanken. Nur dieser Ohrensessel ragte daraus hervor, war irgendwie mehr da als alles andere, leuchtete mit seinen kräftigen Farben über alles Bleiche und Sterbende hinaus.
Schon seit Stunden war ihm der schmale spärlich bewachsene Grasstreifen hinter den verkohlten Leitplanken als Verlockung erschienen. Sein Körper schmerzte an jeder nur erdenklichen Stelle, Blut sickerte beständig aus seinen aufgerissenen Füße, mit jedem Schritt wurde es weniger Leben, das noch durch seine Adern kreiste, er zweifelte bei jedem Atemzug, ob er die Kraft finden würde diese trockene Luft wieder aus seinem Brustkorb herauszustoßen, kleine Dampfwölkchen vor seinem Mund zeigten ihm, wie kalt es noch war und dass er schnell erfrieren würde, wenn er seinen Körper in einer halbwegs bequemen Position bettete.
Doch warum sollte er seine Augen nicht schließen, wenn dass Schicksal sie ohnehin blenden und auslöschen würde, das Gefängnis lief mit ihm mit, dehnte sich bei jedem Schritt nach vorne, um sich hinter ihm wieder zu verengen. Überall um ihn herum war der Tod, und bereits so viele waren über die Leitplanke gestiegen und nicht zurückgekehrt. Er hatte gerade gedacht, dass der Tod vielleicht nichts als ein unendlicher Schlaf war, nichts als ewige Ruhe und Subjektlosigkeit, dann: der Ohrensessel und mit ihm jener neue Gedanke, in dem Verstand, Erschöpfung und Wahnsinn auf einmal übereinstimmten. Wenn er ohnehin sterben musste, dann war es sinnlos weiterzumarschieren, die Beine gaben bereits nach und bald würde er ohnehin stürzen, mit jenem nassen und inzwischen vertrauten Geräusch mit dem Kopf auf den gefrorenen Boden schlagen, und über all dem strahlte auf einmal ein unglaublicher und zugleich beängstigender Gedanke, der Gedanke, dass er König wäre, wenn er sich auf den weichen Polstern niederließe und mit den Händen über die zierlichen Schnitzereien strich.
Der Ohrensessel: Die gelungenste, die perfideste, die eigentliche letzte Versuchung, von der er wusste, dass er ihr erliegen würde. Warum dem Tod entgegenmarschieren, wenn er ihn dort gemütlich sitzend erwarten konnte, warum nicht einfach noch einige Minuten sitzen, sitzen und die Sonne betrachten, die ungerührt über all dem Leid strahlte, rasten wollte er, irgendwann mit einem Lächeln einschlafen. Es gab niemanden, von dem er sich verabschieden musste, alle waren sie hier einander fremd, anonym in ihrem Leid, übereinandergetrieben, wie das Schicksal im Herbst die Blätter übereinander trieb. Kraftlos wankte er zur Seite und überwand einen kurzen Moment des Schwindels, der sofort einsetze, als er seine Schritte aus dem gewohnten Rhythmus brachte, wich den Körpern und Habseligkeiten verschiedener Flüchtlinge aus, stieg mit einer letzten, empörenden Kraftanstrengung über die Leitplanke, einen kleinen Abhang empor, auf den der ehemalige Besitzer diesen Sessel wohl mit letzter Kraft geschleppt hatte. Dann berührten seine Hände das dunkle Holz, wie eine Geliebte nahm der Sessel ihn in sich auf, er versank regelrecht in den weichen Polstern, wurde sanft gebeugt, sank und schwebte und in diesem Moment, als die Sonne höher stieg und seine Hände über die geheimnisvollen Schnitzereien in den Armlehnen glitten, wurde der neue König geboren.“
Er legte den Stift beiseite, atmete tief durch, ein hastiger Schluck aus der Kaffeetasse, dann blätterte er in seinem Notizbuch zurück, betrachtete Seite um Seite seiner eigenen Schrift, er hatte sehr schnell geschrieben, etwa eine halbe Stunde war vergangen. Schnell fand er den ersten Absatz, an dem er begonnen hatte, der Ohrensessel und die zwei erfrorenen Statisten, jene ersten Sätze, die ihn gelockt und zum Weiterschreiben verführt hatten, er zögerte einen Moment, dann überschrieb er den Text mit „Der neue König“, wobei er das Gefühl hatte das Richtige zu tun, wusste, dass dies mehr als ein vorläufiger Arbeitstitel war. Staunend betrachtete er diese drei Wörter, dann setzte er kurzentschlossen „Das erste Kapitel“ darunter. Es war nur ein kurzes erstes Kapitel, aber es war in sich geschlossen, die Genesis eines neuen Protagonisten, von dem er so gut wie nichts wusste, es musste abgetrennt vom restlichen Buch stehen, denn diese schemenhafte Gestalt, die sich auf dem Ohrensessel niedergelassen hatte, würde im nächsten Kapitel ein anderer, würde König sein.
Das zweite Kapitel
Er beschloss eine Zigarette zu rauchen, was er trotz aller Einsicht in deren Schädlichkeit noch immer gerne und häufig tat. Beim Schreiben waren ihm mit der Zeit gewisse Rituale wichtig geworden, Belanglosigkeiten, die ungeachtet ihrer Belanglosigkeit aber doch wichtig für ihn waren. Hierzu zählte nicht zuletzt der Ohrensessel, in dem er immer saß, wenn er schrieb und der in den Jahren das Zentrum seiner Kreativität geworden war, hierzu zählten harte Bleistifte – er hasste weiche Bleichstifte – und jene schwarzen Notizbücher, die er seit seiner Jugend mit Gedanken füllte. Er glaubte nicht, dass es ein Zufall war, dass so ziemlich alle Geistesgrößen, die er verehrte, nahezu alle Schriftsteller, die ihm mehr als nur gleichgültig und somit Trost waren, geraucht hatten. Es gab eine bestimmte geheime Geschmacksübereinkunft der Freigeister und er dachte, dass starker Kaffee, Tabak und Wein ausreichten, um einen beträchtlichen Teil der gesamten Intelligenzija, die dieser Planet hervorgebracht hatte bei Laune zu halten. Er lächelte bei diesem Gedanken, so wie er in der letzten Zeit oft vor sich hin lächelte, seit das Unsägliche passiert war und es niemanden mehr gab, der mit ihm lachen konnte. Dann entzündete er die Zigarette. Der Abschluss des ersten Kapitels war für ihn immer ein Moment der Reflexion, ein Moment in dem er über das nachdachte, was er geschrieben hatte, die fremden Assoziationsketten zu eigenen machte und in einigem Abstand dem Pfad folgte, den der Protagonist beschritten hatte. Es war immer ein feierlicher Moment, die literarische Version einer Taufe, aber auch ein Moment der Prüfung, in dem er Ideen verwarf, veränderte oder ergänzte. Oft genug hatte er ein Manuskript abgebrochen, auch schon früher, vor jener Zeit, dann, im letzten Jahr, hatte er immer wieder alles abgebrochen, weil es ihm falsch und verlogen erschienen war. Dieses erste Kapitel jedoch erschreckte ihn, während er es gleichzeitig bewunderte. Während seine Notizbücher sonst oft ein Sammelsurium von Querverweisen, Einschüben und Streichungen waren, erschien ihm dieser Text wie aus einem Guss, in sich geschlossen und wahr, ungefähr das, was Schiller gemeint hatte, als er schrieb, dass ein Drama nur die Blüte eines einzigen Sommers sein durfte. Er fand nichts, das sich ergänzen oder verändern ließe, ja er spürte sogar, dass das ganze Gebilde in sich zusammenfallen würde, wenn er nur ein Wort veränderte. Eine Flut von bösen Bildern, dazwischen ein gebeugter Mensch auf der Flucht, eine Figur, zu der kein Gesicht passte. Schemenhaft sah er diese Gestalt durch eine verbrannte und geschändete Landschaft ziehen, feinmaschig hatte er die Verzweiflung mit der Welt verwoben, dann: der Ohrensessel und die beiden Leichen. Er dachte, dass dies der beste Anfang war, den er jemals geschrieben hatte, dass dieser Text im wahrsten Sinne des Wortes klassisch, dass er zeitlos war.
Trotzdem war dort auch ein anderes Gefühl, eine Art Bestürzung, vielleicht ein Hauch von Angst, den er sich nicht erklären konnte. Es war nicht die Grausamkeit jener Welt, die er erschaffen hatte, er hatte unzählige grausame Welten erschaffen, Figuren leiden und sterben lassen, es war etwas anderes, ein tiefer gehendes Gefühl, er fühlte das da etwas Fremdes im Text war, das er nicht kannte, doch so aufmerksam er auch jeden Satz las, er konnte es nicht bestimmen. Jeder Satz war genau so, wie er ihn wieder schreiben würde, es war etwas, das zwischen, vielleicht hinter den Worten lag. Der Ohrensessel, die erfrorenen Leichen, der schemenhafte Protagonist. Es war der Protagonist, der ihm fremd war. Wenn er einen Text geschrieben hatte, war er zumeist immer von dem Protagonisten ausgegangen, jeder erste Satz stand in Bezug zum Protagonisten, selbst, wenn er nichts als eine Landschaftsbeschreibung war.
Der Charakter war immer präsent, selbst wenn der Autor ihn schweigen ließ. Eine Romanfigur war eine fluide Masse, die in den Händen des Autors fortwährend neue Konturen bekam, wie eine getöpferte Vase, die sich bei jeder Umdrehung ein Stück verformt, und genau hier lag das Problem, dass sich so schwer in Worte fassen ließ. Das Wichtigste beim Töpfern war das fertige Bild, das im Kopf des Töpfers bereits existierte und nur noch in das leblose Material transferiert werden muss, die Vorstellung was einmal aus diesem Lehmklumpen werden würde, wie jenes berühmte Sinnbild, jenem berühmten Quaderblock, in dem die Statue in all ihrer Schönheit bereits existiert und nur noch aus dem Marmor befreit werden muss. Ebenso war es für ihm mit dem Schreiben. Er selbst lernte seine Figuren nur allmählich kennen, doch er hatte gewissermaßen ein bestimmtes Ideal von ihnen, zu dem er sie hinführte. Wie beim Töpfern konnte sich diese Vorstellung im kreativen Prozess verändern, doch sie war eine Voraussetzung, weil – und hiervon war er überzeugt – ohne Ziel jede Handlung sinnlos ist. Der Protagonist durfte nicht schemenhaft sein, und noch niemals war es vorgekommen, dass er sich kein Bild seiner eigenen Figur machen konnte. Die erschreckende Konsequenz eines solchen Zustandes war die Frage: Wenn er diesen Protagonisten nicht kannte, der von einer Sekunde auf die andere König geworden war, dann hatte er ihn auch nicht erdacht, erschaffen und wenn er es nicht gewesen war, wer war es dann gewesen? Wieder versuchte er sich die Gestalt ins Gedächtnis zu rufen, die keinen Namen hatte, glitt im Geist über den Flüchtlingszug, sah all die ausgemergelten Körper, die wie Ameisen eine Straße gebildet hatten und die wie Ameisen ihr Hab und Gut einer ungewissen Zukunft entgegentrugen. Jedes dieser Gesichter war greifbar, variierbar, formbar. Er sah dieser traurigen Schar verbitterter Gestalten an, dass er sie geschaffen hatte, sie waren seine Produkte, seine Kinder, um für einen kurzen Moment die Aufmerksamkeit des Lesers zu fesseln, eine unbestimmt große Zahl von knöchrigen Gestalten, die nur den Hintergrund bildeten, die auf ewig marschierten und litten, manchmal über die Leitplanke stiegen, um zu sterben. Dann dachte er an den namenlosen neuen König und konnte ihn nicht sehen, konnte ihn nicht erkennen. Hoch oben saß dieser am Straßenrand, saß in dem Ohrensessel, der zum Thron geworden war. Die Sonne stand genau über ihm, blendete die Augen und machte ihn zu einem majestätischen Schatten, umgeben von einer blendenden, majestätisch-gold glänzenden Corona. Das Auge konnte ihn nicht fassen, seine Gedanken glitten immer wieder von ihm ab. Zornig betrachtete er ihn und hatte für einen kurzen Moment das Gefühl, dass dieser zurückblickte. Eine Weile betrachteten sie sich, ohne einander zu erkennen, dann riss der Faden und er dachte, dass dies Einbildung und eine Folge des trockenen Rotweins sein musste, den er bereits bis zur Hälfte geleert hatte. Er entzündete sich eine weitere Zigarette, dachte dass es merkwürdig, aber mitnichten unerklärbar war. Er hatte ja auch gerade erst begonnen zu schreiben, sich eben mehr der Welt als dem Charakter gewidmet, der so plötzlich und unverhofft in der Geschichte aufgetaucht war. Unbewusst hatte er bereits wieder den Bleistift ergriffen, dachte noch, dass es bald an der Zeit wäre einen neuen Kaffee aufzusetzen, dann schrieb er weiter, vergaß den Kaffee, die qualmende Zigarette, vergaß seine Zweifel.
„Es war eine bunte Parade, die dort zu seinen Ehren an dem neuen König vorbeizog und es war eine Freude zu sehen, wie viele seiner Untertanen sich auf den weiten Weg gemacht hatten, um bei der Krönung anwesend zu sein. Allesamt hatten sie ihre beste Kleidung angelegt, überall sah er festliche Anzüge, wunderschöne, auserlesene Kleider und wenn auch der Staub der Straße recht zäh auf ihren Gesichtern klebte, erzählte dieser doch nur von dem weiten Weg, den sie zurückgelegt hatten, um ihrem neuen König zu huldigen. Alle trugen sie Geschenke und immer wieder legte jemand ein verschnürtes Päckchen oder einen ledernen Koffer hinter die Absperrung. Manche hatten so schwer an ihrem Präsent zu tragen gehabt, dass sie sich direkt neben ihr Paket auf den Grasstreifen legten und in der milden Mittagssonne einschliefen. Jeder hatte etwas dabei, das er ihm schenken wollte, selbst die, denen man ansah, dass sie so gut wie nichts besaßen, brachten eine Gabe dar. Von überall waren sie zusammengekommen und die verschiedenen Gesichter, Haar- und Hautfarben zeigten ihm wie groß und wie vielseitig sein Reich war. Irgendwo im Hintergrund spielte ein unsichtbares Orchester und er wiegte die Hände im Takt, jenem Takt, in dem sie sich alle bewegten, Streicher und Fanfaren, die einander abwechselten, der Rhythmus der Parade, und es musste die Ehrfurcht der Untertanen sein, welche die Gesichter so ernsthaft anspannte, denn es war eine fröhliche Melodie, die von besseren Zeiten erzählte. Immer wieder hob er die Hand, grüßte, segnete, lächelte. Ein weiser König würde er sein und in seinem Reich würde Frieden herrschen, er würde Frieden herrschen und die Menschen würden nicht nur Nachbarn, nein, sie würden Freunde sein. Ungeheurer Reichtum stapelte sich an den Straßenrändern und sowohl die Zahl der Geschenke, als auch die Zahl seiner Untertanen ließen ihn staunen, wie groß sein Reich und mit ihm die neue Verantwortung war. Jubeln sollten sie, doch er empfand auch Freude über ihre Besinnlichkeit. Und über all dem erhob sich strahlend die Mittagssonne und ihre Kraft wärmte seine Glieder. Selbst die Natur huldigte ihm in diesem kostbaren, und damit so schmerzhaft vergänglichen Moment. Überall begrüßten die Tiere des Waldes ihren neuen König und er blickte lächelnd hinunter zu den beiden Dienern, die mit friedlichen Gesichtern neben dem Thron schliefen. Dann beschloss er, dass er sie nicht wecken würde, obwohl sie ihre Pflicht sträflich vernachlässigten. ‚Ihr seid gute Diener’, flüsterte er zärtlich in ihre Richtung, dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder der Parade zu.“
Er hielt inne und las die letzten Sätze noch einmal, lächelte über diesen assoziativen, mit Metaphern und Symbolen überladenen Stil, dachte zurück an die anderen mehr oder weniger erfolgreichen Erzählungen, die er geschrieben hatte und fand in seiner Erinnerung nichts, dass sich mit dem begonnenen Manuskript vergleichen ließ. Dann lächelte er über den neuen König, diesen wahnsinnigen Idealisten, der das Elend um sich herum einfach ignorierte, es schön dachte. Dieser plötzliche Wandel einer Figur, die zuvor noch überhaupt nicht bestimmt worden war, war aus dramaturgischen Gesichtspunkten heraus ungeschickt, doch er schien trotzdem einen Sinn zu beinhalten, auch wenn dieser Sinn noch verborgen war. Auch das war eine neue Erfahrung und es gab noch etwas, das ihn störte. So absonderlich der Gedanke auch war, es war nicht sein eigener Stil, die Worte folgten ihrer eigenen Bestimmung, und wäre er nicht selbst Zeuge der Entstehung gewesen, hätte er diesen Text weit von sich gewiesen, nicht weil er ihm nicht gefiel, nicht weil es nicht seine Worte waren, sondern einfach, weil er fremd war. Er hatte immer klare Strukturen bevorzugt, eine intakte Syntax, Nachvollziehbarkeit der Handlungen seiner Figuren, vor allem hatte er aber immer diesen metaphysischen Glanz gemieden, der alles umstrahlte, was sich in dieser Geschichte dem Rezipienten darbot, jedes Detail, die Straße, die gefroren und zugleich staubig war, die Leitplanke, vorneweg der neue König; alles schien eine eigene symbolhafte Funktion zu besitzen, die er nicht begriff.
Das Schreiben war für ihn immer ein Mysterium gewesen und es auch geblieben, ungeachtet der Tatsache, dass er es seit vielen Jahren immer weiter entwickelt, perfektioniert, wenn nicht gar zu seinem Lebensmittelpunkt, seiner selbst gewählten Bestimmung erhoben hatte. Oft hatte er sich gefragt, wie man etwas beherrschen konnte, das man nicht verstand. Ein befreundeter Kollege, den er privat immer hoch geschätzt, vom künstlerischen Standpunkt aus immer verachtet hatte
– denn das Künstlerdasein bestand zu einem großen Teil aus der Verachtung aller lebenden, der Idealisierung einzelner verstorbener anderer Künstler – hatte einmal einen Satz geschrieben, der ihm immer wieder einfiel, wenn er über das Schreiben nachdachte.
„Es ist wie das Einholen eines Eimers, den der Autor in die verborgenen Tiefen seines imaginären Brunnens hinab lässt, das Einholen des Eimers und der Weg zurück ins Dorf.“,
hatte dieser geschrieben und obwohl dieser Satz in vielerlei Hinsicht zumindest fragwürdig, wenn nicht gar falsch war, traf er doch genau den Punkt. Zunächst einmal wusste der Autor nicht, was dieser Eimer enthielt, den er ans Tageslicht zog, es gab keinen Bauplan für eine gute Geschichte. Es war unmöglich Einfluss darauf zu nehmen, was dort an die Oberfläche kam, und egal wie sehr der Schriftsteller auch die Technik, das Ausbalancieren des Gewichtes, die Schrittfolge auf dem Weg ins Dorf beherrschte, immer war der Autor darauf angewiesen, dass dort unten Wasser war, dass der Brunnen durch geheime Zugänge gespeist wurde. Im letzten halben Jahr, nachdem das Unsägliche passiert war, in der Zeit jener Schreibblockade – er hasste dieses Wort – war der Brunnen auf einmal versiegt, ausgetrocknet gewesen, immer und immer wieder hatte er enttäuscht den leeren Eimer nach oben gezogen, all seine Erfahrung, seine Raffinesse, sein Gefühl für Sprache waren mit einem Mal ohne Bedeutung gewesen, denn es war egal, wie man einen leeren Eimer trug. Er hatte begonnen einige Kurzgeschichten zu schreiben, Gedichte, alte Manuskripte korrigiert und immer wieder darauf gewartet, dass es weiterging, dass sich der Brunnen wieder füllte, Seite um Seite mit Worten voll geschrieben, die er dann zu den lodernden Scheiten in den Kamin geworfen hatte, dann auf einmal jener Abend, der Ohrensessel, die beiden toten Menschen, der neue König. Geistesabwesend wollte er sein Glas füllen und erschrak, als er bemerkte, dass die Flasche bereits leer war. Er dachte kurz darüber nach, dass er sich nicht erinnern konnte, wie er sie geleert hatte, keine Erinnerung, dann stand er auf, um eine neue aus dem Keller zu holen.
Erst als er die Kellertreppe hinab stieg, merkte er, dass er bereits einigermaßen betrunken war. Die vertrauten Wände und Gegenstände hatten sich mit Fremdheit aufgeladen, wichen vor seiner tastenden Hand zurück. Auch das war seltsam, denn normalerweise blieb er immer bei klarem Verstand, wenn er schrieb. Das Verfassen eines Textes war für ihn immer das beste Hausmittel gegen einen Kater gewesen, einfach, weil dort die Strukturen immer klar, dem Wahnsinn des Zufalls entrissen waren. Selbst wenn Inhalte manchmal fremd und nebulös waren, durch die Transferierung in Buchstaben bildeten sie ein System in dem er zuhause war. Es hatte ihn immer ernüchtert, Worte zu schreiben, aneinanderzufügen, Sätze zu verschachteln. Egal wie sich eine Geschichte entwickelte, es waren immer die gleichen Buchstaben, die sich nach klar umrissenen Regeln zusammensetzten. Die Flasche trockener Rotwein war dann zwar mit der Zeit irgendwann Teil des Rituals, Teil des Schreibens geworden, ab und zu ein Schluck zwischen den fließenden Gedanken, aber er war nicht Bukowski und dass er eine ganze Flasche Wein, alleine während eines so kurzen Kapitels getrunken hatte, war lange her, zu lange um sich zu erinnern.
Doch wie lange hatte er überhaupt geschrieben und was war Zeit, wenn man sie nicht fühlte. Vorsichtig tasteten sich seine Füße Stufe für Stufe vorwärts, hinab, während er an den neuen König dachte. Regungslos verharrte er eine Weile vor dem Weinregal, starrte prüfend in die Leere, zögerte, obwohl er immer den gleichen Wein trank, dachte und brütete, entwickelte eine Idee, die noch verborgen wie ein Vulkan unter der Oberfläche brodelte.
Der Gedanke den neuen König zu prüfen war nahe liegend und folgerichtig und kam ihm doch erst als er wieder in dem Ohrensessel saß, der Wein entkorkt, das Glas gefüllt, die Zigarette am brennen war. Eine Figur ließ sich wie ein Mensch am ehesten an ihren Handlungen bewerten und um dem neuen König die Persönlichkeit hinter dem dunklen Schatten zu entreißen, das zu enthüllen, was dieser nicht preisgeben wollte, musste er ihn handeln und damit entscheiden lassen. Er selbst war der Autor dieser Geschichte, er konnte das, was geschah lenken.
Noch während dieses Gedankens griff er nach dem Stift, sah die Entwicklung der Geschichte vor sich, fragte sich, wie sein neuer Charakter reagieren würde. Wieder versank er in dieser grauen Welt und ließ den Stift über das Papier streichen.
„Eine junge Frau trat aus der Reihe hervor und war wunderschön, ging mit gesenktem Haupt auf ihn zu, und wäre er nicht König gewesen, hätte er sich erhoben, um sie willkommen zu heißen.
Noch fühlte er sich unsicher in seiner neuen Rolle und unsicher machte ihn auch diese Frau, deren Bedeutung er ahnte, aber nicht begriff. Obwohl ihm das Gesicht vollkommen fremd war, erinnerte sie ihn an jemanden, erinnerte ihn an etwas, ohne dass er die Erinnerung benennen konnte. Obwohl ihr Blick ernst war, glaubte er dem Gesicht anzusehen, dass es oft gelacht hatte, ein besonderes, ein einzigartiges Lachen, das nun hinter einem Tränenschleier verborgen war. Sie trug etwas in den Händen, das sie in weiße Tücher gewickelt hatte, und ihre Augen wichen seinen suchenden Blicken aus.
„Ich kann es nicht mehr tragen“, flüsterte sie, als sie sich dem neuen König näherte,
und „ich habe keine Hoffnung“, sagte sie, als sie ihn erreicht hatte.
„Ich bin dein König“, antwortete er,
und „ich kann dir helfen.“
„Ich möchte in den Wald gehen, möchte mich in den Klee legen
und vergessen, dass alles mehr, als ein kalter Frühlingsmorgen ist, ich
möchte die Vögel hören, bevor ich einschlafe, nicht den ewigen Tritt der Schuhe
auf das Pflaster, ich möchte frei sein“,
sagte sie,
„aber ich kann ihn nicht mitnehmen.“
Mit zitternden Händen streckte sie ihm das Bündel entgegen.
„Mach dir keine Sorgen“, sagte er und nahm das Kind in seine Arme.
„Er schläft und er wird weiterschlafen, wenn ihr ihn vorsichtig haltet, mein König.
Er wird nicht aufwachen. Er wird ewig träumen.“
Tröstend strich er der Frau mit der Hand durch die Haare,
wollte gar nicht loslassen, wollte sie nach ihrem Namen fragen, dann war sie mit einem Mal
verschwunden. Eine ganze Weile saß er einfach regungslos da, hielt das Kind in seinem Arm und versuchte sich an die Frau zu erinnern, versuchte ihre Erinnerung festzuhalten, dann wurde er müde, irgendwann sank sein Kopf zur Seite und er schlief ein.
Das dritte Kapitel
Während der König schlief, zog die Parade weiter. Mensch um Mensch spuckte die Kurve auf die Straße, Mensch um Mensch verschlang die Straßenkuppe am Horizont. Viele Gesichter blickten hinüber zum neuen König, manch einer neidete ihm seinen Thron, viele fragten sich, was wohl in dem Bündel war, das der schlafende König fest an seine Brust gepresst hatte.
Höher und höher stieg die Sonne und trieb die Schatten in den benachbarten Wald zurück.
Gruppe reihte sich an Gruppe, doch dann wurden es weniger, die Parade neigte sich dem Ende zu. Immer durchlässiger wurde der Menschenstrom, manchmal riss er ganz ab, schließlich waren es nur noch vereinzelte Menschen, die sich aus den unterschiedlichsten Gründen von der Gruppe getrennt hatten, diese aber nicht verlieren wollten. Schließlich war es nur noch ein einzelner alter Mann, der ein verlorenes Bein mit zwei Krücken zu ersetzen versuchte, der den Raum zwischen Kurve und Kuppe bevölkerte. In einem eisernen Rhythmus, bewegte er sich auf die Stelle zu, wo die Steigung zur Senkung wurde, wo die Straße vielleicht abwärts, vielleicht in ein Tal führte, immer wieder zischte es, wenn er die Luft zwischen den Zähnen hervorpresste, immer näher kam er der Kuppe, immer leiser wurde das Zischen, dann fiel er zur Seite, tot, und die Straße war leer, als der Abend dämmerte und das Kind nach seinem Vater zu schreien begann.“
Er hielt inne und dachte über das nach, was er dort geschrieben hatte, dachte, dass es ihn an das Unsägliche erinnerte, dass er immer noch trauerte und dass die Frau vollkommen fehl am Platz war, dass sie nicht in diese Geschichte gehörte. Er wusste, wer sie war, die der neue König nicht kannte, nicht kennen konnte, weil sie ein Teil seiner eigenen Geschichte, ein Teil der Wirklichkeit war. Er entzündete sich eine weitere Zigarette, dachte, dass er zu viel rauchte, dachte, dass er sein eigenes Kind niemals schreien gehört hatte, schrieb dann weiter, um all den traurigen Gedanken auszuweichen.
„Während das Kind in seinen Armen starb, träumte der neue König: Vorsichtig erhob er sich von seinem Thron und behutsam bettete er den kleinen, schweren und kalten Körper neben den schlafenden Dienern. Ratlos schritt er der Prozession hinterher und mit jedem Schritt verlor die Welt um ihn herum ihre Farben. Irgendwann war da nur noch der Mond, bleich und verloren das Licht, das er auf die Erde reflektierte. Irgendwo hinter ihm der Donner der Geschütze, vereinzelte Lichtblitze, welche die Welt immer nur kurz und schemenhaft erhellten.
„Einsamkeit“, dachte er und fragte sich, wo all die Untertanen waren, die doch vor kurzem noch so zahlreich an ihm vorübergezogen waren. „Was ist ein König ohne Untertanen“, dachte er sich, und dann „nichts als ein starrer, faulender Baum, der nur noch nicht vollständig gestorben ist, weil der Tod eine Weile braucht, bis er von den Wurzeln bis in die Krone gekrochen ist.“
Er spürte, dass er Menschen um sich brauchte, gerade jetzt, wo die Traurigkeit ihn behutsam mit einem unsichtbaren Netz umspann, gerade jetzt, wo es immer dunkler wurde und unbekannte Erinnerungen an die Oberfläche krochen, doch da war nur der Mond und so beschloss er ihm zu folgen.
„Sprich mit mir, Mond“, rief er zu der leuchtenden Scheibe empor, doch nur Schweigen war die Antwort und dann kam Wind auf, der die dunklen, schwarzen Wolken übereinander trieb.
Immer dunkler wurde es um ihn herum und weil er weder aus noch ein wusste, ging er immer weiter, kam von der Straße ab und fand sich nach einer Weile in den dichten Wäldern wieder.
„Aus dem Weg, Zweige“, flüsterte er und weil der Wald Teil seines Reiches war, schoben sich die Ranken und Dornen beiseite, um ihren neuen König passieren zu lassen. Lange schritt er so weiter, bis er irgendwann auf die Frau stieß, die ihm das Kind gegeben hatte.
Regungslos lag sie auf einem Blätterbett, wie die Diener schlief auch sie, tief und fest und er blieb eine Weile bei ihr, sprach mit ihrem Leib, doch auch sie antwortete nicht. Er hatte so viele Fragen an sie, Fragen, die immer zahlreicher in seinem Kopf auftauchten, Widersprüche, die er sich nicht erklären konnte.
„Ich will nicht, dass es in meinem Reich so finster ist“, sagte er schließlich und endlich, endlich antwortete die Frau, schläfrig war ihre Stimme, der man anhörte, dass sie nur kurz in den Bereich des Bewusstseins geglitten war: „Es ist immer nur so finster, wie Ihr befehlt, dass es finster ist, mein König“, flüsterte sie, ohne die Lippen zu bewegen und ihre Worte waren Trost. „Ich befehle, dass es Licht wird“, sagte der neue König, doch es blieb dunkel.
„Es ist noch nicht an der Zeit“, flüsterte die Frau, „erst musst du ganz Mensch, ganz König werden“, dann blieb sie still, und ratlos bettete er ihren Kopf eine Weile in seinem Schoß.
Schließlich ging er weiter und er tat es ohne Abschied zu nehmen, weil er irgendwie wusste, dass es ein Traum war und weil man sich in Träumen nie verabschiedete. Schließlich gelangte er an einen Fluss, den er zwar nicht sehen – denn im Wald war die Nacht am dunkelsten –, aber riechen und hören konnte. Von weit oben her, aus den Gipfeln der nahen Berge, suchte sich das Wasser seinen Weg die Hänge hinunter und er befahl ihm innezuhalten, damit er durch die schwarzen Fluten waten konnte. Behutsam hob er sein purpurnes Gewand und schritt durch das stille Wasser. Gerade, als er die Mitte erreicht hatte und sich suchend umblickte, war da eine Stimme, die ihn zu sich rief und auf einer kleinen Insel, genau in der Mitte des Flusses, lag seine vergessene alte Mutter. Der Mond zeigte sein Erbarmen und schob sich für einige Momente zwischen den dunklen Wolken hervor, so dass er sie sehen konnte. „Mutter, ich bin König“, rief er ihr zu, doch sie lachte nur und winkte ihn zu sich. „Du bist so wenig König wie ich Königin bin“, sagte sie, „es gibt nur einen König, den ich kenne und der ist der Krieg, der Krieg ist der König und wir alle sind seine Vasallen.“
„Aber Mutter, siehst du nicht mein Gewand?“, rief der neue König, doch als er an sich hinunterblickte, waren da nur Lumpen, Fetzen und zerschorfte Knie. „Ich sehe dein Gewand“, sagte die Mutter und erst jetzt fiel ihm auf, wie dunkel die Höhlen ihrer Augen waren.
„Mutter, siehst du meine Krone?“, flüsterte er, obwohl er keine Krone trug und wieder lachte die Mutter. Dann dachte er, dass es viel zu kalt war und dass die Mutter frieren musste, die dort ohne Decke an dem schlammigen Ufer lag.
„Ich werde dich hier wegbringen, Mutter“, rief er und fasste ihren knochigen Leib, der eine einzige Entbehrung war. Vorsichtig hob er sie auf seine Schultern, vorsichtig trug er sie durch die dunklen Fluten. Die Mutter schwieg, so als ginge sie dies alles nichts an und er versuchte sein Schluchzen zu unterdrücken, um ihr nicht noch mehr Kummer zu bereiten.
„Ich wollte dich nicht zurücklassen, Mutter“, flüsterte er, „aber ich hatte Angst, solche Angst.“
Immer schwerer wurde ihr Körper und er musste kleine Pausen einlegen, stand immer wieder regungslos im Wasser, das sich noch immer seinem Befehl beugte und den Atem anhielt.
„Mutter, du bist so schwer“, flüsterte er und die Anstrengung machte aus den Worten ein pfeifendes Keuchen. Wieder ging es einen Schritt vorwärts, wieder versuchte er das Gewicht zu verlagern, wieder einen Schritt, dann auf einmal eine Untiefe, Angst, dass sie ihm entglitt, kein Boden unter den Füßen, Panik, Atemnot, Wasser schlucken. Diesmal würde er sie nicht zurücklassen, nicht loslassen, fest umklammerte er das magere Bündel, die Füße tasteten nach dem Boden, keine Worte, keine Luft, dann ließ er sie doch los, überleben wollte er, überleben um jeden Preis, nicht hier in den dunklen Fluten versinken, denn er war König und musste auch an sein Volk denken. Wild strampelnd schoss er an die Oberfläche, schlug und kratzte nach dem Wasser, das vor seinem König zurückwich, an das Ufer waten, dann eiskalte Finger, die sich um seinen Knöchel schlossen, ihn wieder nach unten zogen, und es war so kalt, kälter als der Tod und er trat nach ihr, stieß sie zurück nach unten, schluchzend und schreiend, schrie, dass sie nicht seine Mutter war, nur ein böser Geist, keine Verantwortung, keine Schuld, dann irgendwann kroch er an das Ufer und erwachte.“
Nachdem er diesen Satz geschrieben hatte, stand er auf und ging im Kaminzimmer auf und ab, so wie er es oft in seinem Leben tat, wenn schwierige Entscheidungen ihm Kopfzerbrechen bereiteten. Er dachte, dass die Geschichte sich nicht so entwickelte, wie er es wollte, dass erneut diese Frau, seine Frau aufgetreten war, dass sie dem neuen König geraten hatte, gewissermaßen auf seiner Seite stand. Er dachte, dass er durchaus in den Text eingreifen, ihn in groben Zügen lenken konnte, dass jedoch der tatsächliche Ausgang ungewiss war. Er hatte seine Hände um die Knöchel des neuen Königs geschlossen, hatte ihn hinabziehen, ertränken wollen, doch das Wasser hatte ihn nach oben gehoben, seinem Griff entrissen und ihn ans Ufer getragen. Dann dachte er an seine Mutter und wie erbarmungslos der Tod sie ihm genommen hatte. Von einem Tag auf den anderen war er gezwungen gewesen erwachsen zu sein, er war der Kindheit entwachsen, hatte wachsen müssen, um die Schuld zu verarbeiten, die sein Kindsein überforderte. Die Mutter war für ihn ein Halbgott gewesen, die letzte Instanz, ein sicherer Hafen,
zu dem er immer wieder zurückkehren konnte, um die Erfahrungen seiner Kinderwelt zu verarbeiten. Einzelne Gedankenfetzen verbanden sich, er dachte an den Geruch ihrer Schürze, wenn er den Kopf in ihrem Schoß geborgen hatte, dachte zurück an die Zeit, als er nur rufen musste, wenn er schlecht geschlafen, Albträume gehabt hatte, wenn er sich verletzt hatte oder verletzt worden war. Immer war sie für ihn da gewesen und an jenem Tag, als er erwachsen geworden war, war er nicht für sie dagewesen. Er dachte zurück, war wieder Kind, lag in seinem Jugendbett, Wochenende, schulfrei am nächsten Morgen, dann auf einmal dieses Geräusch, mit dem alles angefangen hatte, ein Geräusch, für das er keine Erklärung gefunden hatte. Etwas war hingefallen, etwas Großes und Schweres, auf den Boden gefallen, doch es hatte anders geklungen als alle Gegenstände die ihm einfielen. Als er nach der Mutter rief, war sie nicht gekommen, die erste bewusste Erinnerung daran, dass sie ihn im Stich gelassen hatte. Er erinnerte sich, wie er in der Dunkelheit auf die Tür gestarrt hatte, jeden Moment erwartet hatte, dass sie kam, ihn beruhigte, das Geräusch erklärte. Sie war nicht gekommen und anstatt die Augen zu schließen und den nächsten Morgen abzuwarten, hatte ihn kalte Panik ergriffen. Der Umstand, dass sie nicht kam, ihm nicht half, war eine Erfahrung, die sich mit nichts vergleichen ließ, unfassbar als würde die Sonne ihren Lauf unterbrechen oder einfach ihre Richtung ändern, unfassbar wie die Zaubertricks, die er in einer Zirkusvorstellung gesehen hatte, aber gleichzeitig voller Ernst und Bedrohung. Er erinnerte sich an die Treppenstufen, die er hinabgestiegen war, den Moment in dem er gesehen hatte, dass Licht unter der Küchentür hervorstrahlte, obwohl es mitten in der Nacht war. Viel zu lange hatte er vor dieser Tür gestanden, nicht gewagt sie zu öffnen, mehrmals ihren Namen gerufen, geweint, dann durch die Tür gehorcht, gewartet, gezittert, gefroren. Dann hatte er die Tür geöffnet.
Der Moment, in dem er seine Mutter entdeckte, war ein furchtbarer Moment gewesen. Da sie sonst meistens neben dem Herd an der Arbeitsplatte stand, wenn er in die Küche gekommen war, hatten seine Augen sie zuerst dort oben zwischen Kacheln und Spülbecken gesucht, große Erleichterung durchströmte ihn, dass sie nicht dort stand, denn er hatte etwas Schlimmes erwartet. Eine Veränderung in ihrem Gesicht, eine dämonische Vampirfratze oder auch nur der Ausdruck von Enttäuschung und Geringschätzung, er hatte gefühlt, dass etwas nicht stimmte, aber die Dimension der Verkehrtheit nicht begriffen. Dann erst sah er sie auf dem Boden und erstarrte. Er hatte seine Mutter noch nie hilflos gesehen, immer hatte sie eine Lösung gewusst, egal wie kompliziert das Problem gewesen war, das er ihr vorgetragen hatte. Nun lag sie mit dem Gesicht nach unten auf dem Küchenboden, atmete heftig, keuchend und doch fast lautlos in den Boden hinein, erstickend und er entdeckte einen kahlen Fleck in der Mitte ihres Kopfes, der ihm noch nie zuvor aufgefallen war. Sie hatte ihre Hände, mit denen sie ihm sonst so oft liebevoll durch die Haare gestrichen hatte, unnatürlich verkrampft, ihr Nachthemd war nach oben gerutscht und ihre dicken weißen Schenkel leuchteten im gnadenlosen Licht der Deckenleuchter. Erstarrt war er, hilflos, überfordert, konnte sie nur betrachten, anstaunen, war wie festgefroren, als sie ihm das Gesicht zugewandt und ihn angeblickt hatte. Bestürzte Augen, die sonst sooft liebevoll gelächelt hatten, wirre nasse Haarsträhnen, der Mund verzerrt, Speichel und Schaum, sie hatte seinen Namen geflüstert, nichts als seinen Namen und er hatte nichts tun können, als sie zu betrachten. Sekunden, Minuten, Jahre, die Zeit war aus der Küche verschwunden gewesen. Irgendwann, nach einem ewigen Moment, war er wieder Herr über seinen Körper gewesen, hatte gedacht, dass er ihr helfen musste, hatte an das Telefon gedacht und dass er keine Nummer kannte, die er hätte wählen können. Dann waren ihm die Nachbarn eingefallen und er hatte losrennen wollen, Hilfe holen, so wie es einmal ein Feuerwehrmann in der Schule erklärt hatte, und gerade in dem Moment, als er sich umdrehte, hatte sie nach seinem Knöchel gefasst, die Hand war eiskalt gewesen, eine Kralle, die ihn eisern festhielt, zu sich hinzog, wieder hatte sie seinen Namen ausgesprochen, hatte ihn zu sich gezogen, festgehalten und an ihre Schürze gedrückt, er erinnerte sich, dass er geschrien hatte, dass sie dort lagen, dass sie ihn nicht losgelassen hatte, als sie gestorben war, dass er die ganze Nacht dort mit ihr gelegen hatte und dass es kalt und immer kälter geworden war.
Er schüttelte den Kopf und riss sich von seinen Gedanken los, überwand in seinem Ohrensessel sitzend eben jene Starre, die er schon einmal als Kind überwunden hatte, suchte eine schöne Erinnerung, versuchte sich das Gesicht der Mutter in aller Deutlichkeit und in aller Liebe vor das geistige Auge zu rufen, doch es gelang nicht. Immer wieder war da nur der Küchenboden, die Kälte, immer wieder, wenn er versuchte sich ihr Gesicht vorzustellen, war sie nichts als ein Gespenst, schemenhaft, fremd, ebenso wie der neue König, den er sich nicht vorstellen konnte, eine einzige Leerstelle, die in den Erinnerungen klaffte. Auf seltsame Weise hatte ihn das Geschriebene vereinnahmt, einen Teil seiner Gedanken blockiert und er dachte, dass er es vielleicht niemals veröffentlichen würde, dass es das Persönlichste war, das er jemals geschrieben hatte, vielleicht eine ganz eigene Art von Selbsttherapie, denn trotz all dem schmerzhaften Staub, den er aufwirbelte, fühlte er sich erstaunlich gut, er schrieb, allein dies war ein Grund zu leben. Tief atmete er durch und beruhigte sich, füllte das leere Glas und beschloss weiterzuschreiben, erst später darüber nachzudenken, weil die Reflexion zwar notwendig aber auch ein Feind des kreativen Prozesses war.
„Der neue König saß auf seinem Thron und dachte“, schrieb er und stockte kurz, dachte selbst an Descartes und dann, dass fiktive Figuren nicht denken konnten, einfach weil sie nicht existierten und dass dieser Satz, sooft er auch gedruckt wurde, eine Lüge war, wenn man den Überlegungen jenes wahrscheinlich größten Denkers seiner Zeit folgte.
„Das Kind lag noch immer in seinem Schoß, schlief so sanft und ruhig, dass nicht einmal sein Atem zu hören war, schlief wie die Diener, während der König nachdachte. Der Traum ließ ihm keine Ruhe, er war etwas Fremdes, etwas Neues, überhaupt der erste Traum, an den er sich erinnern konnte. Er dachte an die Frau, die seine Mutter war und an die er sich nicht erinnern konnte. Nur ihr Gesicht, ihr lächelndes, gutmütiges Gesicht konnte er sich vor Augen rufen, sonst wusste er nichts, wusste nicht woher er stammte, wusste nichts über seine Kindheit, jede Erinnerung begann mit der Straße, dem Ohrensessel und seiner Krönung. Die vage Erinnerung an eine Mutter, der Gedanke einmal Kind gewesen zu sein verwies auf eine ganz andere Welt, war einzigartig und gab ihm eine Geschichte. Sanft wiegte er den kleinen Körper und versuchte sich zu erinnern, doch da war nichts als ein schwarzes Loch, immer wieder Leerstellen, die sich nicht füllen ließen, Abgründe, in die er stürzte, kein Halt fand sich. All dies machte den neuen König traurig, verloren kam er sich vor und selbst die Parade, die nun weiterging, konnte ihn nicht mehr fröhlich stimmen. Kurzentschlossen erhob er sich
und dachte, dass er den Wald besuchen würde, von dem er auf dem Thron geträumt hatte. Das Kind, das in seinen Armen lag, würde er mitnehmen und einen Platz finden, an dem es in Frieden schlafen konnte, ungestört vom Lärm der Parade. Er stieg mit leichtem Schritt über die Leitplanke und bald war er von lebendigem Grün umgeben.
Der Wald, durch den er schritt, war ein friedlicher Wald, keine Dornen und dunkle Ecken, Herbstlaub federte wie ein bunter Teppich den Schritt und die Sonne fand immer wieder Wege, um ihr warmes Licht durch die Regenfurchen in den Eichenrinden hinabsickern zu lassen. Emsige Spechte gaben einander Klopfzeichen und auch die Vögel in den majestätischen Baumkronen begrüßten ihren neuen König. Eine Weile ging er durch diese träumerische Landschaft, dann wichen die Bäume zurück und machten einen kleinen Platz frei, den sie mit ihren mächtigen Körpern beschützten. Der Wind hatte die bunten Herbstblätter sanft übereinander gedrängt und einen weichen Laubhaufen, wie einen Grabhügel auf der Lichtung zusammengeblasen, auf dem der neue König das Kind vorsichtig bettete. Dies war sein Reich und der treusorgende Wald mit all seinen verborgenen Bewohnern würde für das kleine Leben sorgen, das Kind behüten, das sich verträumt die Augen rieb und bald schlafen würde.
Sorgsam bedeckte er den kleinen Körper mit wärmenden Blättern, bis schließlich nur noch das kleine schlafende Gesicht aus dem bunten Herbst hervorschaute.
„Blut von meinem Blut, Fleisch von meinem Fleisch, Saat meiner Gedanken“,
murmelte der neue König, um diesem Moment eine verdiente Feierlichkeit zu verleihen und wieder brachten die Worte eine Erinnerung, an ein anderes Leben, in dem jemand diesen Satz gesagt hatte. Seitdem er König geworden war, waren immer mehr Fragen aufgetreten, die er vorher einfach nicht gekannt, von denen er nichts gewusst hatte. Die Erinnerung begann mit der staubigen Straße, dem Gedanken an den Tod, dann: der Ohrensessel, das Gefühl von Heimat, seitdem: Erinnerungsfetzen wie Lichtblitze aus einer Zeit, die vor dem Ohrensessel, vor der Straße lagen. Eine Vergangenheit a posteriori, der Wunsch nach Assimilation. Der Traum von der Mutter war ein vorläufiger Höhepunkt der seltsamen Gedanken gewesen, nach denen er fortwährend suchte und die doch nur unverhofft, ohne sein Zutun auftauchten. Sie unterlagen nicht seiner Macht und das bedeutete, dass sie nicht Teil des Reiches waren, das er als König sein Eigen nannte.
Er dachte, dass er selbst, die Frau, die Mutter, das Kind, allesamt Verstoßene, Vertriebene und aus einem fremden Reich verbannt worden waren, in dem ein Anderer regierte und er beschloss mit seinen Untertanen zu sprechen und sie über dieses Reich zu befragen, aus dem auch sie geflohen waren.
Ein letzter Blick galt dem Kind, das sich zur Seite gedreht und tiefer in das Laub gegraben hatte, dann ging er zurück zur Straße, zurück zu seinem Thron. Er weckte seine Diener, die nun lang genug geschlafen hatten, dann befahl er der Parade zu halten und trat hinunter auf die Straße. Mit dem gebotenen Ernst schritt er ihre Reihen ab, blickte vielen tief in die Augen, klopfte manche Schulter, dann bildeten sie einen Kreis, um ihrem neuen König ihre Geschichte zu erzählen, näher rückten sie zusammen und während sie sprachen, der neue König wieder auf seinem Thron saß und ihnen zuhörte, wurde sein Gesicht ernster und sorgenvoller.“
Obwohl er, wenn er schrieb, in einen unbewussten, träumerischen Zustand entglitt, war da doch ein Teil von ihm, der stets kritisch und streng die Entstehung des Textes überwachte, eine Art innerer Zensor, der oft genug einschritt und die Assoziationskette sprengte, der strenger und unerbittlicher war als die wirklichen Rezensenten, die oft genug seine Stücke angegriffen, manche – er hasste dieses Wort – verrissen hatten.
Der innere Rezensent, der Impuls einen Text und das Blatt auf dem er geschrieben war zusammenzuknüllen, dieses zeitlose Motiv zahlreicher Liebesgeschichten und begonnener Liebesbriefe, die Versuchung, den gescheiterten Versuch ungeschehen machen, der Affekt, der dafür verantwortlich war, ein Wort, einen Satz – oftmals mehrfach – durchzustreichen, Texte zu zerreißen und die zerrissenen Phrasen dem Feuer zu übergeben. Dieser innere Zensor, war mit jeder Zeile unwilliger geworden, seine Schrift war krakelig, nahezu unleserlich geworden. Mit wachsender Panik hatte er bemerkt, dass er nicht aufhören konnte zu schreiben, dass seine Hand einem fremden Willen folgte und immer schneller Buchstabe um Buchstabe in sein Notizbuch zeichnete, am Rand immer nur kurz verharrte und dann entschlossen in die nächste Zeile sprang. Hilflos musste er zusehen, wie sich die Seiten füllten, wie die Hand umblätterte, und ein Teil von ihm dachte, dass er wahnsinnig geworden war. Mehr und mehr wurde er aus der Geschichte zurückgedrängt, er hörte die Flüchtlinge flüstern, verstand aber nicht, was sie sagten, immer mehr verblasste das Bild, farblos scharten sie sich um ihren neuen König, die Geschichte entfernte sich immer mehr von ihm, was dazu führte, dass er immer rationaler und klarer über seinen Zustand nachdenken konnte. Zunächst hatte er gedacht, dass diese „Schreibattacke“ wohl so etwas wie eine Art Anfall war, eine Flut der Kontrolllosigkeit, auf die jeden Moment wieder die Ebbe, die Kontrolle folgen würde, ein seltsamer Akt des Wahnsinns, der wie ein Krampf, oder ein schlechtes Gewissen vorübergehen und dann vergessen sein würde.
bis hierhin
Er würde sich im Ohrensessel wiederfinden, dieses seltsame Geschehen dem Alkohol und der späten Stunde zuschreiben, sein normales Leben weiterführen, so dachte er und er dachte es eine Weile lang, wartete auf den ersehnten Moment der Kontrolle, bis er begriff, dass sein Gedanke falsch war. Er erinnerte sich an jugendliche Drogenerfahrungen, halluzinogene Substanzen, sich selbst zitternd in einer Ecke an einem bedrohlich fremden Ort, schwitzen und der Wunsch, dass es einfach vorbei wäre, der Gedanke es niemals wieder zu tun, wenn es nur vorbeiginge, gleichzeitig das Wissen, dass er keine Kontrolle hatte, dass fremde biochemische Prozesse seinen Körper lenkten, dass das Gehirn nicht das dachte, was es denken sollte. Er begriff in diesem Moment im Ohrensessel, dass seine Hand immer weiter schreiben würde, wenn er sie nicht zwang aufzuhören, dass es nicht einfach vorbeigehen würde, dann der schlimmste Gedanke, dass es niemals vorbei sein würde. Er erkannte jenen Prüfstein, jene plötzliche Erkenntnis, dass er jetzt, in diesem Moment, etwas tun musste, dass es ansonsten vielleicht zu spät war. Am allerschlimmsten aber war der Gedanke, dass er sich nicht einmal sicher war, dass es aufhören sollte, denn da war auch jene Spannung, er wollte näher an den Kreis heran, wollte verstehen, was die Figuren sagten, die Frage, wie es weitergehen, was geschehen würde, spürte, dass das, was gesagt wurde wichtig war, sie flüsterten, weil sie nicht wollten, dass er sie verstand, weil sie von ihm wussten und dann fand er den Gedanken, der seine Rettung wurde, der ihm ein Stück Kraft und Macht zurückgab. Er hatte sich bislang als Mensch angegriffen gefühlt, als Privatperson, die Schlimmes erlebt hatte und die nun auf eine unerklärliche Weise zusammenbrach unter der Last der Erinnerung und – nur in diesem Moment gestand er es sich ein – fortwährendem, teils exzessivem Alkoholkonsums. Erbärmlich war er sich vorgekommen, hilflos, doch der neue Gedanke veränderte die Situation. Er fühlte sich als Schriftsteller angegriffen und das war etwas anderes, denn das war ein Bereich, in dem er sich trotz aller Rückschläge und Enttäuschungen nicht angreifen ließ und erst recht nicht von einem Haufen fiktiver Flüchtlinge, die sich gegen ihren Autor verbündet hatten. Empört war er und dabei zornig und vor allem entrüstet über das, was sich diese unsägliche Figur herausgenommen hatte. Nichts konnte seinen Stolz härter treffen, als wenn der eigene Protagonist rebellierte und sich seinem Willen widersetzte, sich ohne Sinn, Verstand oder Zusammenhang selbst krönte und den Gang seiner Geschichte eigenmächtig veränderte. Er ballte alle diese Gefühle in einen einzigen freien Atemzug, gewann für einen kurzen Moment wieder die Gewalt über seine missbrauchte und entmündigte Hand, schleuderte den Stift mit aller aufgestauten Wut gegen die Wand, wo er zerbrach und in zwei Teilen unschuldig auf den Boden fiel. Sofort war der geheime Bann gebrochen, verschwunden, doch es dauerte einige Minuten, bis er seiner Hand wieder vertraute und wie zur Probe das Glas ergriff und einen Schluck von dem trockenen Rotwein nahm. Mit zitternden Fingern entzündete er sich eine Zigarette, stieß das Manuskript beiseite und trat hinaus in den Garten, wo ein kühler Luftzug ihn ein wenig beruhigte und langsam, Stück für Stück, den Schrecken von ihm nahm. Er stand dort einige Minuten und atmete in kontrollierten und vollen Zügen, während er in die Dunkelheit des Gartens starrte.
Wie so oft, wenn er an diesem Platz seine Gedanken ordnete, den einen Fuß auf der Terrasse, den anderen, wie zur Prüfung, bereits auf dem lange nicht mehr gemähten Rasen, hatte er das Gefühl beobachtet zu werden. Wie so oft horchte er in die Dunkelheit, doch da war nur der Wind in den herumwirbelnden Zweigen. Trotzdem glaubte er immer wieder Blicke aus dem Verborgenen zu spüren, feindselige Blicke, hinter denen sich ein feindlicher Verstand verbarg.
Da er noch nicht müde war und sein Herz ohnehin zu schnell schlug, um einfach schlafen zu gehen, ging er nach einer Weile wieder zurück ins Haus, beschloss sich an diesem Abend nicht mehr mit dem neuen König auseinanderzusetzen, schaltete nach einem kurzen Seitenblick auf die Uhr den Fernseher ein, da um diese Zeit – es war gegen vier Uhr in der Früh – eine jener Kultursendungen wiederholt wurde, die er seit vielen Jahren immer wieder gesehen hatte. Am liebsten mochte er jene alten Buchbesprechungen – obwohl es ein Wort war, dass er hasste –, die zumeist blasse Aufzeichnungen von Aufzeichnungen aus den 70er Jahren waren. Es war weniger Nostalgie als vielmehr eine Art von stummer Rebellion, mit der er die aktuellen, postmodernen Literatursendungen boykottierte, die ohnehin nicht für Menschen wie ihn konzipiert waren. Er war davon überzeugt, dass ebenso wie die verschwindend geringe Zahl von lebenden Intellektuellen mit ihrer Freizeit nicht besseres anzufangen wussten, als sich über Talkshowgäste, Popsternchen und kollektive Selbstdemütigung zu belustigen, Nacht für Nacht das Prekariat
– ein Wort, dass er mochte – seine Fernsehgeräte einschaltete, um in den neuen, postmodernen „Literatursendungen“ einen sanften, monotonen Weg in den Schlaf zu finden, oder um über fremdartige Scheingelehrte und noch viel fremdartigere Wörter wie „Konglomerat“ oder „Disposition“ zu lachen. Staunend hatte er miterlebt, wie diese beiden Genres – Bildung und Verdummung – munter an ihren Zielgruppen vorbeiproduziert wurden, indem die Fehler der einen Senders die Fehler der anderen ausglichen, irgendwie aufhoben. Das Problem war für ihn dort entstanden, wo es in den letzten Jahren wohl Umstrukturierungen und Neubesetzungen in den Chefetagen der öffentlich rechtlichen Sendeanstalten gegeben hatte. Die totale Ignoranz der eigentlichen Zielgruppe war wohl aufgeflogen und ein neuer, wahrscheinlich junger und dynamischer, zumindest innovationsfreudiger Chef hatte versucht die Kultursendungen zu popularisieren. Nicht nur die karge Einrichtung der Studios (oft nicht mehr als ein Tisch und zwei Stühle) war auf einen Schlag bunt und voller Geheimnisse gewesen, man hatte eine wahre Reform durchgeführt, man hatte das Programm verändert. Analysten hatten wohl erkannt, dass es hauptsächlich die staubtrockene Authentizität der bebrillten, bärtigen und oftmals karierten Relikte des Bildungsbürgertums, sowie ihren oftmals fülligen, ebenso bebrillten – denn die Brille war das Geheimzeichen der Intellektuellen – und mit dicken Perlen behangenen weiblichen Pendants waren, welche den einen oder anderen betrunkenen Partyheimkehrer vor dem Bildschirm gehalten hatte.
Manch einer hatte wohl in diesen pseudointellektuellen Karikaturen vergangener Ernsthaftigkeit einen verstorbenen Vater, einen gelehrten Onkel erkannt, Redewendungen hatten auf diese Weise überlebt, doch nun, dachte er auf dem Ohrensessel, hatte sich das Fernsehen selbst betrogen. Vielleicht war es auch den Programmdirektoren zu unheimlich geworden, ihre Darsteller über Bücher sprechen zu lassen, die sie selbst nicht und auch keiner der Zuschauer kannte, und die zudem weder sie, noch die Mehrzahl der Zuschauer interessierten, vielleicht war es der schwindende Enthusiasmus der Darsteller – denn allesamt waren sie nichts als Darsteller – gewesen, wenn Worte wie „Introspektive“ oder „Onomatopoeia“ über den Äther gegangen waren, Hilflosigkeit in diesen gelehrten Gesichtern, wenn sie beispielsweise innerhalb von 60 Minuten James Joyce und sein wahnsinniges Buch einem unwissenden Publikum erklären sollten. Die Auswahl der Bücher war verändert worden. Nicht mehr, was man lesen sollte, sondern was man las, stand nun auf dem Programm. Selbst Ortega y Gasset hätte gestaunt, wie leicht und dreist die Masse jenen winzigen Winkel des Intellekts im Fernsehen usurpiert hatte. Wozu braucht der moderne Mensch auch Tolstoi, dachte er sich auf dem Ohrensessel, wenn sich die russische Geschichte viel anschaulicher mit bunten Kostümen und ernst dreinblickenden Statisten verdeutlichen ließ, wo lag der Reiz Kafkas, wenn es genug „Realityshows“ und „Reportagen“ gab, bei denen die verzweifelten Bürger mit der Kamera zum Arbeitsamt begleitet wurden. War die europäische Subventionspolitik nicht „kafkaesker“ – ein Wort, das er hasste –
als jede noch so nachdenkliche Erzählung dieses dauerhaft traurigen Autors, dessen tiefgründiger Humor für die meisten nicht mehr nachvollziehbar schien. Da Fiktion und Realität in der Gesellschaft ohnehin immer mehr miteinander verschwammen, war zudem auch der einstige Unterschied zwischen Sachbuch und Roman verschwunden. So sprachen die sogenannten Literaturexperten neuerdings über nichtige Biographien, die allesamt der Feder des gleichen
– hier ungenannten – Ghostwriters entstammten, sprachen über „historische“ Romane, die so viel mit Literatur zu tun hatten, wie das gleicherweise geistlose Malen nach Zahlen mit der Malerei. Anstelle von elliptischen Satzkonstruktionen, Intersubjektivität oder Chiasmen sprach man nun über Geistliche und Huren, Verschwörungstheorien und postmoderne Nachkriegsliteratur, die sich zunehmender Beliebtheit erfreute. Überall wurden dem Zuschauer „historische Persönlichkeiten“ oder „persönliche Geschichten“ geboten. Der Fehler war wohl gewesen, dass man in diesem Innovationsschub davor zurückgeschreckt war, die altgedienten „Literaturkritiker“ auszutauschen, die beharrlichen Satzverschachteler durch junge und würdelose Allerweltsgesichter zu ersetzen oder zumindest diese unsterblichen Rentner über ihre harlekinhafte Funktion aufzuklären. Niemand hatte ihnen gesagt, dass egal war, was und wichtig nur, wie sie es sagten, um einen Schein von Gelehrsamkeit zu erhalten. Dies hatte dazu geführt, dass diese weltfremden Idealisten mit Ferienhaus im warmen Süden und temperiertem Weinkeller das einzige getan hatten, was es ihnen erlaubte zumindest einen kleinen Rest ihres eingebildeten Stolzes zu bewahren: Sie kritisierten, sie verrissen, sie vernichteten und weil diese neue Aufgabe einfacher war als die alte, weil die Vernichtung eines dieser Werk alle anderen vernichtete, waren aus den alten Literatursendungen, die er gerne und häufig gesehen hatte, Literaturvernichtungssendungen geworden, denen es gerade durch diese unausgesetzte Vernichtung gelang, dass die Verkaufszahlen der vernichteten und gleichzeitig nichtigen Bücher in die Höhe schossen. Je heftiger und leidenschaftlicher ein Buch vernichtet wurde, je größer die Abscheu war, mit der es zwischen den Fingerspitzen in die Kamera gehalten wurde, desto tiefer haftete es in den berauschten Köpfen vor der flimmernden Mattscheibe und wurde so in einem hinteren Teil des Gehirns als potentielles Geschenk für eine potentielle Feierlichkeit gespeichert, dachte er auf dem Ohrensessel, während er mit trägem Verstand den Ausführungen eines langhaarigen Intellektuellen folgte, der vor etwa 30 Jahren über Sartre gesprochen hatte.
Der Punkt, den er nicht verstand, aber war die Verlogenheit, mit der die Gesellschaft weiterhin die Geburts- und Todestage dieser nun geschmähten Freigeister zelebrierte, die mit einer solchen Verzweiflung gegen die herrschende Kultur angeschrieben hatten. Nun waren sie Staubfänger geworden, mehr Statussymbol als Buch, und obwohl die Druckerpressen mit jedem Tag noch buntere, noch vollständigere Gesamtausgaben herausgaben, assoziierten die meisten Menschen Nietzsche wohl eher mit Syphilis und Geisteskrankheit als mit den Unzeitgemäßen Betrachtungen, Schiller eher mit den jugend- und mangelhaften Räubern als mit den durchdachten und konsequenten ästhetischen Briefen oder dem Wallenstein.
Eine ganze Weile noch erging er sich so in einsamer und mehr und mehr melancholischer Kulturkritik, während hinter den Fenstern die Sonne sich zu einem neuen Tag erhob und er schließlich den Fernseher ausschaltete. Es lag eine tiefe Wahrheit in diesem auf den ersten Blick so plumpen Wort Fernseher, einfach, weil Menschen immer in die Ferne sahen, wenn es nichts in ihrer unmittelbaren Umgebung gab, das der Betrachtung würdig erschien. Seitdem das Unsägliche passiert war, verließ er nicht mehr so häufig das Haus und wenn doch, dann wortlos und mit einem konkreten Ziel. Der Fernseher, so schlimm dieser Gedanke auch war, bildete die einzige Verbindung zu den anderen Menschen und dem, was nach demokratischer Mehrheitsmeinung als Realität bezeichnet wurde. Lacan hätte sich wohl bestätigt gefühlt, wenn er gesehen hätte, wie erbärmlich und abhängig er sich in solchen Momenten an die spiegelnde Mattscheibe klammerte, die für die Realität bürgte, auch wenn sie zumeist nichts als Antipathie und Abscheu hervorrief. Immer wenn er die Darsteller betrachtete, die so anders, so unwirklich die Wirklichkeit repräsentierten, fühlte er sich selbst bestätigt, gestärkt, denn es war etwas anderes in einer eingebildeten Revolution gegen den Strom zu schwimmen, als in der tatsächlichen Einsamkeit und Abgeschiedenheit auf der Stelle zu treten.
Dann, als er sich gerade aufraffen und ins Bett gehen wollte, dachte er an Gérard, der nicht nur sein Verleger, sondern auch sein bester Freund war. Die Freundschaft zu ihm war wohl so etwas, was man als „Freundschaft fürs Leben“ bezeichnete. Zu allen anderen, die ihm einmal etwas bedeutet hatten, war der Kontakt abgerissen. Anders als all die anderen, die er einmal seine Freunde genannt hatte und die sich in den Jahren über Land, Welt, Beziehungen und Verpflichtungen verteilt hatten, lebte er selbst noch immer an genau dem Ort, an dem er geboren worden war, und so war er für viele der Zugang zu einer verklärten und idealisierten Vergangenheit geworden. „Dieses Haus atmet den Geist unserer Jugend“, hatte einmal ein Freund gesagt, der zu jener Zeit hauptsächlich romantische Gedichte geschrieben hatte. „Dieser Ort ist wie eine Insel im Strom der Zeit“, hatte Gérard gesagt, der oftmals die richtigen Worte fand. Als er aber dann Luisa kennengelernt hatte waren auch Veränderungen an diesem bis dahin heiligen Ort vor sich gegangen, beispielsweise ihr Rattansessel, der seinem Ohrensessel gegenüberstand und zu nichts anderem in der Wohnung passte. Wie ein Wirbelwind war sie in sein Leben getreten, voller Energie und dem Willen zur Veränderung. Es war die Zeit gewesen, in der er schmerzhaft begriffen hatte, dass er für die anderen nichts als ein Stück Nostalgie, schon lange nicht mehr Freund gewesen war, so leichtfertig dieses Wort in der heutigen Zeit auch verwendet wurde. Sein Kaminzimmer war ihnen nichts als der sichere Hafen gewesen, in dem man ausruhen und von den Erinnerungen zehren konnte, missbraucht hatte er sich gefühlt und selbst Gérard in dieser Zeit seltener gesehen. „Eine Insel im Strom der Zeit“, hatte dieser sogar mehrmals, ritualhaft, gesagt, wenn sie gemeinsam im Kaminzimmer gesessen hatten, den Blick schweifend zwischen verstaubten Postern, die ewig gleichen Bücher griffbereit in dem kleinen Regal, um in den ewig gleichen Diskussionen die eigene Argumentation zu belegen. Luisa hatte diese Welt verändert und erst jetzt, im Nachhinein, begriff er, dass sie es für sie beide getan hatte. Er hatte ihr versprochen, dass sie sich in ihr neues, gemeinsames Zuhause mit einbringen durfte, dass Veränderungen möglich waren. Nur unter dieser Bedingung hatte sie ihren Traum von einer gänzlich neuen Wohnung aufgegeben, war ihm in das Haus gefolgt, in dem seine Mutter auf dem Küchenfußboden gestorben war. Oft war es zum Streit gekommen, wenn sie dieses Recht einforderte und Bilder, Bücher und Möbelstücke von ihrem Platz entfernt hatte. Erst nachdem das Unsägliche passiert war, war auch der Kontakt zu Gérard wieder intensiver geworden und hatte sich über die gemeinsame Arbeit hinaus erstreckt. Obwohl sie ihm beide immer versichert hatten, dass sie einander mochten, waren sie einander aus dem Weg gegangen, die einzigen Menschen, die ihm etwas bedeutet hatten, waren inkompatibel gewesen.
Er beschloss, dass er Gérard einladen würde, nicht nur, weil er seinen Rat schätzte, sondern auch, weil es ihm nach einem Menschen verlangte, weil es nicht stimmte, was dieser sarkastische Therapeut ihm damals gesagt hatte. Einsamkeit verschwindet nicht einfach, wenn man sich mit Menschen umgibt, dachte er, man übersah nur wie sie wuchs, bis sie irgendwann ein Abgrund war, über den man nicht mehr hinauskam.
Das vierte Kapitel
„Das ist nicht dein Ernst“, sagte Gérard, der nicht nur sein Verleger, sondern auch sein bester Freund war. „Das kannst du nicht machen, du musst es weiterschreiben.“
Ratlos saß er in seinem Ohrensessel und dachte, dass er Gérard alles sagen musste, damit dieser ihn verstand, dachte dann, dass Gérard ihn niemals verstehen würde, verstehen konnte.
„Ich fühle mich bei diesem Text nicht wohl“, sagte er und deutete mit ausgestreckter Hand auf das begonnene Manuskript, das zwischen ihnen auf dem Tisch lag und aus dem er Gérard vorgelesen hatte.
„Du weißt, dass ich sonst sehr sparsam mit Superlativen bin, ich war immer ehrlich zu dir, aber es ist wirklich und das sage ich auch als dein Freund, es ist mit Abstand das Beste, was du je geschrieben hast.“
Er betrachtete seinen Freund, ärgerte sich über dessen Einschätzung, obwohl es auch die seinige war. So sehr ihn der Text und der gestrige Abend auch erschreckten, er mochte die traurige, rätselhafte Grundstimmung und er dachte, dass die Geschichte durch jenen geheimnisvollen Sog, der ihn als Leser wie als Autor bei der Lektüre immer wieder ergriff, auch in marktwirtschaftlicher Hinsicht das erfolgreichste seiner Bücher sein würde, wenn er es denn zu einem Ende brachte.
„Es ist wirklich anders als alles andere, was ich geschrieben habe, aber ich würde nicht sagen, dass es darum unbedingt besser ist“, belog er Gérard, der nicht nur sein Verleger, sondern zugleich auch sein bester Freund war. Es stimmte einfach nicht, er hatte gute Bücher geschrieben, ebenso wie er schlechte Bücher geschrieben hatte, aber dieses Manuskript war etwas gänzlich anderes. Es verwunderte und erschreckte ihn zugleich, so wie wohl die ersten Farbfilme die Zuschauer verwundert und erschreckt hatten, es war etwas vollkommen Neues und er wusste, dass er niemals wieder ein solches Buch schreiben konnte. Er konnte nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, was es war, bestimmt nicht die Thematik, denn die war nicht neu, bestimmt auch nicht seine Metaphorik, aber es herrschte eine verborgene Symmetrie hinter den Zeilen, alles fügte sich zusammen, wie durch ein geheimnisvolles Band verbunden, selbst wenn man nach dramaturgischen Gesichtspunkten keine klare Linie, keinen roten Faden fand – eine dieser Phrasen, die er hasste – , dann fiel ihm ein, dass er nicht alleine war, dass Gérard ihm gegenübersaß, der nicht nur sein Verleger, sondern sein einziger und bester Freund war. „Ich kann das nicht richtig in Worte fassen“, sagte er, „ich kann es nicht erklären, etwas stimmt nicht, aber…“
„Du willst mir doch nicht erklären, dass du vor deiner eigenen Geschichte Angst hast“, unterbrach ihn Gérard lachend, der nicht den Ernst der Lage begriffen hatte, nicht begreifen konnte, weil er seinen einzigen Freund konsequent belog.
Er ging nicht auf diese Bemerkung ein, ignorierte sie, ließ sie unbeantwortet zwischen ihnen in der Luft schweben, wo sie eine unsichtbare Mauer bildete, an der seine Gefühle abprallten.
„Es ist der Charakter deines Helden“, sagte Gérard, „dieser Überlebenswille, der allein es vermag eine feindliche Welt zu verwandeln, sie schön zu machen, die Graswurzel, die den Asphalt sprengt.“ Gérards Augen glänzten, er war überzeugt von dem, was er sagte, bemerkte nicht seinen stummen Widerwillen, während er dachte, dass er tatsächlich Angst vor seiner eigenen Geschichte hatte.
„Dein Held ist die Personifizierung von Willensstärke und Entschlossenheit in einer wankelmütigen Zeit“, sagte Gérard, der gerne seine sozialkritische und oftmals revolutionäre Meinung in das Gespräch einbrachte. „Der Gedanke die Welt zu verändern, so inständig an diese Veränderung zu glauben, dass sie stärker als die Realität wird, diese Vision begeistert, dein Held…“
„Ich finde nicht, dass er ein Held ist, das ist das Problem“, unterbrach er Gérard, „er war nie als Held gedacht, ich wollte keinen Helden in dieser Geschichte, keinen Helden, lediglich leidende Zeugen einer zerstörten Welt, jemand, der einen Teil dieses Wahnsinns in sich aufnimmt und glaubt, er wäre König. Ich habe nie gewollt, dass er wirklich König wird, Gérard, ich habe das nicht gewollt, es ist passiert, diese ganze Geschichte passiert einfach.“
Er trank einen Schluck Rotwein und betrachtete Gérard, der wiederum ihn erstaunt betrachtete. Erst jetzt fiel ihm auf, wie impulsiv er reagiert hatte.
„Es ist deine Sache“, sagte Gérard einlenkend, um dann aber doch mit einem gewissen Trotz hinzuzufügen: „Er ist der neue König, das hat er eindrucksvoll bewiesen, er ist der neue König in dieser Geschichte und er will diese Welt besser machen, das ist ein tolles Motiv.“
Er hatte es von je her für sinnlos gehalten mit anderen über die Eigenarten seiner Protagonisten zu diskutieren. Obwohl er wusste, dass jeder ein Buch anders las, dass es keine Intersubjektivität gab, weil jeder Leser die Leerstellen mit seiner eigenen Fantasie füllte, hatte er sich doch immer als letzte Instanz bei der Analyse seiner Figuren gesehen. Es mochte sein, dass der eine oder andere vielleicht Züge entdeckte, die tatsächlich logisch erklärbar waren, aber niemand außer ihm kannte die Rohfassung, niemand außer ihm wusste, wie die Figuren ursprünglich gedacht waren. Aus dieser Perspektive heraus war die Diskussion, die er gerade führte, sinnlos, der Widerspruch von Gérard eine Frechheit, aber er wollte ihn nicht mit dieser Tatsache in die Schranken weisen, er wollte ihn überzeugen.
„Diese Figur ist kein Held, sie hat etwas Böses an sich, auch wenn ich das nicht wirklich am Text festmachen kann, etwas, das noch verborgen ist. Sie rebelliert, aber sie weiß nicht einmal wogegen, sie hat keine Vergangenheit, keine Persönlichkeit und die werde ich ihr auch nicht geben. Er ist wankelmütig, kein Held, mehr ein Kind, das nicht weiß, was seine Aufgabe ist, es ist eine sinnlose Rebellion und ein sinnloser Kampf, weil er ihn nicht gewinnen kann.“
Gérard schwieg, dachte einen Moment nach und genau in dem Moment, als er dachte, dass er ihn überzeugt hatte, sagte Gérard etwas, das ihn überraschte.
„Ich weiß, dass es eigentlich vermessen ist, dir als Autor so was zu sagen, aber du musst die Metaebene – erneut ein Wort, das er hasste – sehen. Du musst sehen, was der neue König will. Er will Frieden bringen in eine vom Krieg zerrüttete Welt, er ist traumatisiert von dem ganzen Elend, das er erlebt hat, er denkt nicht an sich selbst, sondern an seine Untertanen, darum existiert er. Er ist aus der Mitte der Flüchtlinge getreten, er repräsentiert die Flüchtlinge, deshalb hat er kein Gesicht, deshalb kann man ihn nicht sehen, er ist ein Symbol. Ich will mit dir nicht über Revolutionen diskutieren, das haben wir oft getan, aber warum glaubst du, dass er der Böse ist. Wie grausam muss sein Vorgänger gewesen sein, der ihm dieses verwüstete Reich hinterlassen hat. Erst im neuen König sieht man das Potential dieser Welt, ihre geschändete Schönheit. Ich denke, wenn der Begriff Held in der Literatur überhaupt angebracht ist, dann trifft er auf den neuen König in deiner Geschichte zu.“
Er war viel zu überrascht von diesem plötzlichen Plädoyer, von der Entschlossenheit in den Augen Gérards, um sofort etwas zu entgegnen, um zu widersprechen. Nicht die Tatsache, dass dort sein Verleger saß und die Deutungshoheit über seine Geschichte beanspruchte, nicht einmal der Umstand, dass dort sein bester Freund für die Figur eintrat, die er als seinen Feind empfand, machte ihn sprachlos. Der unfassbare, geradezu unheimliche Gedanke, dass Gérard vielleicht recht hatte, dass der neue König der Gute, er selbst womöglich der Böse war, ließ ihn verstummen.
Konnte ein Schriftsteller seinen Figuren Unrecht tun? War die Verurteilung zu ewigem, weil mit Buchstaben fixiertem Leid und die Preisgabe dieses Leides an Tausende von Lesern, war deren Ergötzung legitim, einzig und allein darum, weil das Opfer fiktional, das Leiden nur gedacht war. „Eindeutig ja“, wäre zu jedem anderen Zeitpunkt seine lächelnde Antwort auf diese überaus wahnsinnige Frage gewesen, „selbstverständlich, weil eine erfundene Figur nicht fühlt, weil man ihr kein Unrecht antun kann, weil sie nicht existiert.“
Das war die eine Seite, aber folgte man der Ideologie einer beliebigen Religion – die er alllesamt zwar nie geteilt, stets eher belächelt hatte, der aber der Großteil aller Menschen anhing – dann war auch der Mensch von Gott geformt, erdacht und erfunden worden. Am Anfang hatte schließlich das Wort gestanden. Er dachte, dass ihn dies alles verwirrte, fühlte ein unbestimmtes Gefühl von Schuld. Er hatte sich Trost und Zuspruch, nicht Gegnerschaft von Gérard gewünscht, der ihm noch immer gegenüber saß und geduldig auf eine Antwort wartete.
Er schaffte es die Form zu wahren, antwortete einige Nichtigkeiten, die eher auf verletzten Stolz als auf das eigentliche Problem verwiesen, er versuchte authentisch zu klingen, als er über Kopfschmerzen klagte und seinen Freund aus dem Haus komplimentierte. Er dachte, dass er Unrecht tat, als er ihm die Hand gab, fühlte sich schlecht, als er einen letzten Blick in die vertrauten Augen warf, dachte, dass es an ihm selbst lag, dass er ihm die Wahrheit hätte sagen müssen, als er die Tür hinter ihm verschloss, dann fühlte er wieder jene unbestimmte Schuld, als er zurück in das Wohnzimmer ging und sich in den Ohrensessel fallen ließ, in dem er von jeher am besten nachdenken konnte. Er würde Gérard in den nächsten Tagen anrufen, würde ihm alles erzählen, aber nun, nun musste er alleine sein.
Nach einer Weile beschloss er erneut ein wenig Fernsehen zu schauen, da all die Darsteller ihm zumindest nicht widersprachen, ihn oberflächlich ein wenig abzulenken vermochten und auch damit er nicht die ganze Zeit auf das aufgeschlagene Notizbuch starren musste, aus dem er Gérard vorgelesen hatte. Er schaltete den Fernseher ein und wechselte eine Weile lang gelangweilt die Kanäle, bis er bei einer Nachrichtensendung hängen blieb, verschwommene untertitelte Handyvideos aus dem Iran betrachtete, ein Volk auf den Straßen zusammenlaufen sah, Menschen, die „Tod dem Diktator“ gegen den Himmel schrien und englischsprachige Transparente in die Kamera hielten. „Tod dem Diktator“, dachte er und blickte hinüber zu dem Notizbuch, dann zu dem zerbrochenen Stift, der noch immer auf dem Boden lag, ein stummer Zeuge jenes furchtbaren Momentes, in dem er die Kontrolle verloren hatte. So sehr er spürte, dass er die Herausforderung suchte, weiterschreiben wollte; die Erinnerung an seine entmündigte Hand und wie sie über das Papier flog, ängstigte ihn. Ihm war Kontrolle von jeher wichtig gewesen, er wusste gerne vorher, worauf er sich einließ und in dieser Geschichte gab es zu viele Variablen, die sich nicht einschätzen ließen. Auf der anderen Seite war da dieser Drang, mehr als der Reiz des Verbotenen, mehr als das Versprechen sich selbst gegenüber, dieses Buch zu vergessen. Er fühlte sich vielleicht zum ersten Mal in seiner schriftstellerischen Karriere herausgefordert, hatte in der Masse der Gedanken etwas entdeckt, das ihm zumindest ebenbürtig, vielleicht sogar überlegen war und sein verletzter Stolz war nicht nur stärker als die Neugier, sondern auch stärker als die Angst vor dem, was passieren konnte, wenn Stift und Papier sich erneut berührten. Er fühlte sich wie ein Verwundeter, der genau wusste, dass er nicht an der Oberfläche der juckenden, weil heilenden Wunde kratzen durfte, der wusste, dass die Verkrustungen aufreißen, eitern und ihn töten konnten, der aber dann doch ungeachtet der Vernunft seinem Bedürfnis folgt, folgen muss, kratzen an Kruste, das Öffnen der Wunde, die Erleichterung, wenn das hinterhältige Jucken zum ernsthaften Schmerz wurde.
„Du willst mir doch nicht erklären, dass du vor deiner eigenen Geschichte Angst hast“, hatte Gérard gesagt. Nur einmal kurz über die Wundränder streichen, eine kurze Erleichterung, nur für einen Moment von den Prinzipien abweichen, um sie dann umso strenger und gewissenhafter zu befolgen. Er schaltete den Fernseher wieder aus, öffnete die Schublade unter dem Tisch und zog einen neuen Bleistift heraus, den er zunächst einmal probeweise neben das Notizbuch legte, etwa so wie ein Junkie, der sich fest vorgenommen hat zukünftig auf Drogen zu verzichten und seine aufgezogene, lang benutzte Spritze nur noch einmal aus Nostalgie betrachten will. Dann spürte er wieder jenen unheimlichen Magnetismus, blätterte und fand jenen Punkt, an dem er mit einem hässlichen Querstrich den Stift vom Papier weggerissen hatte, atmete tief durch und genoss die Kontrolle über den stetig wachsenden Drang zu schreiben, dann gab er nach und die Bleistiftspitze raste über das Papier. Ihm kam ein Gedanke, der ihn belustigte, und unbewusst, weil er bereits schrieb, stahl sich ein Lächeln auf sein Gesicht.
„Der neue König war gar kein König“, schrieb er und betrachtete diesen Satz, der plump und unbeholfen für sich stand und so gar nicht zu den anderen Sätzen passte. „Der neue König war nichts als ein Wahnsinniger, der in einer wahnsinnigen Welt für einen kurzen Moment geglaubt hatte es läge in seiner Hand, er könnte Licht in die Finsternis tragen.“
Wieder musste er lachen, trank einen Schluck Wein und dachte, dass es so einfach war, dass er selbst der Schöpfer dieser Fiktion war, die nach seinem, nicht nach dem Willen eines selbsternannten Königs funktionierte.
„Er begriff seinen Irrtum, als er den wahren, den alten, den richtigen König sah, der viel besser auf den Thron passte, auf dem er nur irrtümlich gesessen hatte. Der Mann auf dem Thron war ein alter Mann, weiß waren seine Haare in den Jahren geworden, die Würde seines Amtes umstrahlte ihn und ließ den neuen König, der kein König mehr war, beschämt in den Staub sinken.“
Wieder setzte er den Stift ab, lachte, trank, dachte, dass er gerade dieses Buch versaute, zerstörte, dann, dass es ihm egal war, dass er gewann, dass dies das einzige war, was zählte. Irrwitzig war es eine fiktionale Gestalt zu demütigen, weil sie nicht so war, wie er sie ursprünglich gedacht hatte, aber es tat gut diesen neuen König im Staub zu sehen. Dann zog es seine Hand wieder zum Papier und erneut versank er in der Geschichte, sein Geist verließ das behagliche Kaminzimmer, wurde eins mit der zerklüfteten Welt seines neuen Protagonisten, er schrieb ohne zu denken, zog den Eimer aus der Finsternis hervor, ließ die Gedanken fließen.
„Namenlos kniete er auf dem geschändeten Boden und betrachtete voller Erstaunen, wie all die friedlichen Schläfer starben, allesamt gleichzeitig, so als hätte ein böser Gott beschlossen seinen giftigen Atem über die Straße zu blasen. Überall brachen hässliche Entstellungen durch die vorher so sanften Gesichter seiner Untertanen, Blut, Schmutz und die verstreuten Habseligkeiten verstreuter Leben. Die Sonne verfinsterte sich, dunkle Wolken erstickten den blauen Himmel, die Luft wurde dünner und von einer Sekunde auf die andere löste der Donner der Geschütze das Orchester ab, das er sich nur eingebildet hatte, davor das Geschrei der Verwundeten, der Sterbenden und derer, welche die Sterbenden beklagten. Grauen schwappte aus dem Wald über die Wegesränder, aus Blättern wurden Dornenranken, die Steine unter den Füßen spitz und scharfkantig, die Welt war wieder zum Feind geworden. Die Erinnerung an den langen Marsch verdrängte alle anderen Gedanken, der Rücken des Vordermannes, die feinen Risse im Asphalt, vorbei an verkohlten Häusern, deren verkohlte Bewohner noch immer an ihren Tischen saßen, so als würden sie nur warten, bis der böse Traum vorbei war und sie weiter ihre dünnen Suppen schlürfen konnten, warten für die Ewigkeit. Der Ohrensessel war kein Thron, nie ein Thron gewesen, die Diener nichts als Leichen, die stumm einander in die Einschusslöcher starrten. Es roch nach Feuer und verbranntem Fleisch. Alles in ihm drängte ihn zu flüchten, er musste zurück zum Flüchtlingsstrom, seinen Platz einnehmen, flüchten, flüchten vor dem Krieg und dem zornigen alten König, der zu ihm hinunterblickte. Dann dachte er auf einmal an die Frau, die Frau, die ihm das Kind gegeben hatte, und er konnte sie lächeln sehen, erinnerte sich, dass sie sich einmal gekannt hatten, dachte an seine Mutter und ihr milde lächelndes Gesicht, das ihm Mut machte, dachte, wie gut ihre Schürze gerochen hatte.
„Nein“, sagte er und er sagte es leise, versuchsweise, ein stiller Protest, das Urwort und der Anfang jeglicher Verweigerung.
„Nein“, sagte er lauter und der Zorn über den Schrecken dieser Welt, die so gar nicht zu den entdeckten, kostbaren Erinnerungen passte, hallte in dem Wort wider.
„Nein“, schrie er und erhob sich, erhob sich stellvertretend für alle, die schliefen, starrte auf die fremde Gestalt, die dort oben auf seinem Thron saß, die er irgendwie nur unscharf und schemenhaft erkennen konnte. Gewaltige Kräfte strömten durch seinen Körper, pulsierende königliche Kräfte, die nur mühsam durch die Haut zusammengehalten wurden, „nein“, schrie er und der Himmel wurde ein wenig heller.
Bewegungslos blickte die fremde Gestalt vom Ohrensessel hinunter, jene fremde Gestalt, die für alles verantwortlich war, die er nicht richtig fixieren konnte, die ihn gar nicht beachtete, sondern sich über etwas beugte, die Hand bewegte, schrieb. Mit zwei schnellen Schritten war er bei dem Thron, konzentrierte alle Macht, die in ihm pulsierte, in seiner rechten Hand, griff wie von Sinnen nach diesem Verräter, diesem Heuchler, der dort kostümiert auf seinem Thron saß, griff tief hinein in das feindliche Fleisch, riss, zerrte heraus, biss, tobte, fasste nach diesem unwirklichen Kopf, der kein Gesicht hatte, presste, drückte, schrie, lauschte auf das hilflose Knacken und griff tief hinein in das feindliche Gehirn, das ihm überrascht entgegenquoll, eine Erinnerung an die Frau, an Luisa, die Hände hinein in den Spalt, auseinanderreißen, vernichten, ungeschehen machen. Mit einem finalen brutalen Ruck riss er den alten König auseinander, schleuderte ihn fort in das Nirgendwo der Wälder, dann ließ er sich mit einer gewissen Genugtuung wieder auf dem Ohrensessel nieder, strich sich mit den Händen durch das Gesicht und freute sich, dass sie blutig waren. Wie von Geisterhand zogen sich die Wolken zurück, suchten sich einen entfernten, traurigen Ort, um sich zu ballen, tief atmete der neue König die frische Luft ein, die nach Nadelhölzern, Frieden und Neuerung roch.“
Diesmal war er auf den Widerstand vorbereitet, als er aufhören wollte zu schreiben. Wieder war es die Empörung, die ihm Kraft gab, und er konnte sich zwingen, den Stift soweit vom Papier wegzureißen, bis der Druck nachließ, dann schleuderte er ihn gegen die Wand, ungefähr dorthin, wo der erste Stift gelandet war. Sein Versuch den neuen König innerhalb eines Absatzes zum Wahnsinnigen zu degradieren, ihn auszutauschen, war misslungen, was ihn nicht einmal sonderlich überraschte. Es war ein Versuch gewesen und er hatte viel bei diesem Versuch gelernt. Obwohl der neue König seinen Ersatzkönig vernichtet, zerrissen und zerstört hatte, war da doch ein Moment der Schwäche gewesen, er hatte die Welt verändert und für einige Momente hatte seine enttäuschte Figur an diese Veränderung geglaubt. Er dachte sich, dass er diesen Charakter kennenlernen musste, um ihn zu zerstören, dass er seine Schwächen einfach noch nicht kannte. Obwohl ein großer Teil von ihm noch immer nicht von der Macht dieser Figur überzeugt war und sich selbst fortwährend für seine Bemühungen belächelte, glaubte er die Gesetze allmählich zu fühlen, nach denen diese Welt funktionierte, auch wenn er sie nicht verstand.
Das jedoch, was ihn am meisten verstörte, war Luisa und dass sie in der Geschichte auftauchte, dass der neue König ihr Lächeln kannte, das für ihn selbst vor so langer Zeit gestorben war, an das er sich selbst nicht erinnern konnte. Wie so oft, wenn er in dem Ohrensessel saß und an sie dachte, glitt sein Blick hinüber zu dem anderen, zu dem Rattansessel, in dem sie immer gesessen hatte, bevor das Unsägliche passiert war. Ihr Auftauchen in seiner Geschichte war ein Tiefschlag, ein Pfeil in seiner Achillesferse, er verstand nicht, was sie getan hatte, hatte sooft darüber nachgedacht und keine Antwort gefunden.
Das fünfte Kapitel
Als die Sonne bereits wieder sank und in einem frühabendlichen Winkel durch das angelehnte Fenster fiel, spürte er, wie seine Stimmung schlechter wurde, die Gedanken abschweiften und sich auf einsamen und traurigen Pfaden verloren. Er kannte diesen Zustand, der bereits gefährlich nah an Verzweiflung und Depression heranreichte, er hatte ihn gewissermaßen studiert, seitdem das Unsägliche geschehen war. Einsam fühlte er sich, als er in dem Ohrensessel saß, so wie er dort immer saß, wenn es Abend wurde und er die Nacht erwartete. Stephen King
– den er gelegentlich und nur heimlich las – hatte in seinem Roman „Misery“, in dem die psychotische Ex-Krankenschwester Annie einen tiefsinnigen Schriftsteller folterte, ein Bild gefunden, an das er immer dachte, wenn er fühlte, wie sich seine Gedanken verdüsterten. Der Kontext war ein anderer und die deutsche Übersetzung, die er aus Ermangelung einer Alternative – er hasste Übersetzungen – gelesen hatte, war denkbar schlecht gewesen, aber jenes Bild hatte ihn fasziniert, weil es eine Stimmung in ein Sinnbild verwandelt und somit plastisch gemacht hatte. Der tiefsinnige Schriftsteller hatte den Schmerz seiner zertrümmerten Beine als alten hölzernen Pfahl an einem verlassenen Strand, die schmerzstillenden Drogen der psychotischen Annie als Flut bezeichnet, die den Schmerz zu verdecken, aber nicht zu entfernen vermochte. Dieses Bild traf genau seinen Zustand, traf ihn exakter, als es ihn in „Misery“ getroffen hatte. Das Unsägliche war der Pfahl, die Flut war sein restliches Leben, die restlichen Stunden, in denen sein Körper atmete, meist in dem Ohrensessel, meist alleine. Immer dachte er an den Pfahl, wenn er an das Unsägliche dachte, dachte an die Flut und dass sie immer schwächer, irgendwann nichts als Ebbe sein würde. Folgerichtig sagte dieses Bild, dass etwas in seinem Leben fehlte, dass die Strömung versiegte, belanglos wurde. Das Schreiben an dem neuen Buch, der neue König, hatte die Flut beschleunigt, Schreiben war wie eine Therapie für ihn, doch das zuströmende Wasser hatte nur den Grund aufgewühlt, den Pfahl größer gemacht und dabei so vieles an die Oberfläche gespült, das er nicht vergessen konnte. Er dachte sich, dass er langsam verrückt wurde, dass er ein einsamer alternder Mann in einer einsamen und alternden Wohnung war, dass niemand von ihm wusste, dass er sterben konnte, ohne dass es jemand bemerkte, dann dachte er, dass er das Haus, dieses Leben, verlassen musste, wenn auch nur für einige Stunden. Es war nichts als eine romantisierte Lüge, dass die großen Elegien der deutschsprachigen Literatur in Zuständen größten Leidens und der Hoffnungslosigkeit entstanden waren, niemand schrieb Elegien, wenn es ihm schlecht ging, und so beschloss er das zu tun, was Generationen von Künstlern vor ihm getan hatten, wenn die Trauer und das Leiden sie überwältigt hatten. Er stand auf, rannte fast zur Tür und zur Garderobe, der Zufall wählte seinen Mantel, dann verließ er das Haus, um sich in der nahegelegenen Stadt zu betrinken.
Als er mit großen Schritten in Richtung der Straßenbahnhaltestelle ausschritt, ging es ihm bereits besser. Er konnte wieder freier atmen, dachte über die Literatur nach und dass das Atmen und das Gehen – was seine Idee war –, das Denken und das Gehen, – was bereits Thomas Bernhard geschrieben hatte – eins waren. Das vorbeiziehende Licht der Laternen, der Wind der Veränderung in den Haaren rissen ihn aus seiner Agonie, er fühlte sich wieder jung und all den anderen überlegen, die wie er in dieser Nacht auszogen, um ihren Kummer im Alkohol zu ertränken. Alleine das Wortspiel, dass er draußen, auf dem Weg zur Straßenbahn, nicht drinnen, auf dem Weg in den Wahnsinn war, vermochte ein Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern. Die hässliche Realität der Reihenhauslandschaft um ihn herum lenkte seine Gedanken ab, die Fantasie füllte die Schatten mit Mysterien. „Schon stand im Nebelkleid die Eiche, ein aufgetürmter Riese da, wo Finsternis aus dem Gesträuche, mit hundert schwarzen Augen sah.“, hatte Schiller geschrieben und genau das gemeint, was er sah, fühlte und in diesem Moment dachte. Der Versuch eben das einzufangen, das nur im Verborgenen, nur in den Augenwinkeln existierte. Die Spannung brachte sein Herz zum Schlagen, er dachte an andere Male, Jugendzeit, Feiern, abends durch die Stadt mit einem Bier in der Hand und einem bestimmten Ziel in der verschwommenen Ferne. Geschichten fielen ihm ein, die an den bröckelnden Putzsteinen hängen geblieben waren und er dachte, dass niemals ein Ort schön, sondern nur das, was man mit ihm verbindet, schön sein konnte. Von Kindesbeinen an kannte er die Häuser, die Straßennamen und markanten Eigenarten der Fassaden und ihrer Bewohner. Für jedes zugezogene Fenster gab es eine Erinnerung, über jedes hatte er etwas erfahren, gehört oder zumindest gedacht. Unzählige Namen, Relationen, Satellitenschüsseln und bemalte Garagentore.
Er erreichte die Straßenbahnhaltestelle und stellte befriedigt fest, dass er nur wenige Minuten dort warten musste. Gerade dann, wenn der Geist zu Höhenflügen ansetzte, wenn Stift und Papier zu fern waren, um die neuen (alten) Gedanken zu bannen, hasste er nichts mehr als Stillstand und das Warten. Er setzte sich auf die alte Holzbank direkt unter der Anzeigetafel
– derart ungeschickt aufgestellt, dass man sitzend eben diese Anzeige nicht betrachten konnte –
und wartete auf die Bahn, genau an der Stelle, an der er bereits als Kind auf der Holzbank gesessen und auf die Bahn gewartet hatte. Inzwischen war es eine andere Bank und es waren auch andere Bahnen, aber irgendwie wohnte dem Moment etwas Feierliches, etwas Nostalgisches inne. Er betastete seinen Mantel und fand – womit er nicht gerechnet hatte – zu seiner Freude eine zerknautschte Packung Tabak und – in einer anderen Tasche – ein zerknülltes Blättchen. Obwohl er lange nicht mehr selber gedreht hatte, fanden die Hände wie von selbst die routinierten Bewegungen und als er in seiner Hosentasche das Feuerzeug ertastete, dachte er, dass er seit langer Zeit in seinem Leben noch einmal Glück und somit auch einen glücklichen Moment gehabt hatte. Tief sog er den alten aber immer noch würzigen Tabak in seine überraschten Lungen und überlegte, in welche Bar er gehen würde. Da er die gewohnte Trostlosigkeit des Kaminzimmers nicht mit einer anderen gewohnten Trostlosigkeit vertauschen wollte, suchte er immer, wenn er wie an diesem Abend loszog, eine neue Bar aus, wobei er einen großen Bogen um die sogenannten Künstlerbars machte, die allein schon durch ihre zumeist aufgesetzten Namen jegliche Kunst negierten. „In den Logen der Selbstdarsteller sind doch alle nichts als Schauspieler“, dachte er sich und dann an teure, aber zerschlissene Anzüge, elitäres Denken in den Köpfen von Schimpansen. Er hatte sich nie zu diesen Darstellern gezählt, die mit den Trends mitsegelten und gemeinsam mit ihnen wieder in der Bedeutungslosigkeit versanken. Er mochte den Schatten und meistens blieb er an Orten, wo andere im Scheinwerferlicht, er selbst in einer dunklen Ecke voneinander nichts wussten, er beobachtete gerne Menschen. Als Schriftsteller entwickelte man das – wo bei dieses „man“ nur die Riege der wirklichen Schriftsteller fasste – , was er einmal in einer Erzählung als den “schonungslosen Blick“ bezeichnet hatte, man sah genauer hin und entdeckte die feinen Haarrisse in den blank polierten Oberflächen, Haarrisse, die auf tiefer liegende Wunden und Geschichten verwiesen, die geplatzten Äderchen in den schwarz umrandeten Augen, betretene Blicke in spiegelnde Flächen oder das Funkeln einer verlorenen Münze im Schatten. Er füllte die Leerstellen der wartenden und angekommenen Gäste mit eigenen Gedanken und Geschichten, oft hatte er eine Inspiration für eine literarische Figur oder auch nur eine Beschreibung mit nach Hause genommen. Wieder zog er an der unregelmäßig abbrennenden Zigarette, dachte, dass diese Zigarette besser schmeckte als alle Zigaretten im Ohrensessel, fragte sich, ob Rauchen etwa Freiheit bedeuten konnte, dann dachte er an den toten Marlborocowboy, den er als Kind auf den großen Plakaten bewundert hatte, als die Bahn sich mit quietschenden Bremsen um die Ecke schlängelte, die Türen aufsprangen und er einstieg.
Er hatte Straßenbahnen immer gemocht, schon als Kind war er von ihnen fasziniert gewesen und hatte jenes Wunder bestaunt, einfach durch die Tür in einen Raum zu treten und dann diesen Raum durch dieselbe Tür an einem vollkommen anderen Ort wieder zu verlassen. Es war jene Zeit gewesen, in welcher er in kindlicher Entdeckerlaune die Fahrpläne – die viel zu hoch hingen – beobachtet hatte, auf welche die Leute immer wieder blickten und in denen irgendwie das Geheimnis verborgen sein musste, das die Büsche wie bunte Wolken an den Fenstern vorbeiziehen ließ. Diese kindliche Begeisterung war mit der notwendigen und doch zerstörerischen Erziehung – denn Erziehung ist immer auch Zerstörung – geschwunden, doch auch noch heute mochte er die Straßenbahn als einen Ort, der, wenn auch nur für eine kurze Zeit, die verschiedensten Menschen auf engem Raum zusammenbrachte, so als wären sie einander nicht fremd und hätten ein gemeinsames Ziel. Er betrachtete prüfend einige Jugendliche, die mit aufgesetzter Unschuld und roten Augen übereinander lachten, streifte die Augen einer attraktiven, aber für ihn zu jungen Frau, senkte den Blick vor einem breitschultrigen Feierabendtrinker, der ihm bedrohlich erschien, suchte und fand einen Sitzplatz, der mit dem Rücken zur Wand lag und wurde Teil der straßenbahnfahrenden Menschen.
Während er aus dem Fenster sah und versuchte von den beleuchteten Fassaden der zahlreichen Bars auf ihr Innenleben zu schließen, lauschte er auf die Gespräche um ihn herum, die teils ängstlich und leise geflüstert, teils enthemmt und betrunken geschrieen wurden. Die Frau, die er als zu jung eingeschätzt hatte, erklärte ihrer Tochter am Telefon die Fernsehbedienung, zwei Studenten belehrten sich gegenseitig über ihre Studienfächer, ein bleicher junger Mann sagte zu seinem Telefon, dass man sich bald bestimmt noch einmal sehen würde, ein Obdachloser mit umwickelten Füßen beklagte den amerikanischen Imperialismus, während eine rüstige Greisin ihre Lippen nachzog. Es war ein beruhigendes Wirrwarr, weil es zeigte, dass da draußen noch andere waren und weil der Wahnsinn der Masse den eigenen Wahnsinn veredelte. Mochte er auch Tag für Tag alleine in seinem Kaminzimmer, alleine in seinem Ohrensessel sitzen, es war besser als die Nichtigkeiten all dieser Fremden, dieser „normalen“ Menschen. Er lauschte auf den rauchigen Husten eines anderen und dachte, dass sein eigener Husten gar nicht so schlimm war, betrachtete den jungen und so bleichen Mann und dachte, dass seine Einsamkeit keine Not, sondern elitäres Denken war, lauschte den vielen über- und überbetonten Fremdwörtern der Studenten und dachte gerade, dass die Frau gar nicht so jung und auch gar nicht so attraktiv war, als in dem Leuchtreklamegewitter ein Name seine Aufmerksamkeit auf sich zog. „Kings Cross“, stand dort in alten Lettern, die von der Form her irgendwie englisch anmuteten, vielleicht eine Art Pub. „Kings Cross“, Londoner Bahnhof oder Rotlichtviertel in Sydney, so oder so fantasielos aber doch hatte der Name eine seltsame Anziehungskraft und auch der Bezug war zu offensichtlich um nicht von einem Hauch von Schicksal umweht zu sein. Kurzentschlossen erhob er sich und trat an die Tür, ärgerte sich dann, weil die Straßenbahn an einer Ampel stehen blieb und er sonst immer bis zum letzten Moment mit dem Aufstehen wartete, betrachtete den rotschimmernden Schriftzug, der wiederum die Rotlichtdeutung stützte, stieg schließlich aus und ging darauf zu.
In nahezu allen seinen Büchern gab es eine Szene, in der ein Protagonist über eine Straße ging, von einem Ort kam, um zu einem anderen zu gehen. Egal, was in der Geschichte passierte, egal, was die Kulisse war, immer gab es diesen Gang; den Satz „er ging die Straße entlang“ hatte er in jedem seiner Bücher verborgen und selbst den scharfsinnigsten seiner Kritiker war dies nicht aufgefallen. Der Weg des Protagonisten über die Straße war immer ein Punkt, an dem man als Leser zum Ausgangspunkt zurückschauen und die richtigen Schlüsse ziehen, aber auch nach vorne, dem Ziel entgegenblicken, es erahnen konnte. Und ebenso wie all seine Protagonisten diesen Weg beschritten hatten, ging nun auch er die Straße entlang, dachte noch einmal kurz an das Unsägliche, die Küche, den Fußboden, die sprichwörtliche Umwertung aller Werte, während er „Kings Cross“ erreichte.
Die Bar war kein Pub, aber recht geschmackvoll eingerichtet, sehr viel altes rötliches Holz, sorgsam aufbereitet, in dem sich die matten Deckenfluter wie Irrlichter spiegelten. Es herrschte eine dezente Geräuschkulisse, wenige Menschen wechselten einander mit ihrer Stimme ab, dahinter belanglose Musik aus verborgenen Boxen, zahlreiche Flaschen auf einem Brett hinter der Theke. Er fand einen freien Tisch in einer halbverborgenen Ecke und setzte sich in den Schatten, Blickrichtung zur Bar, weiche Polster, die sein Gewicht angenehm abfederten, kein Ohrensessel, aber ein behagliches Polster. Er bestellte eine Flasche Whisky und einen Kübel Eis, bezahlte direkt und zog sich am Automaten neben der Toilettentür eine Packung Zigaretten, dann lehnte er sich zurück und versenkte sich in die Geräuschkulisse.
Der Whisky war weder besonders gut, noch besonders schlecht und er dachte, dass es seltsam war, wie unbedeutend manche Dinge wurden, wenn sie so einfach zu bekommen waren, dachte zurück an seine Jugend, das abgezählte Taschengeld lose in den Hosentaschen, später die Studentenzeit mit ewig leerem Portemonnaie, jetzt, obwohl er nicht reich war, war eine Flasche Whisky nichts mehr, das ihm dekadent oder wie Geldverschwendung erschien. Er warf drei Eiswürfel in das Glas und übergoss sie mit der bernsteinfarbenen, laut Etikett 16 Jahre alten Flüssigkeit, die angenehm wärmend in der Kehle brannte und betrachtete die anderen Gäste, die sich wie er für diese Bar entschieden hatten. Die meisten von ihnen waren in kleinen Gruppen zusammengefasst, saßen gemeinsam an den runden Tischen und trugen jeder für sich zu dem allgegenwärtigen sonoren Stimmengewirr bei, das zunächst eine wahnsinnige Ansammlung, ein Wust von zusammenhanglosen Wörtern war, dann, als er sich auf einzelne Stimmen konzentrierte, eine bunte Sammlung von fremden Ideen und Geschichten. Hier lag eine der Ironien des Lebens, dachte er, denn auch er war in seiner Jugend Teil dieser Gruppen und Interessengemeinschaften, selten auch Freundschaften gewesen, während er nun, älter geworden, alleine saß und die neuen und fremden Gruppen um ihr Gruppendasein beneidete, gleichzeitig verachtete. Er suchte nach Außergewöhnlichem, den kleinen Details, die so oft übersehen wurden und den Stoff für Geschichten bildeten, doch zunächst fand er nichts, das seine Aufmerksamkeit fesselte. Seitdem das Unsägliche geschehen war, hatte er öfters in solchen Bars gesessen, kannte die durchschnittlichen Barbesucher, die Trinker und ihre Bewunderer, die Akteure und die Statisten, diejenigen, die tranken, weil sie es mochten und all die anderen, die nur dazugehören wollten. Allesamt fügten sie sich in dieses Schema und er fühlte bereits einen Hauch von Enttäuschung, der sich in den aufkommenden Rausch mischte, als sich die Tür zur Straße hin öffnete und ein neuer Gast den Raum betrat. Suchend blickte sich der Fremde um, ein junger Mann, der sich nicht so einfach einschätzen ließ, fehl am Platze wirkte, ohne dass sich diese Falschheit bestimmen ließ. Suchend blickte sich der Fremde um und er dachte, als er ebenfalls umherschaute, dass da niemand war, der zu dem Ankömmling gepasst hätte, niemand, mit dem er eine der beschriebenen Konstellationen hätte bilden können. Es gab nicht viel Auffälliges an dem Mann zu beschreiben, das Alter ließ sich nur schwer schätzen, auf jeden Fall jünger als er selbst, wie die meisten Barbesucher, unauffällig braune, gescheitelte Haare, er war weder besonders groß noch klein, lediglich die Augen hoben ihn aus der Masse heraus, etwas lag in ihnen verborgen, das er aber nicht entdecken konnte und irgendwie kam ihm dieses Allerweltsgesicht bekannt vor, so als würden sie sich aus der Kindheit oder frühen Jugend kennen. Im Geist verglich er ihn mit den Gesichtern von alten Klassenkameraden, zog Namen und Erinnerungen aus dem Gedächtnis hervor, doch er fand keine Übereinstimmung. Und doch war da eine Erinnerung, irgendetwas Dunkles, Flüchtiges. Es war, wie wenn man ein Wort suchte, es einem aber einfach nicht einfallen wollte, gleichzeitig da und nicht da war, ein Punkt in der Ferne, der sich nicht fixieren ließ. Natürlich erinnerte er sich nur an einen Bruchteil der Menschen, die ihm in seinem Leben begegnet waren. Er hatte zwar ein gutes Gedächtnis für Gesichter, aber die Tausenden und Abertausenden von Augen, die ihm in seinem Leben entgegengeblickt hatten, die unzähligen Namen, die ihm genannt worden waren, überstiegen die Kapazität des Bewusstseins. Nahezu alles wurde irgendwo in einen hinteren Teil des Gehirns
– was er für eine gute Metapher für das Unbewusste hielt – verdrängt, erst wenn Namen und Gesicht an Bedeutung gewannen, rückten sie weiter in der Erinnerung vor und konnten überleben. Erst als der Fremde weiter vortrat, immer noch suchend von Tisch zu Tisch blickte, fiel ihm die Behinderung auf. Es war nicht so, als würde sich der Mann auffällig bewegen, das Gegenteil war der Fall. Jeder Schritt wirkte wie einstudiert, lediglich winzige Besonderheiten der Schrittabfolge, ein fast unsichtbares Nachziehen des rechten Fußes sprengten dieses Muster. Er dachte, dass der Mann sich auf seine Schritte konzentrierte und jetzt, wo er ihn durchschaut hatte, fiel ihm diese Konzentration auch im Gesicht auf, die Augen zusammengekniffen, verborgene Schmerzen in einem emotionslosen Gesicht. Schwerfällig ließ er sich an einem der freien Tische nieder und benutzte nach einem Seitenblick die Hände, um die Beine in eine bequeme Position zu verlagern, vielleicht hatte er eine Erkrankung der Knochen, vielleicht eine dieser Lähmungen, bei welcher der eigene Körper mehr und mehr zu kaltem, totem Fleisch wurde. Er empfand Mitleid mit dem Fremden, den irgendein schlimmes Unglück des Lebens zum Krüppel gemacht hatte und obwohl er als Intellektueller durchaus auch an Verachtung dachte, wenn er Mitleid meinte, war da diese Vertrautheit, die er sich nicht erklären konnte. Irgendwo hatte er ihn schon einmal gesehen und die Erinnerung war einmal wichtig gewesen.
Der Fremde vertiefte sich derweil in die Getränkekarte, bestellte dann ein kleines Bier, immer noch sah er sich suchend um, blickte auch öfters zu ihm hinüber, doch er konnte nicht sagen, ob es Absicht oder Zufall war. Mit einem Mal war ihm die Situation unangenehm, er ärgerte sich über sich selbst und die Wandlung, die sich mit dem Alter an den Menschen vollzog. Damals, als er noch jung gewesen war, hatte er immer wieder neue Menschen kennengelernt. Das Leben war ein einziges Fließband gewesen, das ihm die unterschiedlichsten Gestalten entgegengetragen hatte, Geborgenheit und Freundschaft, wenn auch zumeist nur für einen Abend oder einen bestimmten Lebensabschnitt. Damals war es leichter gewesen ins Gespräch zu kommen, einfach weil er noch nicht so viel gewusst hatte, weil die Menge der Themen beschränkt gewesen war. Jetzt, als er darüber nachdachte, ob er den Fremden zu einem Glas Whisky einladen sollte, erschien ihm jede Form der Annäherung befremdlich, ja fast anzüglich. Was würde der andere von ihm denken, wenn er sich einfach zu ihm setzte, würde er ihn für betrunken, wahnsinnig oder im schlimmsten Fall gar für schwul halten, wenn er ihm einen Whisky ausgab, vielleicht würde er ihn auch auslachen und einen alten Mann nennen. All diese Fragen, Hemmungen hatte es früher nicht gegeben, ihm war es egal gewesen, was die anderen von ihm gedacht hatten, er selbst hatte nicht nachgedacht, einfach gehandelt. Geistesabwesend ließ er die Eiswürfel in seinem Glas kreisen, trank und dachte, wie wahnsinnig ein solcher Ort war. Jeder Mensch in dieser Bar hatte eine eigene Geschichte, eigene Erinnerungen, jeder hier fühlte, liebte, hasste und zweifelte. Alle beobachteten einander aus der Ferne und bildeten sich ein falsches Bild von den anderen, machten sie zur Kulisse, wie die wuchtige Theke oder die Bilder an den verrauchten Wänden. Jeder schätzte die anderen fortwährend ein, glitt mit Blicken über ihre Gesichter wie über Buchseiten und jede Einschätzung war nichts als Fiktion, nichts als das willkürliche Füllen von Leerstellen, keinen Deut realer als die Gedanken einer Romanfigur. Und doch war all dies wichtig, der Mensch war ein gesellschaftliches, zumindest ein zum Zusammenleben verdammtes Wesen, egal wie man die griechischen Worte übersetzte, Aristoteles hatte recht gehabt. Er selbst hatte immer unterschätzt, wie wichtig es war über soziale Kontakte zu verfügen – eine Phrase, die er hasste –, dass das wirkliche Wissen um andere und das Wissen anderer um einen selbst den Bezugsrahmen der Existenz bildeten und dabei mehr als ein bloßer Chiasmus waren. Wieder spürte er den Blick des anderen und sah bewusst in eine andere Richtung, ein sinnloser einstudierter Reflex, der all seinen Gedanken widersprach, nicht entdeckt werden wollte er, nur aus den Augenwinkeln beobachten. Er versuchte den fremden Besucher einzuschätzen, versuchte es die ganze Zeit, doch man sah dem Gesicht seine Bildung nicht an, er konnte nicht sagen, was wohl sein Beruf war, er konnte mit diesem konzentrierten, irgendwie leidenden Blick ebenso gut an einem Fließband stehen wie in einer Schlüsselposition der gesellschaftlichen Entscheidungsinstanzen. Er hätte ebenso gut mit leuchtenden Augen die Namen von Fußballspielern aufzählen wie den Erlkönig rezitieren können, er erschien ungeprägt und doch verwiesen die Augen auf das Sprichwort, dass stille Wasser tief gründen. Er weckte sein Interesse und da er langsam und glücklich betrunken wurde und da er, auch das war eine Redensart, nichts zu verlieren hatte, trank er den letzten wässrigen Schluck und ging dann mit Flasche, Glas und Eiskübel hinüber zu dem fremden Mann.
Schon als er aufstand, bereute er seinen Entschluss, jede Entscheidung für eine Möglichkeit war die Negation aller Alternativen, doch der Fremde hatte ihn bereits bemerkt und die Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet. Es war zu spät, um umzukehren, lediglich der Gang ließ sich noch verzögern, um in dem fremden Gesicht nach Abweisung oder Einladung zu suchen, dann erreichte er ihn.
„Ist hier noch frei?“, eine typische Kneipenfloskel, der Satz, mit dem man sich in ein fremdes Leben drängte.
„Setzen Sie sich“, eindeutig mehr Einladung als Abweisung, und er setzte sich.
„Sie wundern sich bestimmt, warum ich mich einfach so zu Ihnen an den Tisch setze“, sagte er, „aber ich habe gesehen, dass sie wie ich alleine hier sind und warum sollten wir uns nicht einfach unterhalten?“
Er war recht zufrieden mit diesen hölzernen Worten, war es nicht mehr gewohnt mit Fremden zu sprechen, und obwohl er nur selten genau das, was er dachte, in gesprochene Wörter fassen konnte, glaubte er alles soweit richtig gemacht zu haben. Bewusst hatte er seine Anrede auch als Frage formuliert, weil die nächste Reaktion des Fremden darüber entscheiden würde, ob er hier sitzen blieb oder zurück an seinen Tisch ging.
Prüfend musterte ihn der andere mit seinen geheimnisvollen Augen und ohne auch nur im Geringsten auf die Frage einzugehen, sagte er: „Ich kenne Sie.“
Das war eine Wendung des Gesprächs, die er nicht erwartet hatte. Obwohl ein guter Teil in ihm überzeugt war dieses Gesicht zu kennen, hatte er sich doch eingeredet, dass es Einbildung war. Auch jetzt glaubte er noch nicht, dass sie sich wirklich kannten. Obwohl in seinen Büchern niemals ein Foto von ihm abgedruckt war, denn er hasste grinsende Autorengesichter
in Hochglanzeinbänden, war doch hin und wieder, zumindest in den regionalen Medien, ein Bericht über ihn erschienen. Er hatte einige Schreibwettbewerbe gewonnen und da es in der Vorstadt nur wenige kulturschaffende Menschen gab, war er interviewt und auch einige Male fotografiert worden. So hatten wohl recht viele Leute sein Bild gesehen, die Leerstellen mit Subjektivität gefüllt, obwohl er wusste, dass die wenigsten ein Buch von ihm gelesen hatten.
„Ich habe ein Buch von Ihnen gelesen“, sagte der Fremde, während er dies dachte, und blickte nach links oben, dorthin, wo der kreative Teil des Gehirns vermutet wird.
„Milch“, sagte der Fremde, „das Buch hieß Milch, ein verstörender Titel, es war dieses Buch mit dem eingewachsenen Zehennagel und der rostigen Rasierklinge.“
Er nickte, der andere hatte tatsächlich ein Buch von ihm gelesen, auch wenn Zehennagel und Rasierklinge nur zwei unbedeutende Details waren. Er hatte festgestellt, dass sich die Leser seiner Bücher immer bestimmte Details merkten, einzelne Bilder, die eine Brücke zu der Handlung und der Geschichte bildeten. Jeder merkte sich andere Dinge und auf Zehennagel und Rasierklinge war er bislang noch nicht angesprochen worden. Überhaupt war das Buch „Milch“, sein Erstlingswerk, nur in einer verschwindend geringen Auflage erschienen, die meisten Exemplare standen in den Bücherregalen von Menschen, die er damals gekannt hatte, die wenigsten hatten dieses Buch so verstanden, wie es gedacht gewesen war.
„Auch Sie kommen mir bekannt vor“, sagte er, und dann:
„Schreiben Sie auch? Vielleicht haben wir uns in diesem Zusammenhang bereits einmal gesehen. Ihr Gesicht hat mich direkt an etwas erinnert, aber ich komme einfach nicht darauf.“
„Sie sind einmal an mir vorbeigegangen“, sagte der Fremde und er sagte es mit einer besonderen Betonung, fast pathetisch und dabei irgendwie abschließend, so als wäre dies eine bedeutungsvolle Antwort, die keiner weiteren Erklärung bedurfte.
Dann fiel ihm der Whisky ein.
„Trinken Sie mit mir?“, fragte er und winkte dem Kellner, dass dieser ein zweites Glas bringen sollte, als der Fremde nickte.
„Sie haben ’Milch’ gelesen, haben Sie gesagt. Wenige Menschen haben dieses Buch gelesen und es würde mich interessieren, wie es Ihnen gefallen hat“, sagte er, nachdem sie angestoßen hatten, um den Faden wieder aufzunehmen.
„Nein, warten Sie, sagen Sie mir nicht, ob sie es gut oder schlecht fanden, sagen Sie mir, was Sie dabei gedacht haben?“
Der Fremde legte den Kopf schief, dachte und sann, versetzte sich wohl in die Situation, als er es gelesen hatte. Er selbst war froh, dass er nun hier saß und in ein Gespräch gefunden hatte, es tat gut, nicht mehr alleine zu sein. Er zündete sich eine Zigarette an, blies den Rauch gegen die Decke und wartete auf eine Antwort.
„Es war alles nur Ablenkung“, sagte der Fremde, „ich erinnere mich. All die Gespräche, die Hauptstränge der Handlung, nichts als Ablenkung, das hat mich fasziniert. Man musste den einen Punkt in der Geschichte finden, die Worte, die er am Grab sagt, und von dort aus die Geschichte völlig neu zusammensetzen, nur so gab es einen Sinn. Ich habe es mehrmals gelesen.“
Erstaunt blickte er sein Gegenüber an. Er hatte eine grobe Zusammenfassung, einzelne wiedererzählte Fragmente seiner Geschichte erwartet, aber diese tiefsinnige, so exakte Analyse traf ihn unvorbereitet.
„Es stimmt“, sagte er, „so war es gedacht. Es gab eine Geschichte hinter der Geschichte. Das mochte ich an diesem Buch.“
Der Alkohol ließ ihn grinsen, denn es war verrückt, dass man in eine Bar gehen musste, um
eine fundierte Kritik der eigenen Schriften zu bekommen, sofort stellte sich ein warmes Gefühl für den anderen ein, denn jemand, der den eigenen Gedanken folgen konnte, war irgendwie verwandt.
„Es geht die ganze Zeit um Schuld“, sagte der Fremde und wieder hatte seine Stimme diesen bedeutungsvollen Klang, „so habe ich es verstanden, all sein Handeln, seine Gedanken sind nichts als das ständige Umkreisen seiner Schuld, die er nicht verarbeiten kann, deshalb muss er sterben und er muss es in eben dem Moment, als er das erkennt, was der Leser doch bereits die ganze Zeit wusste…“
„…wissen konnte“, unterbrach er den anderen.
„Die Wenigsten, glauben Sie mir, die Allerwenigsten haben dies gesehen. Die Geschichte verlief in eine ganz andere Richtung. Es gab eine einzige kurze Rezension, in der geschrieben stand, dass der ‚rote Faden’ in der Geschichte fehlen würde.“
„Ich hasse diese Phrase“, sagte der Mann und er fühlte sich mit ihm verbunden, weil auch er diese Phrase hasste. „In der Literatur gibt es keine roten Fäden“, sagte der Mann, „ein Buch darf keine Bedienungsanleitung sein, sonst ist es keine Literatur.“
„Wussten Sie, dass der rote Faden eine Idee Goethes war?“, fragte er und sah in dem Aufblitzen der fremden Augen bereits die Antwort.
„Letztendlich ist es der Ariadnefaden“, sagte der andere und wieder hatten sie den gleichen Gedanken. „Ein Buch muss wie ein Labyrinth sein, ein Kunstwerk, dann ist der Faden die Assoziationskette des Autors, der mit seinem Protagonisten bereits einen Weg durch die wirren Gänge und Höhlen genommen hat. Die Kunst aber ist es, einen eigenen Weg zu finden, aus dem heraus man sie umkreisen und beobachten kann, es geht nicht darum den Minotaurus zu erschlagen, sondern einen eigenen Weg aus dem Labyrinth herauszufinden.“
Er schwieg und dachte über diesen druckreifen Satz nach, der so genau das traf, was er oftmals an-, aber nie in dieser Konsequenz zu Ende gedacht hatte. Er staunte nicht nur über das Wissen des Fremden – denn welcher andere der Barbesucher kannte wohl schon Daidalus –, es war vielmehr der Scharfsinn und die Folgerichtigkeit der Gedanken. Auf der anderen Seite packte ihn der Ehrgeiz, denn es war eine Sache über sein Buch zu reden, eine andere, sich von einem Fremden über die Literatur belehren zu lassen.
„Dann ist das Schreiben ein Geschenk der Götter?“, fragte er, um dem Gespräch eine humorvolle Wendung zu geben, aber auch um zu zeigen, dass er die Anspielung verstanden hatte.
„Es ist ihre Strafe“, sagte der andere und erst jetzt lachte er, wobei nur das Gesicht, nicht die Augen, in Bewegung gerieten.
Zögernd lachte er mit, obwohl er den anderen hier nicht verstand.
Sie redeten eine Weile über Literatur, Jacques Derrida und den Dekonstruktivismus, elaborierte Themen in behaglicher Atmosphäre, immer wieder unterbrochen von einvernehmlichen Denkpausen, wobei er mehr und mehr den anderen sprechen ließ.
Noch immer suchte er in der Erinnerung nach der Situation, in der er ihn bereits einmal gesehen hatte. Er empfand Sympathie für den Unbekannten mit dem verborgenen Gehfehler, doch gleichzeitig fühlte er sich immer wieder zurückgestoßen. Der Unbekannte schien genau abzuwägen, was er sagte. Jedes Wort war mit eben jener Konzentration gewählt, die er auch auf sein Gehen gerichtet hatte. Er verbarg etwas hinter den Worten, ebenso wie er seine Behinderung zu verbergen versucht hatte. Jede Frage, die tiefer ging und auf seine Persönlichkeit abzielte, umschiffte er wie zufällig, warf neue Themen ein, und obwohl er die kühnsten Gedanken mit ihm teilte, glänzten seine Augen nicht, ruhten in ihrer Kälte, die weder Whisky noch das gelegentliche gemeinsame Lachen erwärmen konnten.
Erst als der Fremde irgendwann aufstand, ihm Abschied nehmend zunickte und sich abwendete, fiel ihm auf, dass er ihm nicht seinen Namen gesagt hatte. Mit verschleiertem Blick sah er ihm hinterher, wieder fiel ihm der verborgene Gehfehler auf, dann dachte er, dass er bereits sehr betrunken war. Nur noch ein kleiner Rest Whisky bedeckte den Boden der Flasche und obwohl sie den Inhalt doch gemeinsam getrunken hatten, spürte er, wie der Alkohol ihm in den Kopf stieg.
So gerne er sich auch unterhalten hatte, so froh war er nun, dass er bereits bezahlt hatte, denn auf einmal wollte er mit niemandem mehr sprechen, nicht mit dem Kellner, nicht mit der irgendwie zerstörten rothaarigen Frau, die nun die ganze Zeit zu ihm hinüberblickte, er wollte zurück nach Hause. Das beständige Gemurmel um ihn herum, in dem er zunächst mancher Stimme gelauscht, das er später, im Gespräch, vergessen hatte, schien ihm nun mit einem Mal verstörend laut, Stimmen, die von überall her kamen. Er stützte sich auf dem Tisch ab und stand auf. Merkte, wie die Beine zunächst überrascht nachgeben wollten, lachte viel zu laut über die Ironie, dass nun er die volle Konzentration auf seinen Gang richten musste, nickte dem Kellner überflüssigerweise zum Abschied zu, dann stand er draußen auf der Straße und war mit einem Mal wieder alleine. Einige Momente stand er reglos im Licht einer flackernden Laterne und versuchte den plötzlichen Wechsel der Umgebung zu begreifen, dann die Orientierung wiederzufinden. Er war von der dunklen Straßenbahnhaltestelle zielstrebig auf die Leuchtreklame zumarschiert, an der er vorher vorbeigefahren war, wie ein Wegweiser hatte der Schriftzug „Kings Cross“ ihn geleitet, nun wusste er nicht mehr, aus welcher Richtung er gekommen war, wusste nicht, wie spät es war, nicht einmal, ob noch Straßenbahnen fuhren, die ihn nach Hause hätten bringen können. Dann merkte er, wie ihm erst langsam, dann immer schneller schlecht wurde, Wellen von Übelkeit strömten durch seinen Körper, die Leuchtreklame und die Laterne blendeten ihn gemeinsam und sein Mund füllte sich mit Speichel, den er immer wieder hastig hinunterschluckte oder aber auf das Pflaster spuckte.
Der Kopf schmerzte, dröhnte, er musste aus dem Licht heraus, irgendwohin, wo es dunkel war, ging vorwärts, hielt wieder an, torkelte, zitterte, dann ergoss er würgend und klatschend seinen Mageninhalt gegen eine Häuserwand und dies brachte ihm für einige Momente das Gefühl von Klarheit. Es hatte bereits gedämmert, als er in die Bar gegangen war, wo er bestimmt vier, vielleicht fünf Stunden geblieben war. Nun war es tiefste Nacht, es würde keine Straßenbahn mehr fahren, es war ein einfacher Wochentag, er würde zu Fuß gehen oder ein Taxi anhalten müssen. Er ging einige Schritte vorwärts und wieder verkrampfte sich sein Magen, beugte ihn in sich zusammen und zitternd spuckte er bittere Magensäure und den letzten Rest Whisky, der noch nicht durch seine Blutbahn rauschte. Der Weg nach Hause war weit, zu Fuß bestimmt eine Dreiviertelstunde, es war dunkel und es ging ihm schlecht, aber er sah sich außerstande ein Taxi zu rufen, hätte sich geschämt, zurück in die Bar zu gehen und den Kellner darum zu bitten; sein torkelndes Auge fand die Straßenbahnschienen, an denen er einfach entlanggehen musste. Der Weg würde ihn ernüchtern und wenn es ihm besser ging, konnte er noch immer ein vorbeifahrendes Taxi anhalten. Zügig schritt er aus und dachte an den namenlosen Fremden und die Ansichten, die dieser vertreten hatte.
Er war nicht ehrlich zu dir, sagte eine Stimme tief in ihm drin, er hat das gesagt, was du hören wolltest und das bedeutet, dass er vieles über dich weiß, sich auf dieses Treffen vorbereitet hat, dass es kein Zufall gewesen und er dachte, dass er selbst dem Ariadnefaden eines anderen gefolgt war. „Sie sind einmal an mir vorbeigegangen“, hatte der Fremde gesagt und für einen winzigen Moment war dabei die Maske von seinem Gesicht gefallen, so kurz, dass es auch Einbildung gewesen sein konnte, lang genug, dass er glaubte, Wut und grenzenlosen Hass hinter der Eloquenz des anderen zu entdecken.
Plötzlich war dort ein Geräusch, das ihn aus seinen Gedanken riss und erschreckte.
Es klang wie eine Hand mit Ring, die gegen eine Bierflasche schlägt, eigentlich ein harmloses Geräusch, dann kamen verschiedene Stimmen und Stiefelabsätze auf dem Asphalt hinzu. Er blickte nach vorne und sah eine Gruppe Jugendlicher auf sich zukommen. Sofort war da Angst, die sich in die Gedanken mischte. Er war hoffnungslos betrunken, an sich auch kein kräftiger, kein besonders körperlicher Mensch und auf der verwaisten nächtlichen Straße war niemand, der ihm hätte zu Hilfe kommen können. Ihre Bewegungen machten ihm Angst, auch sie waren betrunken, rasche hektische Bewegungen, sie traten eine plattgedrückte Dose vor sich her und er konnte nicht erkennen, ob dies nur Spaß oder bloße Aggression war. Noch bestand die Möglichkeit die Straßenseite zu wechseln, sich umzudrehen und davonzurennen, doch all dies wäre ein Zeichen von Schwäche gewesen und aggressive Jugendliche waren wie Hunde, welche die Angst riechen konnten. Er straffte seinen Gang, versuchte sich größer zu machen als er war, Automatismen, die nur die Evolutionstheorie erklären konnte, doch mit jedem Schritt, den er auf sie zuging, wurde die Angst größer. Man hörte in der letzten Zeit in den Nachrichten so oft von Übergriffen auf Passanten, von steigenden Zahlen bei den Gewaltdelikten, von oftmals sinnloser und vielleicht deshalb um so brutalerer Gewalt, die Frustration einer betrogenen Generation, die er verstehen, aber nicht gutheißen konnte. Gerade gingen sie unter einer Laterne her, Licht fiel auf ihre verkniffenen Gesichter, die kurzgeschorenen Haare, über denen bunte Basecaps schwebten. Ganz nahe waren sie nun, mussten auch ihn entdeckt haben, doch noch reagierten sie nicht, hatten ein Thema, über das sie sich stritten, keine Aufmerksamkeit für einen alternden, betrunkenen Mann auf dem Weg nach Hause.
Er ging ganz nach rechts, an die parkenden Autos, um den Jugendlichen Platz zu machen und um nicht ihre Aufmerksamkeit zu erregen, während sein Herz immer schneller schlug. Er war Schriftsteller und spielend fand sein Kopf die richtigen Begriffe, splitternde Zähne, aufgeplatzte Wunden, Schläge mit unbarmherziger Gewalt in ein flehendes Gebiss gehämmert, gleichzeitig glaubte er, dass da mehr war, eine Erinnerung, die verdrängt und dunkel sein Herz immer schneller schlagen ließ, eine Erinnerung, welche die Panik und das Zittern seiner Beine erklärte, dann waren sie an ihm vorüber, interessierten sich nicht für ihn. Die Erleichterung war übermächtig, nicht einmal die Scham, sich vor diesen Jugendlichen gefürchtet zu haben – sie waren vielleicht 18, höchstens 19 Jahre alt und somit Kinder gewesen –, nicht das schlechte Gewissen, ihnen unrecht getan zu haben, konnten diesen Moment verderben, das Gefühl davongekommen zu sein, überlebt zu haben.
„Buh“, schrie einer der Jugendlichen auf einmal in seinem Rücken, um ihn zu erschrecken und er erschrak. Das Herz machte einen wilden Satz, Schmerzen schossen durch die Brust, ein Herzinfarkt, dachte er, als seine Glieder stocksteif froren und er reglos auf sich nähernde Stiefeltritte horchte, doch da war nur Gelächter, das sich langsam entfernte und irgendwie fand er die Kraft weiterzugehen, um die nächste Ecke herum, wo er sich erneut übergab. Dann setzte er sich in einen Hauseingang, saß eine Weile zitternd auf einer fremden Fußmatte, fand schließlich die Kraft weiterzugehen. Nach und nach beruhigte er sich und obwohl er immer wieder glaubte Schritte zu hören und ängstlich in die Dunkelheit lauschte, begegnete ihm niemand mehr auf dem Weg nach Hause.
Das sechste Kapitel
Als er vor dem Haus auf der Terrasse stand, nach oben blickte und die Sterne bewunderte, die dort miteinander verschwammen, war die Übelkeit gewichen, nur noch stumpfer Rausch war geblieben, der es nicht mehr vermochte jenen symbolischen Pfahl zu bedecken. Da war auch wieder dieses Gefühl, dass er beobachtet wurde, das sich aber problemlos als Neurose oder als Paranoia erklären ließ, anders war es mit dem Unsäglichen, das sich überhaupt nicht erklären ließ und für das der Pfahl stand, an den er jetzt wieder dachte. Jener bittere Satz, dass man vor Problemen nicht davonlaufen kann, stimmte Silbe für Silbe und doch war immer die erste Versuchung die, davonzulaufen, zu vergessen. Noch einmal blickte er sich misstrauisch um, vielleicht war es keine Einbildung, vielleicht wurde er beobachtet, dann beschloss er sich zu fügen, ging mit hängendem Kopf zurück ins Kaminzimmer und setzte sich in den Ohrensessel.
Luisa war neben, vielleicht sogar noch vor dem Schreiben sein Lebensmittelpunkt gewesen, bevor das Unsägliche passiert war und der Wahnsinn sie ihm geraubt hatte. Sie war bereits gezeichnet gewesen, als sie sich kennengelernt hatten, keiner von ihnen hatte den dunklen Schatten geahnt, der damals noch im Verborgenen lauerte. Ihr Lächeln war der Schlüssel zu ihrem gemeinsamen Leben gewesen, es war dieses Lächeln, das ihm aufgefallen war, ihn verzaubert hatte. Wahrscheinlich war es zu Beginn mehr Reflex als Einladung zu einer gemeinsamen Zukunft gewesen, der Blick mehr Interesse als Aufforderung, später war es sein Lächeln geworden, dann war es verloren gegangen. Ihr zorniges, aufgebrachtes Gesicht, die leeren starrenden Augen hatten Stück um Stück das Lächeln vertrieben, bis er sich nicht mehr erinnern konnte. Sie hatte sich nicht von einem Tag auf den anderen verändert, eher war es ein schleichender, kaum wahrnehmbarer Prozess gewesen, der sich erst später immer mehr beschleunigt hatte. Er war Schriftsteller, war es gewohnt außerhalb der rationalen Grenzen zu denken, hatte vielleicht deshalb nicht bemerkt, dass sie irgendwann bei einer ihrer Reflexionen nicht mehr den Weg zurück gefunden hatte, dass ein Teil von ihr dort geblieben und niemals heimgekehrt war. Kleinigkeiten waren ihm aufgefallen, ihre zunehmende Schlaflosigkeit, die bösen Träume, die eine oder andere ungerechte Anschuldigung, doch er hatte sie geliebt und somit immer nur das Beste gesehen, hatte sich Dinge erklärt, die nicht zu erklären waren und es hatte auch schöne Momente gegeben, klare Momente, die gerade durch ihre zunehmende Seltenheit umso prägender in der Erinnerung haften geblieben waren. Je hoffnungsloser alles schien, umso emsiger hatten sie Pläne für die Zukunft geschmiedet, gemeinsame Träume geträumt und er hatte versucht nicht mit ihr zu streiten, sich zurückzuhalten, ihr ihren Willen zu lassen, obwohl er oft genug verletzt in die Fiktion geflüchtet, sich mit seinem Schreiben von der Realität abgelenkt hatte. Er hatte ihre Krankheit nicht ernst genug genommen, darauf lief alles hinaus und vielleicht war das für sie das Schlimmste gewesen, der auslösende Moment, der sie dazu gebracht hatte das Unsägliche zu tun. Als sie schwanger geworden war, hatte es für eine Weile so ausgesehen, als würde sich alles normalisieren, heute wusste er, dass es ihr nicht besser gegangen war, dass sie ihren Kummer nur besser versteckt hat. Wie oft hatten sie gemeinsam im Bett gelegen, hatte er das Ohr an ihren Bauch gepresst und dieses kleine neue Herz schlagen gehört, wie oft hatten sie einfach dagelegen und gelauscht, gemeinsam geschwiegen, wie oft war dort die Gelegenheit gewesen sie zu fragen, ob es ihr wirklich besser ging. Er war feige gewesen, hatte die Scheinwelt, ihre Schauspielerei, geliebt, aber doch geahnt, dass dort etwas verborgen war. Er hatte sie betrachtet, während sie schlief und so viele Schatten hatten auf ihrem Gesicht gelegen. Die Ironie, die bösartigste aller Ironien, war es, dass sich das Unsägliche in der Küche zugetragen hatte, in der seine Mutter auf dem Fußboden erstickt war, die bösartigste aller Ironien war, dass auch sie, dass wohl auch das Kind erstickt war, es war jener Punkt, den er nicht begreifen konnte und an dem die furchtbare Kindheitserinnerung mit der noch viel furchtbareren späteren Erinnerung, mit dem Unsäglichen, verschwamm. Wieder war er wach geworden, wieder war da Licht unter der Küchentüre in den Flur gefallen, wieder hatte er nach jemandem gerufen, der nicht antwortete. Bereits bevor er die Tür öffnete, hatte er es gewusst, hatte sich alles zu einem Bild gefügt. Er hatte mit dem Schlimmsten gerechnet und es sich doch nicht ausmalen können. Er war in den Raum gestürzt und hatte das Unsägliche gesehen.
Die Erinnerung war zu schmerzhaft, um sie wieder und wieder zu beschwören, er wollte vergessen, wusste gleichzeitig, dass er nicht vergessen konnte, niemals vergessen, niemals verzeihen. Immer wieder lief alles auf die gleiche Frage hinaus, die er sich so oft in seinem Leben gestellt hatte, die sich wohl jeder Mensch stellte, der zu stolz war, um sich einfach treiben zu lassen, die Frage, ob es Zufall oder Schicksal war, ob man an zynischen Determinismus oder an bestürzende Anarchie glaubte. Er selbst konnte mit dem Begriff Schicksal nichts anfangen, obwohl er ihn in seinen Schriften häufig und gerne verwendete, Schicksal war eine literarische Kategorie, aber das Wort Zufall war zu plump, um die Veränderung zu beschreiben, die seinem Leben, die ihrem Leben widerfahren war. Am meisten schmerzte, dass es kein spontaner Entschluss, nicht die Entscheidung zwischen zwei gehetzten Atemzügen gewesen war, sie hatte es geplant, von langer Hand geplant, wie man so sagte. Er erinnerte sich, wie er Späße gemacht hatte, als sie mit seiner Bohrmaschine in der Küche stand und ein Loch ein kleines Stück unterhalb der Decke gebohrt hatte – sie hatten hohe Decken –. Er wusste nicht mehr, was er gesagt hatte, „Luisa die Heimwerkerin“, mit ein wenig Spott, irgendetwas derartiges, er hatte nicht darüber nachgedacht, damals nicht, später immer wieder. So war das Loch entstanden, in das sie später den Dübel, dann, wahrscheinlich in der Nacht, den Haken gedreht hatte. Er selbst war zu dieser Zeit mit einem Buch beschäftigt gewesen, einem Buch, in das er große Hoffnungen gesteckt hatte, das ihm nun rückblickend – retrospektiv – schlecht und geistlos erschien. Er hatte die Bedeutung dieses Loches erst begriffen, als er den Haken, das Seil, ihren Körper entdeckt hatte, als er in die Küche gerannt war. Obwohl dieses Bild das grausamste war, das er jemals gesehen hatte, die größte Groteske, die er niemals hätte ersinnen können, hatte er zuerst nur diesen Haken betrachten können, den er in diesem Moment verstand, den Haken, an dem ihr Körper hing, nicht baumelte, weil sie von der Wand im Rücken gestützt wurde. Nackte Füße, ungefähr auf seiner Kniehöhe, darunter das Grauen, die Nabelschnur, der kleine Kopf, der viel zu früh in diese Welt gepresst worden war. Zu ihren Füßen lag sein Kind in einer schmierigen Lache, sein Kind, dessen Herzschlag er so oft durch ihre Bauchdecke gelauscht hatte, sein Kind, dessen Herz nun nicht mehr schlug, für das jede Hilfe zu spät kam.
Wie so oft, wenn er im Ohrensessel saß, den leeren Rattansessel betrachtete und an das Unsägliche dachte, war da ein plötzliches Zittern in seinem Körper, eine Art Schwächeanfall, in dem sein Körper gegen die Erinnerung rebellierte. Er versuchte ruhig zu atmen, wie es ihm der „Unfallpsychologe“ in einem Nebensatz geraten hatte, autosuggestives Training, den Körper kontrollieren, wenn die Erinnerungen zu schmerzhaft werden. Er dachte, dass man sich des Wertes einer Sache oder eines Menschen immer erst dann bewusst wird, wenn sie unwiderruflich verloren und damit Vergangenheit sind, dachte, dass dies mehr war als eine der unzähligen Kalenderblatttautologien, dass es ein Stück Lebensweisheit war, das man erst begriff, wenn es einem selbst widerfuhr. Während er immer wieder gelesen, gehört und gesehen hatte, dass fiktionale wie reale Charaktere einen Verlust spielend überwanden, war es bei ihm anders gewesen. Die Zeit heilte eben nicht alle Wunden, dieser Kalenderspruch war falsch. Ebenso war es falsch, dass man bewusst etwas gegen den Schmerz und die Erinnerung tun konnte, weder als Künstler, noch als Mensch. Er hatte diesen Schmerz nie verarbeiten können, weil sich ein solcher Schmerz nicht verarbeiten ließ, einfach blieb. Er hatte versucht all diese negative Energie, dieses Leid, aber auch diese Wut auf ihren kalten Körper konstruktiv zu nutzen, ihm Schönheit zu geben, doch auch hiermit war er gescheitert. Wie ließ sich eine Elegie schreiben über dieses Leid auf dem Küchenboden, wie sollte er auch literarisch die Bedeutung des Hakens, des Lochs hervorheben, des Lochs, das er nur registriert, nicht verstanden hatte. Von je her hatte er Menschen gehasst, welche die Frechheit besaßen von einem literarischen Werk auf dessen Autor zu schließen, die Erfindung des biographischen Interpretationsansatzes und seine unzähligen Anhänger, die jeden noch so nichtssagenden Papierschnitzel in einen großen Zusammenhang stellten. Er hasste jenes „aufgeklärte“ Bildungsbürgertum, das nur das Wort „Kafka“ hören musste, um mit schamloser Unwissenheit „Kafkas Vater“ zurückzubrüllen. Immer hatte er diese Sichtweise gehasst, doch in jenem Moment, als er dort saß, im Ohrensessel saß und der Blick zwischen dem leeren Rattansessel – er hasste Rattan – und dem aufgeschlagenen Notizbuch pendelte, dachte er, dass die Parallelen zwischen seinem Buch und seiner Wirklichkeit erschreckend zahlreich waren.
Nicht nur Luisa, die Mutter und das Kind, auch die Finsternis dieser geschändeten und brutalen Welt korrespondierten auf erschreckende Weise mit jenem Gefühl, das er in der Küche kennengelernt hatte. Er fragte sich, ob er all diese Figuren so leiden ließ, weil er selbst so gelitten hatte. Obwohl er es nicht begriff, spürte er, dass da eine geheimnisvolle Verbindung war, die seine Geschichte mit der des neuen Königs verband und so naiv und auf den ersten Blick sinnlos der Gedanke auch war, er fühlte die Hoffnung, dass er vielleicht Antworten finden würde, wenn er weiterschrieb. Wieder öffnete er die Schublade, zog einen neuen Bleistift hervor und dachte, dass er genug Bleistifte besaß, um diese wochenlang gegen die Wand zu schleudern. Er zog das Notizbuch ein Stück an sich heran, sank in seine Schreibposition, den linken Arm auf den Tisch gestützt, den rechten, der den Stift hielt, über dem Papier schwebend, Schwebezustand, der Moment, bevor die Gedanken flossen, der Moment, bevor er sich anschickte einen neuen Eimer aus der Tiefe zu ziehen. Dann begann er zu schreiben.
„Der neue König saß regungslos auf seinem Thron und blickte nach Westen, dorthin, wo der Himmel dunkler und feindlicher wurde. Er war in einen grüblerischen Zustand verfallen, zu vieles passte noch nicht zusammen, aber er begriff, dass es zwei Seiten gab, dass er selbst auf der einen, sein Feind auf der anderen stand. Er wusste weder, wer dieser Andere war, noch ahnte er dessen Ziele, aber er verstand, dass all das Leid, das er auf dem Marsch erlebt hatte, mit diesem Feind zusammenhing. Er hatte mit seinen Untertanen gesprochen und sie hatten das bestätigt, was er geahnt, vielleicht sogar befürchtet hatte. Niemand erinnerte sich an die Zeit vor dem Krieg, an die Zeit vor der Flucht, jede Erinnerung seiner Untertanen begann und endete auf dieser Straße, die am Thron vorbeiführte. Niemand wusste, wovor sie geflüchtet waren, lediglich der Geschützdonner und die Lichtblitze am Horizont waren die beständige Antwort, doch niemand konnte sagen, wofür diese standen. Erst ab dem Moment seiner Krönung, dem Moment, als er auf den Thron gestiegen war, unterschieden sich die individuellen von den kollektiven Erinnerungen. Auch wenn es nur Einzelheiten, verschwindend geringe Divergenzen waren, eine besonders schöne Blume am Straßenrand, neue Gedanken oder ein verstauchter Fuß, erst ab diesem Punkt unterschieden sich die Menschen. Fast war es so, als hätten sie erst mit jenem Moment, mit dem Ohrensessel am Straßenrand Persönlichkeit gewonnen, wären unterscheidbar geworden. Niemand von ihnen kannte seinen Namen, weil sie niemals miteinander gesprochen hatten. Der neue König verstand, dass diese Veränderung nicht nur mit ihm zusammenhing, dass sie gleichsam das Werk jenes anderen waren und es verlangte ihn mit diesem zu sprechen. In dem Moment, als er den alten König zerrissen hatte, war ihm sofort klar gewesen, dass dieser nicht mehr als eine Hülle, eine Marionette war, viel zu leicht hatte dieser seine Macht fahren lassen, eigentlich ab jenem Moment, wo er sie in Frage gestellt hatte.
’Rede mit mir’, sagte der neue König und wusste, dabei, dass der andere ihn verstand.“
Diesmal ließ sich der Stift ohne jeden Widerstand beiseite legen. Nichts hielt ihn zurück, er begriff, dass der neue König bereit war zu kooperieren, lachte kurz und gehetzt über diese Idee und beschloss dann ihm einen Boten zu senden.
„Der Bote war ein sympathischer junger Mann, Anfang dreißig, der perfekte Bote, voller Demut und Pflichtgefühl, vielleicht ein wenig so wie Barnabas in Kafkas Schloss, er kannte bereits den Ernst des Lebens, hatte aber noch nicht die Begeisterung der Jugend verloren. Sein Gang war elegant, aber nicht hochnäsig, die Personifizierung des Wortes Diplomatie, jemand, der ausgewählt worden war, um dem Gesprächspartner zu schmeicheln. Tief verneigte er sich vor dem neuen König, der ihn interessiert betrachtete.“
Wieder unterbrach er das Schreiben, um einen Moment nachzudenken. Der Bote war eingeführt, stand dem neuen König gegenüber, doch er wusste nicht, was er ihn fragen sollte. Der Entschluss einen Boten zu erschaffen war ein spontaner Gedanke gewesen, angeregt durch den neuen König, der mit ihm sprechen wollte, doch ihm fiel keine Frage ein.
„Schweigen hing zwischen dem Boten und dem neuen König, beide betrachteten sich und der Bote konnte, trotz aller Erfahrung und Beherrschtheit, ein leichtes Zittern seiner Beine nicht verhindern, als er die Ernsthaftigkeit im Gesicht des neuen Königs begriff, diese Strenge, die ihm, obwohl er nichts als Bote war, ein schlechtes Gewissen einflößte.
„Nenn mir deinen Namen“, sagte der neue König und seine Stimme war mild, bildete einen scharfen Kontrast zu diesem ernsthaften Gesicht.
Der Bote zögerte, überlegte, dachte nach, bemerkte, dass er keinen Namen hatte und fiel vor dem neuen König auf die Knie.
„Ich bin nur Bote“, sagte er zögernd, „ich habe keinen Namen.“
„Erzähl mir deine Geschichte“, sagte der der neue König und erst jetzt fiel dem Boten auf, dass er keine Geschichte hatte, dass seine Geschichte erst jetzt, in diesem Moment begonnen hatte.
„Ich kenne meine Geschichte nicht“, flüsterte der Bote, „ich bin nur Bote.“
„Was ist deine Botschaft?“, fragte der neue König und erst jetzt sprudelten die Fragen hervor.
„Was ist mit dem Kind?“, fragte der Bote.
„Dem Kind geht es gut“, antwortete der neue König und er dachte an das friedliche Gesicht, das auf den Blättern gebettet schlief und nicht tot war.
„Wie geht es der Mutter?“, fragte der Bote, dem wie von Geisterhand die richtigen Fragen einfielen, und „Auch der Mutter geht es gut“, antwortete der neue König und sie trat hinter dem Thron hervor und legte ihren Arm auf seine Schulter.
„Was willst du?“, fragte der Bote, die vielleicht wichtigste Frage.
Der König dachte einige Momente nach, bevor er antwortete:
„Freiheit“, sagte der neue König,
„Frieden“, sagte der neue König,
„Erbarmen“, sagte der neue König.
„Ich habe keine Geschichte“, sagte er dann, „genau wie du keine Geschichte hast. Niemand in diesem Zug der Verlorenen hier hat eine Geschichte, allesamt flüchten sie und wissen nicht wovor, haben sich diese Frage nie gestellt. All ihre Existenz ist Grauen, Flucht und Verzweiflung. Allesamt tragen sie Gegenstände, Koffer und schwere Pakete, die aus einer Vergangenheit stammen müssen und die nicht alle leer sein können. Relikte einer Vergangenheit, die sie nicht kennen.
Wir wollen nicht mehr flüchten“, sagte der neue König mit ernster Stimme, wir möchten hier bleiben, ein Dorf errichten, eine Stadt aufbauen, eine Verfassung bilden, nicht mehr flüchten, ankommen, ankommen und bleiben.“
Während der neue König sprach, war der Bote immer trauriger geworden, schmerzhaft hatte er erkannt, dass auch er keine Geschichte, keine Mutter, keine Kindheit hatte. Nichts war in seinem Kopf als der Auftrag, der Botengang, sonst nichts als Leere, Bestimmungslosigkeit.
Während der neue König sprach, hatten sich die Flüchtenden nach und nach um den Thron versammelt, einige hatten sich gesetzt, still zugehört, doch auf einmal kam Bewegung in die Gestalten. Mit den Worten des neuen Königs erinnerten sie sich an die schweren Koffer und Pakete, die sie mit sich trugen und obwohl sie eine große Ehrfurcht vor der Stimme ihres Herrn hatten, öffneten sie ihre Pakete und immer wieder durchbrachen kurze Freudenrufe das Gespräch, wenn jemand etwas entdeckte, das der Gegenwart eine Vergangenheit gab. Jedes Paket enthielt eine Erinnerung, Feierlichkeiten, einzelne Personen, das erste Auto, die erste Freundin, aber auch traurige Erinnerungen, wie die Beerdigung von Luisa, die schwierige Entscheidung, ob ein oder zwei Särge für die Beerdigung bestellt werden sollten.“
Mit einem zornigen Aufschrei schleuderte er den Stift beiseite, weil er es in jenem Moment begriff, weil er verstand, was dort vor sich ging. All diese Päckchen, verschnürten Bündel,
all dieser Ballast, den die Flüchtenden getragen hatten, waren seine eigenen Erinnerungen, seine eigene Geschichte und er begriff, dass er sich das Lächeln von Luisa nicht mehr ins Gedächtnis rufen konnte, weil sich der neue König an sie erinnerte. „Die schwierige Entscheidung, ob ein oder zwei Särge für die Beerdigung bestellt werden sollten.“ Er las den letzten Satz noch einmal, dachte, dass er sich letztendlich für einen Sarg entschieden hatte, dachte dann, dass er sich an den Moment der Entscheidung nicht erinnern konnte. Wahrscheinlich hatte er genau an dem Platz gesessen, an dem er nun saß, auf dem Ohrensessel, weil er auf dem Ohrensessel am besten denken konnte, aber er erinnerte sich nicht. Er begriff, dass er für dieses Buch einen hohen Preis zahlte, dass dieses Buch, wenn es denn einmal vollendet sein würde, seine Geschichte, seine Erinnerungen, sein Leben aufgesogen haben würde. Der neue König füllte die Leerstellen seiner Welt mit den Erinnerungen seines Schöpfers, seines Erfinders.
„Ich verliere meine Identität“, sagte er laut in das leere Kaminzimmer, um diesen Gedanken in seiner Ungeheuerlichkeit fassen zu können und er sah vor seinem geistigen Auge diese Schar von Menschen, die in seinen Erinnerungen wühlten, Dinge hervorzogen, die kostbar und sein Eigentum waren, aber auch Dinge, die er tief im Vergessen begraben hatte und die sie nun ohne jeden Sinn für Pietät, wie gierige Raubtiere, aus dem Dickicht der Gedanken hervorzogen.
Immer noch wütend zog er einen neuen Stift hervor, grübelte, dachte nach, schrieb:
„Der Inhalt dieser Pakete gehört nicht euch“, rief der Bote, „es ist nicht recht sie zu öffnen. Es ist Unrecht“, rief er und die Flüchtlinge erstarrten in ihrer Bewegung, blickten hinüber zum neuen König, warteten, wie ihr Herr entscheiden würde.
„Alles was in diesen Koffern ist, gehört meinem Herrn“, sagte der Bote und obwohl er Angst vor dem neuen König hatte, blieb seine Stimme fest, weil er einen Auftrag hatte.
„Wer ist dein Herr?“, fragte der neue König und als dem Boten keine Antwort einfiel, als er unruhig von einem Bein auf das andere trat, erhob sich der neue König und trat hinunter zu ihm.
„Ich gebe dir einen Namen und damit eine Heimat“, sagte der neue König und legte dem Boten seinen schweren Arm auf die Schulter.
„Und wenn du einen Namen hast, kannst du dir eine Geschichte, eine Vergangenheit suchen.“
Der Bote schwankte, dachte an die Order, an den Auftrag, doch er fand nichts, was sich den Worten des neuen Königs entgegensetzen ließ, kein Widerstand, obwohl er den Zorn seines Herrn spürte.
„Ich nenne dich Gérard“, sagte der neue König und legte seinem neuen Untertan die Hand auf die Stirn und „ich schenke dir Frieden“, sagte er und noch während er sprach, fuhren die Untertanen fort die Koffer zu öffnen, zeigten sich gegenseitig die Schätze, die darin verborgen waren, lachten und weinten gemeinsam über ihr neues Leben.“
Der innere Rezensent in ihm schrie auf, alles in ihm strebte dem Ausgang zu, er konnte nicht mehr weiter schreiben, alles in ihm sträubte sich und der neue König ließ ihm den Rückzug, allein weil er wusste, dass er wiederkommen würde. Erschrocken fand er sich in seinem Ohrensessel wieder, die Augen starr auf die letzten Sätze geheftet, Gérard, den er irgendwie in diese Sache hineingezogen hatte, Gérard, der nicht nur sein Verleger, sondern auch ein Freund gewesen war. Doch war er das tatsächlich? Er suchte in seiner Erinnerung nach Verbindungen, die Schulzeit, dann das Studium. Er hatte Gérard während seines Studiums kennengelernt, in einem Seminar über die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts, Schiller und der Begriff des Schönen. Gérard war der einzige gewesen, der ihm widersprochen hatte, die ganze Veranstaltung war zu einer einzigen Diskussion zwischen ihnen beiden geworden, doch er wusste nicht mehr, was der eigentliche Gegenstand dieser Diskussion gewesen war. Er erinnerte sich, wie sie gemeinsam nach dem Seminar weiterdiskutiert hatten, wie sie Richtung Westen vom Universitätsgebäude weggeschritten waren, Nachmittag war es gewesen, aber wo waren sie hingegangen. Jede Erinnerung an Gérard enthielt diese klaffenden Lücken, die Hochzeit mit seiner Frau, die Giselle hieß, der Schleiertanz, doch er konnte sich nicht mehr an Gérards Rede erinnern, wusste aber, dass Gérard eine Rede gehalten hatte, wusste, dass er ihn erwähnt und etwas Nettes, etwas Kostbares gesagt hatte. Er dachte, dass dieses Buch ihn tatsächlich seine Existenz kosten würde, dass bereits viel verloren, unwiederbringlich verloren war. Erst in diesem Moment kam er zu dem Entschluss, der die ganze Zeit im Hintergrund verborgen gelauert hatte, den er nicht hatte wahrnehmen wollen, weil er ungeheuerlich war. Er würde das Manuskript vernichten, verbrennen, das beste, das er jemals geschrieben hatte, ins Vergessen schleudern, bestaunen, wie die Flamme Seite um Seite fraß, wie der Rauch zum Himmel stieg. Es wäre die schmerzhafteste, die größte Niederlage seiner schriftstellerischen Laufbahn, er würde nie wieder ein Buch schreiben, würde etwas anderes tun, von seinen Ersparnissen, von seinen Erinnerungen leben.
Er glaubte nicht, dass all das, was er bereits verloren hatte, wiederkehren würde, wenn er das Manuskript vernichtete, er würde lediglich verhindern, dass er noch mehr verlor, Schadensbegrenzung, dachte er und kurzentschlossen griff er nach dem Notizbuch, trat hinaus auf die Terrasse.
Recht weit hinten im Garten, dort wo der efeubewachsene Holzzaun sein Grundstück von dem des Nachbarn abtrennte – er hasste neugierige Blicke – , stand der alte Holzkohlegrill, bereits damals ein billiges Modell, das Regen, Rost und Verwitterung nicht schöner gemacht hatten.
Obwohl es viele Jahre her war, dass er ihn an diese Stelle getragen hatte, erinnerte er sich noch genau an jenen Moment, Luisa in einem roten Kleid, eine Fleischplatte in den Händen, er selbst fluchend über den Wind, der Funken in die ausgetrockneten Büsche trieb, Sommer war es gewesen, gegen Ende des Sommers, einige Wochen, bevor das Unsägliche passiert war. Seitdem stand er dort, nutzlos und entartet, manchmal Vogeltränke und vielleicht nur in den Hintergrund gerückt, um in diesem Moment wieder an Bedeutung zu gewinnen, brennen sollte sein Manuskript und mit ihm die Angst, der Zweifel und der neue König. Er warf das Notizbuch voller Geringschätzung in die Feuerschale, zerriss es aber nicht, weil er sich den Moment der letzten Entscheidung, den sprichwörtlichen „point of no return“ – einer der wenigen Anglizismen, die er mochte – noch ein wenig hinauszögern wollte. Überhaupt wich die Sicherheit des ersten Impulses sehr rasch, falsch kam ihm die Kombination aus beschriebenen Seiten und primitivem Feuer vor. Er hatte noch nie etwas verbrannt, das ihm etwas bedeutet hatte, lediglich Anfänge, die sich im Nichts verloren, sinnlose Gedanken, die sich im Kreis bewegten, niemals aber Zeilen, an die er geglaubt hatte. Doch es half alles nichts, er wollte es beenden. Mit einem Ruck riss er sich von dem Anblick des geschändeten Notizbuches los, dessen Seiten hilflos im Wind flatterten und rannte voller Trotz hinüber in die Garage, um Grillanzünder, Spiritus oder einen anderen Brandbeschleuniger zu holen. Es war seine Entscheidung und nichts und niemand konnte sie beeinflussen.
Als er dann aber vor dem vollgestopften Regal stand und die Etiketten der zahlreichen Flaschen studierte, wich die Gewissheit bereits neuen Zweifeln. Es war nicht nur der Gedanke der Niederlage, des Verlustes, des beschämenden Rückzuges, der mit der Vernichtung seines Werkes einherging, da war gleichzeitig auch ein gewaltiger Widerwille, unschuldige Wörter, Sätze und Buchseiten der Vernichtung preiszugeben. Sätze konnten nichts für den Kontext, in dem sie standen, oder für die Zeit ihrer Schöpfung. Er dachte an jene dunkle Epoche, in der sein Volk die Blüten der eigenen Literatur auf die Scheiterhaufen geworfen hatte, das Leiden der Expressionisten, Höhenflüge des deutschen Geistes, selbst Nietzsche hätten sie verbrannt, wenn sie ihn verstanden hätten. So stand er eine Weile dort und fühlte sich schuldig, suchte gedanklich einen Ausweg und fand dann eine Flasche mit flüssigem Grillanzünder und vergilbtem Etikett. Leicht entflammbar, ein Gefahrenhinweis, dann stand er wieder vor dem Grill, betrachtete das Notizbuch und das Spiel des Windes mit den Seiten, „Der neue König“, las er und dann „Dämmerung“ und „Morgenröte“. Er öffnete die Flasche, roch augenblicklich den scharfen Geruch und wusste, dass er es nicht tun konnte, ebenso wie damals, als er im Schwimmbad ganz oben auf dem Sprungturm gestanden hatte.
„Blut von meinem Blut, Fleisch von meinem Fleisch, Saat meiner Gedanken“,
murmelten die Lippen, immer noch zögerte er, jede Entscheidung war die Vernichtung aller Alternativen und emsig blätterte der Wind, unzählige Seiten seiner eigenen engzeiligen Schrift,
„Luisa“ stand dort und konnte er das tun, ihren Namen verbrennen?
Suchend blickte er sich um, das Gefühl von Scham, die Leiter wieder hinuntersteigen, und er fühlte sich beobachtet, wie so oft, wenn er im Garten stand, irgendwo war ein Zeuge seiner Niederlage.
„Komm doch raus!“, schrie er in den Wind, auch um der Wut auf sich selbst eine andere Richtung zu geben, doch da war keine Reaktion.
Wie beiläufig nahm er das Notizbuch zurück aus der Feuerschale und säuberte es an seinem Hemd, „ich weiß doch, dass du da bist“, sagte er schon leiser, zweifelnder, mehr zu sich selbst.
Achtlos ließ er die Flasche fallen und wurde bereits ruhiger, als er auf die Terrasse zuschritt.
Er durfte nicht paranoid werden, sich nicht zu sehr von seinen Gedanken fortreißen lassen. Der Zwang zu schreiben mochte eine verworrene psychologische Erklärung haben, ein tatsächlicher Spion, der sich in seinem heruntergekommenen Garten herumtrieb, wäre selbst aus dem Drehbuch der geistlosen Vorabendserien gestrichen worden. Eigentlich ging es auch nur um dieses Buch, den „neuen König“, und darum, dass er verlor, wenn er einfach aufgab. Sorgfältig verschloss er die Terrassentür, nachdem er ins Kaminzimmer zurückgekehrt war, und als er dann im Ohrensessel saß, musste er wieder an Luisa denken und dass er ihr Lächeln verloren hatte.
Allein dieses Lächeln erschien ihm in diesem Moment als unschätzbarer Wert und er überlegte, dass es einen anderen Weg geben musste, irgendeine Möglichkeit, bei der er das, was er verloren hatte, zurückbekommen konnte. Er dachte, dass er nichts überstürzen durfte, überall lauerten Abgründe und er würde erst einmal gar nichts tun, vielleicht eine Flasche Wein öffnen und Gérard, seinen Verleger und vielmehr noch sein Freund, in den nächsten Tagen anrufen, ihm diesmal die Wahrheit sagen und auf seinen Rat hören.
Das siebte Kapitel
Morgens, wenn er aufstand, führte ihn der erste Gang zunächst immer hinunter zum Briefkasten. Als Schriftsteller stand er in einem engen Verhältnis zur Post, denn sie war der hauptsächliche Kontakt zur Außenwelt. Ebenso wie es immer ein besonderer Moment war, eines der Manuskripte in den Briefkasten am Ende der Straße zu werfen, der Moment, in dem er einen Text losließ und ihn in fremde Hände legte, war es ein besonderer Moment, den Briefkasten zu öffnen, der potentiell immer eine Antwort, ein Vertragsangebot oder eine persönlich formulierte, ewig aus den gleichen Textbausteinen zusammengesetzte Absage enthalten konnte.
Er hasste es, seine Schriften, seine persönlichsten Gedanken in die Hände von Minijobbern und Teilzeitlektoren zu legen, hatte aber in den Jahren schmerzhaft akzeptiert, dass dies der einzige Weg war, durch den seine Worte von der Welt gehört werden konnten. Die Kunst war es nicht, einen außergewöhnlichen Text zu schreiben, die Kunst bestand darin, in dem Heer der inkompetenten Lektoren jemanden zu finden, der seinen Gedanken folgen konnte. In der Zeit, bevor Gérard sein Lektor geworden war, war er vollständig abhängig von dem Gutdünken dieser Literaturvernichter gewesen, hatte ihnen wieder und wieder seine Texte geschickt und wieder und wieder ihre Absagen gelesen. „Wir bedauern Ihnen mitteilen zu müssen“, war einer dieser Anfänge, ab dem er nicht weiter las und immer wieder hatte er jenen Zwiespalt gespürt, jenen großen Widerspruch, der die heilende Wirkung der Kunst nahezu vollständig vernichtete. Verlage waren nichts als Verkaufsstellen, auch das war eine schmerzhafte Erfahrung gewesen. Der intellektuelle Schein, die vorgeschobenen Ideale, die diese findigen Unternehmer veranlasste Namen wie Herder, Goethe oder Schelling in ihre Briefköpfe hineinzudrucken, hatte ihn lange Zeit darüber hinweggetäuscht, dass das einzige Ziel eines Verlages die Profitmaximierung, nicht die Edition eines guten Buches war. Übersetzungen erfolgreicher ausländischer Autoren, Bücher, die den Zeitgeist trafen, also an einem Tag für den nächsten geschrieben wurden, waren das, wonach die Lektoren suchten.
So spaltete sich dieses Heer in die gutbezahlten und versierten Lektoren, die ständig um die Welt reisten, um für Millionen und Abermillionen von Dollars Übersetzungsrechte und Banalitäten zu suchen, und die andere Gruppe, die unterbezahlten und somit frustrierten Literaturvernichter, die mehr Zeit an den Reißwölfen, als bei der eigentlichen Lektüre verbrachten, die nur existierten um den Schein zu wahren und so zugleich auch nur zum Schein ihren Beruf ausübten. Alles ist nichts als Schein, dachte er, als er den Briefkasten öffnete, der Versuch den Schein zu wahren, „Senden Sie uns gerne ihr Manuskript, wir vernichten es für Sie“, das wäre ehrliche und zeitgemäße Werbung für die großen Verlage gewesen, denen er trotz besseren Wissens immer wieder seine Manuskripte schickte. Dann entdeckte er den Brief.
Das Kuvert war weder adressiert noch gestempelt, nichts als ein einfacher weißer Umschlag, den jemand persönlich durch den Schlitz geschoben haben musste. Lange betrachtete er ihn und tat dies mit einem unguten Gefühl, bevor er ihn dann öffnete. Zumeist bekam er nur Werbung, keine Briefe – wenn man von den Absagen und gelegentlichen Autorenabrechnungen absah –, Werbung, die unverschämterweise an ihn persönlich adressiert und somit als Brief getarnt war. Dieser Brief war anders, es klebte eine Ahnung an dem blütenweißen Umschlag.
Er öffnete das Kuvert, während er hinüber ins Kaminzimmer ging, wunderte sich über das altertümlich dicke Papier, das er entfaltete, etwa in der Mitte des Raumes blieb er stehen.
„Hinter jedem Wort verbirgt sich Schuld!“, stand dort in einer eleganten und geschwungenen Handschrift, einer Schrift mit vielen kleinen Kringeln und großzügig verzierten Anfangsbuchstaben, einer Schrift, die eine frappierende Ähnlichkeit zu der Schrift seiner toten Mutter aufwies. Ratlos stand er eine Weile dort und dachte mehr über die Schrift als über die Botschaft nach. Die Mutter hatte, als sie noch jung und die Farbfotografie neu und modern war, leidenschaftlich gerne Fotos gemacht, unzählige dicke und inzwischen verstaubte Alben gefüllt, tausende Fragmente, Mosaiksteine eines vergangenen Lebens, die sie sorgfältig Stück für Stück mit vier Fotoecken für die Ewigkeit gebannt hatte. Gerade in der Zeit nach ihrem Tod hatte er öfters die alten Fotos betrachtet und, darum dachte er an die Alben, sie hatte gelegentlich kleine Kommentare zu besonderen Ereignissen neben die Bilder geschrieben:
„Sommer 53 in der Toskana“, manchmal mit ungelenkem Sprachgefühl und humoristischen Hintergedanken. „Nicht so ernst, Ernst“, war einer der kreativeren Sprüche, an den er sich erinnerte. Noch immer den Brief in der Hand, rannte er mehr als er ging die Treppenstufen hinab in den Keller und zog wahllos eines der dicken Alben aus der endlosen Reihe. Dann kehrte er zurück ins Kaminzimmer, ließ sich in den Ohrensessel fallen und schlug das Album auf. Bereits die erste Seite bestätigte seine Ahnung, doch er wollte und konnte es nicht glauben, es machte keinen Sinn, war unerklärbar, letztendlich Wahnsinn und so blätterte er weiter, bis er auf der vierten Seite innehielt. „Das ist aber nicht meine Schuld!“, stand dort neben dem Bild einer zwischen Zorn und Lachen hingerissenen etwas dicklichen Frau, die neben seiner schmunzelnden Mutter stand und mit der rechten Hand auf einen blutroten Weinfleck auf ihrem leuchtend gelben Kostüm wies. „Das ist aber nicht meine Schuld!“,
die gleichen Kringel, die gleiche zeitaufwendige Verzierung des großen „S“. Erst jetzt, wo dieser erste Gedanke, die frappierende Ähnlichkeit, bestätigt war, dachte er über den Sinn der Botschaft nach. „Hinter jedem Wort verbirgt sich Schuld!“, ebenfalls mit einem Ausrufezeichen, so als hätte der Schreiber das Foto gekannt und versucht darauf anzuspielen.
Es machte keinen Sinn und doch war es das gleiche Ausrufezeichen, der Punkt mehr ein Strich, der Strich, mehr geschoben als gezogen, mit einer gewissen Schräge von links unten nach rechts oben. Er hatte sich immer gegen den Schicksalgedanken gewehrt, ebenso, wie er nicht wirklich an Zufälle glaubte, und doch waren in seinem Leben so viele Dinge geschehen, die auf erschreckende Weise zusammenpassten, auch wenn das verbindende Glied im Verborgenen blieb. Der Tod der Mutter und das Unsägliche, die Küche, die zahlreichen Absagen, hinter der er verschwörungstheoretisch dieselbe Hand vermutete, das Gefühl beobachtet zu werden, all das verwies darauf, dass er einen Aspekt übersah. Wäre sein Leben ein Roman gewesen, dann wären die einzelnen Bedeutungen irgendwo zusammengelaufen, die verschiedenen Ereignisse hätten in ein finales Ereignis gemündet, ob dies nun Descartes’ Täuschergott oder die postmoderne Vorstellung einer Matrix war, aber es war eben kein Buch, das er las, es war die Realität, die er erlebte. Die Realität sagte, dass es Zufall war, dass dort draußen ein Mensch existierte, der eben einfach exakt die gleiche Handschrift wie die tote Mutter hatte, ebenso, wie einer aus einer unendlich großen Zahl von Affen durch fortwährendes sinnloses Tippen auf Schreibmaschinen die Bibel samt Einhaltung aller gültigen Interpunktionsregeln verfassen konnte, doch er hatte nicht unendlich viele Briefe bekommen, genauer gesagt nur einen, der erste Brief seit Jahren, der nicht gedruckt, sondern geschrieben worden war. Dann erinnerte er sich. Die Bar, „Kings Cross“ in roten Farben in der Dunkelheit leuchtend, der seltsame Fremde mit der Behinderung, das Buch „Milch“, auch ein nahezu unglaublicher Zufall, dass jener es gelesen hatte, der eingewachsene Zehennagel, die rostige Rasierklinge, auch der Fremde hatte über Schuld gesprochen. Langsam kehrte die Erinnerung zurück.
Wenn er vorsätzlich zu schnell und zu viel Alkohol trank – was ohne Vorsatz so gut wie nie in seinem Leben passiert war – , geschah es, dass er Dinge zeitweilig vergaß, niemals vollständig, aber so, dass es eines äußeren Ereignisses bedurfte, um sie wieder in Erinnerung zu rufen. Doch warum schickte der Fremde ihm diesen Brief, warum rief er sich auf diese mysteriöse Art ins Gedächtnis zurück. Er hatte den Brief persönlich eingeworfen, warum hatte er nicht geklingelt. Trotz aller Skrupel hätte er ihn eingelassen, jetzt, wo er wieder an den Fremden dachte, war da auch wieder die Neugier, die Geschichte hinter der Geschichte, die ihn interessierte. Der Fremde war eine Erklärung für den Brief, aber er erklärte mitnichten die Handschrift. „Schuld“, das zentrale Element dieses Briefes, mehr als eine Anspielung auf seine Exegese von „Milch“, tiefergehender, er war sich nicht sicher, ob dort ein Vorwurf mitschwang, aber man konnte den Brief auch als Anklage lesen, doch was war sein Verbrechen. Er legte den Brief beiseite.
In seiner Karriere als Schriftsteller hatte er manchen wahnwitzigen Brief bekommen, wüste Beschimpfungen und schmachtende Liebesgeständnisse hatten sich abgewechselt, aber keiner dieser Briefe, die er einmal im Monat aus seinem Postfach abholte, waren durch seinen Briefkastenschlitz gewandert. Er dachte sich, dass der Fremde etwas von ihm wollte, sich nicht traute es zu sagen, vielleicht war es nicht einmal Zufall gewesen, dass sie sich in der Bar getroffen hatten. Irgendwie hatte er die Handschrift der Mutter herausgefunden und es wohl für besonders originell gehalten, ihn auf diese Art zu überraschen, er wusste es nicht. Es war absurd, aber nicht gänzlich ausgeschlossen. Obwohl er nicht viel über den Mann wusste, mit dem er einen Abend lang über Literatur diskutiert hatte, glaubte er nicht, dass dieser gefährlich war. Die Bedrohung, die von ihm ausging, war subtiler, nicht gewalttätig.
Er dachte, dass er einfach abwarten musste, dass dieser Fremde, wenn er denn ein Ziel hatte, wieder in Erscheinung treten würde. Schließlich wollte er etwas von ihm, auch wenn er nicht im Geringsten ahnte, was dies denn sein konnte. Vielleicht nichts als ein übereifriger Fan, dachte er, und obwohl dieser Gedanke ihn nicht überzeugte, vermochte er es, ihn zu beruhigen.
Überhaupt war dies alles nichts als Ablenkung von seinem Buch, vom neuen König, der seinen Boten einfach vereinnahmt hatte. Er warf einen letzten abschließenden Blick auf das junge Gesicht der Mutter, die mit fragenden Augen zurücksah, schlug das Album zu und legte auch den Brief beiseite, dann griff er nach dem Notizbuch, las die letzten Sätze, fühlte erneut jene Empörung, mit der aufgehört hatte zu schreiben.
„Der neue König wartete, bis sich alle Untertanen um ihn herum versammelt hatten. Prüfend und voller Mitleid betrachtete er die dürren Menschen und die Hoffnung, die ihm aus so vielen Augen entgegenglänzte.
„Ihr habt gelitten, wie ein Volk nur leiden kann“, rief er den Untertanen zu,
„wir haben gelitten, ohne zu wissen wofür, ohne jegliche Hoffnung auf Erlösung.“
Es war still geworden. Anfangs war da noch ein gelegentliches Murmeln gewesen, längst waren noch nicht alle Pakete geöffnet, doch jetzt schwieg das Volk und lauschte auf die Stimme ihres neuen Königs.
„Wir haben keine Vergangenheit gehabt, nichts, das hinter uns lag und so haben wir auch keine Zukunft gehabt, nichts als der Staub der Straße und der Geschützlärm in unserem Rücken, nichts als der Staub der Straße und die Ungewissheit vor uns. Wir haben nicht wirklich existiert“, rief der neue König, „und nun ist es an der Zeit unser Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Wir sind davongelaufen, ohne zu wissen, woher wir kamen, davongelaufen ohne Ziel, wir wussten nichts über die Koffer auf unseren Rücken, haben sie einfach akzeptiert, haben sie wie ein Schicksal ertragen. Es gibt kein Schicksal“, schrie der neue König, „nichts, auf das ihr vertrauen könnt. Ihr wisst nicht, wer ihr seid und so werde ich euch Namen geben, ihr habt keine Geschichte und ich werde euch eine schenken.“
Jetzt war jegliche Konzentration auf den neuen König gerichtet, wie durch ein Brennglas bündelte sich die Aufmerksamkeit in ihm, ließ ihn leuchten, als er sich erhob und dem ersten seiner Diener die Hand auf die Stirn legte. „Als Kind hast du dich, wenn du Angst hattest, immer im Baumhaus versteckt.“
Er erinnerte sich auf einmal: das Baumhaus, eine schiefe Konstruktion aus groben Leisten gezimmert, kein wirkliches Baumhaus, mehr eine Plattform zwischen den Zweigen, die er mit Ästen und losen Blättern abgedeckt hatte, das Baumhaus, in das er sich geflüchtet hatte, wenn die Stimme der Mutter diesen bedrohlichen Klang bekam.
„Du hast dort gesessen und dir die Ohren zugehalten, wolltest ihre Stimme nicht hören und hast sie doch gehört, hörst du die Stimme deiner Mutter“, fragte der neue König und der Diener nickte stumm. „Du warst noch klein, aber du wusstest, dass sie die Strickleiter nicht hochklettern konnte, wusstest, dass sie dir dort nichts tun konnte, wusstest, dass du trotzdem wieder zu ihr hinuntersteigen würdest, um deine gerechte Strafe zu erhalten.“
Er schluckte. Wort für Wort stand dort die Wahrheit, es war sein Erlebnis, seine Erinnerung, doch erst jetzt, wo es Buchstabe für Buchstabe in seinem Notizbuch stand, wusste er, dass dies wirklich passiert und dann einfach verschwunden war. Mehrere Male hatte er dort gesessen und gehört, wie ihre Empörung und ihr Zorn in geheuchelte Trauer und in Verzweiflung übergingen, Verzweiflung, die er nicht ertragen konnte, obwohl er wusste, dass sie nicht gespielt war.
„Warum tust du mir das an?“
Ein Satz, der sich damals tief in sein Gehirn eingebrannt hatte, Schuld, die keine war, er war ein Kind gewesen. Und es stimmte, er war immer wieder hinuntergeklettert. Unzählige Male hatte er dort oben gesessen und beschlossen niemals wieder hinunterzusteigen, zu verhungern, zu verdursten, nur niemals wieder in die Arme der Mutter zurückzukehren. So oft hatte er sich in kindlicher Verzweiflung geschworen, diesmal nicht auf ihre falschen Tränen hereinzufallen, diesmal den Stolz zu bewahren, sich durchzusetzen, doch er hatte es nie lange ausgehalten. Dann fand er aus der Erinnerung in den Ohrensessel zurück, betrachtete kritisch die letzten Sätze, die ihm nicht gefielen. Unabhängig von dem Auftauchen seiner Kindheitserinnerung gefiel ihm der Stil nicht, die Trivialität der Bilder, das Baumhaus. Er dachte sich, dass er den Pathos und das Mysterium des neuen Königs zerstören würde, wenn er ihn kleine Alltagsgeschichten an seine Untertanen erzählen ließ. Wieder dachte er aber auch, dass er etwas verloren hatte. Wenn er über dieses Baumhaus las, dann wusste er, dass dies ein Stück seiner Geschichte war, aber die eigentliche Erinnerung ließ sich nicht zurückrufen. Es war möglich, von der Beschreibung auf seinen damaligen Gemütszustand zu schließen, er war zornig, verzweifelt, hilflos gewesen, aber die eigentliche Erinnerung an das, was er in jener Nacht gefühlt hatte, war auf merkwürdige Weise einfach verschwunden, es war, als ob das Baumhaus in seinem Manuskript das eigentliche ersetzt hatte.
Es war das zweite Mal, dass ihm dieser Gedanke kam, der trotz aller Monstrosität irgendwo Sinn machte. Er hatte immer geglaubt, dass die Persönlichkeit eines Menschen nichts als die Ansammlung seiner Erinnerungen war, ein bloßes Konglomerat des Erlebten, ob bewusst oder unbewusst, Erinnerungen, die nach einer unbekannten Formel gemeinsam die Persönlichkeit konstituierten. Wenn man diesen Gedanken vereinfachte, bedeutete dies
– zumindest bedeutete es dies für ihn – , dass mehr Erinnerungen mehr Persönlichkeit, weniger Erinnerung weniger Persönlichkeit zur Folge hatten. Und so, wie ein Demenzkranker immer ungeprägter und roher wurde, je mehr der Konventionen, die er mühsam erlernt hatte, er vergaß, desto unbestimmter und leerer würde er werden, je mehr seiner Erinnerungen von diesem Flüchtlingszug aufgesogen würden. Dass dies alles physikalisch betrachtet Unsinn, nicht erklärbar und somit – denn so funktionierte Wissenschaft – falsch war, änderte nichts daran, dass es einem versteckten Sinn folgte.
„Wir müssen erst lernen Mensch zu werden“, schrieb er, irgendwo zwischen Rousseau und der Rede des neuen Königs, dann Büchner „Friede den Hütten. Krieg den Palästen“ und er merkte, wie er abschweifte, sich nicht auf den Fortgang der Geschichte konzentrieren konnte, vielleicht aber auch gleichzeitig zu konzentriert war. Die ganzen letzten Sätze kamen ihm falsch und unwirklich, er selbst kam sich getäuscht vor. Dies war nicht der neue König, dies war eine Ablenkung, eine Fiktion in der Fiktion, deswegen so seltsam gestelzt, sinnlose Phrasen, die er aneinander reihte und er dachte, dass in seiner Geschichte gerade etwas anderes passierte, dass schon das Baumhaus ihn vom eigentlichen Geschehen ablenken sollte. Er legte den Stift beiseite, ohne darüber nachzudenken, ohne jeglichen Widerstand und plötzlich begriff er, dass er nicht an der eigentlichen Geschichte schrieb, dass er gar keinen Zugang zu der Welt des neuen Königs gefunden hatte. Gedanken schossen ihm durch den Kopf, der merkwürdige Fremde, der seltsame Brief, und er nahm sich vor noch einmal bei der Bar „Kings Cross“ vorbeizugehen. Vielleicht kam der Fremde öfter in diesen Laden, vielleicht kannte man ihn dort, vielleicht war es möglich, mit ihm in Kontakt zu treten. Dann wandte er sich geistig endgültig von dem neuen König ab, dachte, dass man wie beim Glückspiel die Lösung nicht erzwingen konnte, dachte an den Brunnen, die geheimen Zugänge, dass es fließen musste, was einfach nicht immer geschah. Immer wieder dachte er an den Fremden, bis das Telefon klingelte.
Das achte Kapitel
„Es kam alles ganz plötzlich“, sagte die stammelnde, zunächst nicht eindeutig weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung, in der er schließlich Giselle erkannte. „Ich bin aufgewacht, weil er sich so seltsam bewegt, gezuckt hat, er ist mit dem Ellenbogen gegen mich gestoßen, davon muss ich wach geworden sein, oder vielleicht war es auch sein Keuchen, dieses furchtbare Keuchen, verstehst du, ich weiß nicht, wie lange er schon so lag, wie lange er so gekämpft hat, während ich geschlafen habe, ich…“, dann nur noch Schluchzen, während er versuchte die unzähligen Informationen in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen; Gérard war etwas passiert, vielleicht ein Anfall. „Der Arzt hat gesagt, dass es ein Gehirnschlag war, eine plötzliche Blutung, unvorhersehbar, wir hatten so viele Pläne“, mühsam gewann sie die Fassung zurück, während er mehr und mehr seine Fassung verlor, als er schließlich begriff, dass Gérard tot war. Tiefer und tiefer hinunter in den Abgrund.
„Es tut mir leid“, war das einzige was er sagen konnte und dann noch einmal, wie zur Bekräftigung: „Hörst du, es tut mir leid“, ihm fiel nichts anderes ein, nicht die richtigen Worte, kein Trost, nichts als Anerkennung ihres Schmerzes und der eigene Schmerz.
„Kann ich etwas tun, Giselle, brauchst du Hilfe?“ Die richtigen Worte hervorgekramt und er hoffte, dass sie ablehnte, weil er ihr nicht in die Augen blicken konnte.
„Nein, ich muss das alles erst einmal verstehen, aber danke, ich danke dir“, Erleichterung, dann wusste er nichts mehr zu sagen, suchte und fand einige Floskeln, welche die Flucht aus diesem Gespräch möglich machten, schließlich legte er den Hörer auf, flüchtete hinüber in das Kaminzimmer, setzte sich in den Ohrensessel, auf dem er von jeher am besten denken konnte.
Mehr und mehr wurde ihm bewusst, dass der Tod von Gérard Piskine – der nie und nimmer Zufall sein konnte – alles und wirklich alles in Frage stellte, an das er bislang geglaubt hatte, an das alle glaubten, die er kannte. Dass die Figuren in diesem Buch nicht seinem Willen folgten, war das eine, eine ebenso ungeheuerliche wie unerklärliche Tatsache, aber sie ließ sich verkraften, so sehr sein schriftstellerischer Stolz auch darunter litt, sowenig er auch die Möglichkeit dieser Rebellion verstand. Dass es aber möglich war, dass die Handlungen einer fiktionalen Figur eine Veränderung in der Realität, in seiner Realität bewirken konnten, das war etwas ganz anderes, anders als „Die Leiden des jungen Werthers“, die so manchen seiner Bewunderer in den Tod getrieben hatten, es war kein Beispiel, das eine fiktive Person gab, es war eine tatsächliche Handlung. „Der neue König hat Gérard ermordet, der mein Verleger und einer meiner besten Freunde war“, sagte er in den leeren Raum. Die bislang unausgesprochene furchtbare Konsequenz dieses Mordes war aber eine ganz andere:
Wenn der neue König in der Realität einfach Menschen töten konnte, indem er ihren Namen aussprach, so wie er als Autor in der Welt der Fiktion töten konnte, stellte sich die erschreckende Frage, was dann überhaupt noch Realität und was Fiktion war. Ihm kam der wahnwitzige Gedanke, dass er selbst vielleicht nichts als ein Protagonist in einer Geschichte war, die jemand anderes erzählte, dass seine Küche, sein Wohnzimmer, der Ohrensessel nichts als Kulisse, die Imagination eines anderen, waren, der über ihn schrieb, so wie er über den neuen König schrieb.
Er stand wieder auf, der Gedanke ließ ihm keine Ruhe, stand auf und ging im Wohnzimmer auf und ab, während er sich fragte, ob er seinem freien Willen folgte oder ob er ausschließlich deshalb auf und ab ging, weil dies irgendwo geschrieben stand.
Dann setzte er sich wieder, suchte andere, rationalere Erklärungen und die beste die er fand, war der eigene Wahnsinn, der ihn Dinge glauben ließ, die so nicht sein konnten. Wenn er jedoch wahnsinnig war, war es auch egal, was er tat, dann wäre er ebenso determiniert wie als Figur einer fremden Geschichte und während er diesen düsteren Gedanken folgte, kam ihm eine Idee, die vielleicht die Situation verändern konnte. Er war sich inzwischen sicher, dass er das Buch nicht vernichten würde, dass er damit endgültig verloren, niemals gewonnen hätte und dann nahmen seine Gedanken eine Richtung, die als die einzig richtige erschien. Nicht die Geschichte, den neuen König in dieser Geschichte würde er vernichten, sich für all das rächen, was ihm gestohlen worden war. Er würde diesen neuen König zerstören und dann dessen Welt so ordnen, wie sie ihm gefiel. Die Pakete und Koffer würden wieder sorgsam verschnürt und weiter die Straße entlanggetragen werden, er würde diese Welt ordnen und seinem Willen unterwerfen. Er hatte bereits zweimal probiert gegen den neuen König zu intervenieren. Dreimal, wenn man die Fluten, den Traum des Königs mitrechnete. Er hatte ihn degradiert, versucht durch einen Boten zu überzeugen, war in jeder Hinsicht diplomatisch gewesen, aber nun würde er ihn einfach vernichten. Ohne sich darüber bewusst zu sein, hielt er bereits einen neuen Stift in der Hand, schlug eine neue Seite auf und schrieb:
„Der neue König sah die Gefahr nicht, die aus dem Westen auf ihn zuraste, immer noch dachte er nach, da Zeit in seiner Welt keine Rolle spielte, er wartete auf den anderen, dessen Bote nun sein Diener war, sah nicht die Geländewagen und den Hass auf deren Ladeflächen. Verkniffene Gesichter hatten sich dort versammelt, zornige Augen und automatische Waffen, Macheten und Sensen, Söldner und fanatische Anhänger des alten Königs, Terroristen. Sie hatten genaue Anweisungen, sie wussten, wo die Flüchtlinge sich versammelt hatten. Die Wagen fuhren schnell, so schnell, wie es auf der verfallenen schmalen Straße möglich war und hinter ihnen zog die Nacht herauf“, schrieb er, hielt kurz inne und dachte dann, dass dies ausreichen müsste und dass sie seinen Kopf auf einen Pfahl rammen würden. Wieder war da dieser Magnetismus, der ihn zwang zu schreiben, fast so stark wie beim ersten Mal, als er die Kontrolle verloren hatte, und obwohl er noch nicht genau wusste, wie er es fortsetzen sollte, schrieb er weiter.
„Auf einmal blickte der neue König auf, fühlte die Gefahr, die dort aus dem Westen auf ihn zuraste. Er spürte die nahe Konfrontation, spürte aber auch die Kraft, die mit jedem Schritt wuchs, als er aufstand, um dem Feind entgegenzugehen. Mit einer herrischen Geste, die alle verstanden und befolgten, wies er die anderen an zu warten, schritt zügig vorwärts, lange bevor er die Motoren der sich nähernden Fahrzeuge hören konnte. Er blieb stehen, als er die vier kleinen Staubwolken am Horizont sah und er begann zu lachen, als er die kleinen Menschen auf den Ladeflächen entdeckte. Laut lachte der neue König über jede einzelne dieser namenlosen Gestalten, die so fantasielos nichts als ihre Waffen symbolisierten. Lachend blieb er stehen, ließ sie herankommen, ihre Söldnerwaffen durchladen, ließ sie durch ihre aufmontierten Visiere starren, wilde Siegesrufe ausstoßen, als sie ihn sahen, dann dachte er, dass sie blind waren, und ihre wilden Siegesrufe gingen in Schreckensschreie über. Es dauerte einige Sekunden, bis die Fahrer gänzlich die Kontrolle über die Wagen verloren, ihre Militärmaschinen waren träge, schlingerten erst eine Weile, bevor sie aus der Spur brachen, er dachte, dass sie weiter schlingern und sich dann überschlagen würden und schon überschlugen sie sich, kamen dort zum Stillstand, wo er sie haben wollte, alle ungefähr beieinander, und wie Ameisen stoben diejenigen auseinander, die den Aufschlag überlebt hatten. Lauter lachte der neue König, als er sie betrachtete, wie sie in alle Richtungen liefen, mit den Armen durch die Luft fuchtelten, dann dachte er, dass sie brennen sollten, heißer brennen als die Hölle, weil sie es gewagt hatten, sich gegen ihren neuen König zu stellen und wie kleine hilflose Vulkane wälzten sie sich zischend und sprudelnd auf der Straße, schrien in den entsetzlichsten Tonlagen, bis er dachte, dass sie stumm und somit lautlos wären.
Er ließ sie eine Weile brennen, dampfende kleine Vulkane, die schnell in sich zusammensanken, ein Mahnmal für den, der sie geschickt hatte, dann dachte er, dass es genug sei und dass sie sterben durften. Immer noch lachend, lachend über diese Hyperbel an Frechheit und Selbstüberschätzung, blickte er nach oben in den sich lichtenden Himmel, wo er den anderen vermutete, der diese Brut zu ihm gesandt hatte.“
Plötzlich verließ ihn der Schreibanfall, er spürte, wie sich die Macht zurückzog, die seine Hände umklammert hielt, man ließ ihm den Rückzug, wieder schleuderte er den Stift gegen die Wand, einfach, weil es ein Ritual geworden war und gleichzeitig eine gute Gelegenheit, dem Zorn eine Ausbruchsmöglichkeit zu bieten. Er saß einige Minuten regungslos in dem Ohrensessel, atmete tief durch, roch dann den Kaffee, den er vor einiger Zeit – noch vor dem Anruf – aufgesetzt hatte, der bereits durchgelaufen war und den Zenit seiner Temperatur längst überschritten hatte. Wieder fühlte er sich besiegt, seine Angreiferschar war vernichtend geschlagen. Als er aufstand, um in die Küche zu gehen, dachte er dann, dass seine Idee gut, die Umsetzung jedoch plump und gedankenlos gewesen war, ein Söldnerheer, automatische Waffen, der amerikanische Weg ein Problem zu lösen, er hatte gesichtslose Rebellen gegen den neuen König geschickt, der diese einfach erblinden lassen konnte, wenn er nur daran dachte. Er hatte nur einen winzigen Bereich dessen ausgereizt, was möglich war und was der neue König so selbstverständlich benutzte, die Freiheit von physikalischen Gesetzen, von Logik und Rationalität. Er war der Autor dieser Geschichte, er hätte die Sonne explodieren lassen können. Er hing diesen Gedanken eine Weile nach, dachte an Asteroiden und Atomraketen, dachte an Seuchen und biologische Waffen, dann, als er mit Milch und Zucker wieder in seinem Ohrensessel saß, dachte er, dass es eine perfidere, eine gelungenere Lösung geben musste. Während er in seinem Kaffee rührte und auf das kleine Geräusch lauschte, das entstand, wenn der Löffel gegen das Porzellan schlug, war da kurz wieder dieser andere Gedanke, die Überlegung, sich einliefern, mit Tabletten mästen und therapieren zu lassen, die Kontrolle abzugeben. Wieder dachte er an Luisa und wie sie ihm gegenüber auf dem Rattansessel gesessen hatte, dachte an Luisa und konnte sich nicht an ihr Lächeln erinnern.
An diesem Tag schrieb er nicht mehr, plante und überlegte, verwarf dann alles, was er geplant und überlegt hatte. Der Flüchtlingsstrom fiel über seine Erinnerungen her, füllte die eigene Leere mit seinen persönlichsten Gedanken, und wenn er sie alle zerstören würde, wären wohl auch die Erinnerungen verloren. Der Gedanke an eine Therapie, an eine Medikation ängstigte ihn und er hatte das surreale Gefühl sich mit einer solchen Resozialisierung weiter von dem eigentlichen Problem zu entfernen und überhaupt, wenn es tatsächlich der Wahnsinn war, der diese Geschichte schrieb, dann drohten keine Konsequenzen, dann konnte er alle Möglichkeiten ausreizen, bevor er sich in einer Gummizelle wiederfinden würde. Er begriff, dass keine noch so grausame, noch so unbesiegbare Gestalt, die er ersann, dem neuen König gegenübertreten konnte, und irgendwann im Verlaufe dieses Tages entstand die folgenschwere Idee, dass er selbst Teil der Geschichte werden musste. Es war ein Gedanke, der wohl die ganze Zeit verborgen in seinem Kopf existiert hatte, aber erst jetzt, nach dem Tod von Gérard, war er ihm bewusst geworden. Schlaflos lag er in dieser Nacht in seinem Bett, rief sich die Erinnerungen vor Augen, die ihm lieb und kostbar waren, nahm gedanklich Abschied von dieser Welt, weil sein Entschluss gefasst war.
(2009)
Teil 1
„Blut von meinem Blut, Fleisch von meinem Fleisch, Saat meiner Gedanken“
Das erste Kapitel
„Am Straßenrand stand ein alter verwitterter Ohrensessel, daneben lagen zwei tote Menschen“, schrieb er in sein Notizbuch und dann: „Obwohl es langsam Frühling wurde und das erste Grün bereits im Verborgenen auf seinen kurzen Sieg lauerte, waren die Nächte noch schneidend kalt und der sterbende Winter hatte wie zum Abschied unzählige Eiskristalle in die Bärte der Leichen getrieben, hatte die schreckensgeweiteten Augen der Natur angeglichen und sie gnädig mit Eis überzogen“,
schrieb er weiter, hastig, so wie er immer hastig schrieb, wenn die Gedanken schneller wurden als die Hand, wenn die Geschichte zu fließen begann.
Er legte den Stift beiseite und betrachtete diese ersten Sätze die er geschrieben hatte,
die ersten Sätze, die ihm gefielen, seit das Unsägliche passiert war. Die ersten Sätze, die weiter führten als in Kompromisse, Selbstzweifel und Resignation, durchgestrichene Wörter.
Die Geschichte lag vor ihm, noch roh und unausgeformt, aber er begriff die Richtung, fühlte das Licht, das über einer neuen Welt erstrahlte und obwohl da noch zahllose Schatten waren, die er noch nicht auszufüllen vermochte, fühlte er den erbarmungslosen Ostwind, der mit den Haaren der Toten spielte, bestaunte die Morgenröte eines neuen Tages. Er dachte sich, dass er soeben das überwunden hatte, das er sich selbst nicht, das niemand erklären konnte und dem man unverschämterweise trotzdem einen Namen – Schreibblockade – gegeben hatte. Er betonte im Geist jede Silbe voller Geringschätzung, obwohl er jenes verhasste Wort niemals ausgesprochen hätte. Dieses Wort war wie so viele Wörter nichts als ein Beispiel für den seltsamen Trieb des Menschen alles zu benennen, alles zu kategorisieren, selbst das, was nicht kategorisierbar war. Selbst das Nichts hat einen Namen, dachte er sich.
Er selbst sprach lieber vom Fließen, von fließenden Gedanken, die nach eigenen Regeln, vielleicht sogar regellos, nach unverstandenen Gesetzmäßigkeiten, vielleicht sogar gänzlich ungesetzlich ihren Weg an die Oberfläche fanden, jenem geheimnisvollen Bereich entflohen, den man seit Freud das Unbewusste nannte, die Summe dessen, was der Mensch am Menschen nicht verstand, eine Definition, die streng genommen gar keine Definition war. Das Unbewusste, in dem alle Geschichten begannen, in dem die verborgenen Quellen der Fantasie lagen. Irgendwo dort unten in jenem verschlungenen Urwald, den bereits der altkluge Umberto Eco als den Wald der Fiktionen beschrieben hatte, irgendwo zwischen diesem Wurzelwerk des Wahnsinns, hatten sich jene Gedanken formiert, waren Geschichte geworden und hatten beschlossen sich einen Erzähler zu suchen. Es lag wohl nahe, dass der Ohrensessel in der Geschichte auf irgendeinem Weg der Ohrensessel war, in dem er selbst gerade in seinem Kaminzimmer saß und schrieb, obwohl er ihn auch an Thomas Bernhard und die Erzählung „Holzfällen“ erinnerte, die zwei toten Menschen ließen sich bereits schwerer zuordnen, es lag nahe, dass sie auf irgendeine Art mit dem Unsäglichen zusammenhingen, doch hätte er jemals geglaubt, dass sich Literatur mit Triebenergie und Kindheitstraumata erklären ließe, wäre er wohl niemals Schriftsteller geworden. Wie auch immer diese Wortfolgen in ihm entstanden waren, der Ohrensessel und der Tod waren der Ausgangspunkt, zu dem der routinierte Schriftsteller nur noch Raureif und Morgenröte ergänzen musste. „Schreiben bedeutet Macht“, hatte er einmal in einem Aufsatz geschrieben und dies nicht in einem sozialen, sondern in einem schöpferischen Sinne gemeint. Dem Autor kam in der Welt der Fiktion eine gottesähnliche Funktion zu, ebenso wie er Figuren schuf, konnte er sie leiden, wenn er wollte auch sterben lassen. Obwohl diese zwei leblosen Körper nur Statisten hinter dem Auftritt eines ganz Anderen waren, der bereits seinen Schatten vorauswarf, hatte er sie dennoch unsterblich gemacht, wusste, dass eines Tages die Fantasie vieler Leser diesen beiden traurigen Gestalten ein Gesicht geben würde. Der Ohrensessel war der Ausgangspunkt, der Ohrensessel und der Tod.
Er überflog mit einem Blick seinen Couchtisch, vergewisserte sich, dass alles vorhanden war, was er in den nächsten Stunden benötigte, seine Augen fanden den Bleistift und wie magisch zog es seine Hand zu diesem vertrauten Werkzeug, zu jener Brücke, welche die subjektive Hand mit dem objektiven Papier verband. Dann begannen die Gedanken wieder zu fließen, erst langsam und stockend, steigerten sich dann, und mit ihnen die Geschwindigkeit des Bleistiftes, der über das Papier strich, sprudelten aus jener geheimen Quelle, die er so lange versiegt geglaubt hatte, flossen durch die Hand, durch die Bleistiftmine zu Zeichen und Symbolen zusammen, wurden Realität.
„Der Ohrensessel war kunstvoll mit rotem Leder bespannt, die Armlehnen mit Messingknöpfen überzogen, die geheimnisvoll in der frühen Mittagssonne glänzten, Relikt einer besseren, einer friedlichen Zeit und gleichzeitig der Höhepunkt eines erbarmungslosen Kampfes, den sein schwindender Verstand gegen den übermächtigen Wahnsinn kämpfte. Ganz langsam schob sich der Flüchtlingszug an dieser Erscheinung vorbei, viele dürre Hälse bogen sich zur Seite und in dem einen oder anderen Gesicht konnte man Erinnerungen aufblitzen sehen. Es war ein außergewöhnlich schöner Sessel, kaum beschädigt und derartig fehl am Platze, wie eine Friedenstaube, die sich zwischen die Aasvögel mischen würde, die den Zug begleiteten. Eine Symbiose des Schreckens: die Vögel wurden immer fetter, dreister, furchtloser, die Menschen unter ihnen immer dünner, verzweifelter, immer hoffnungsloser. Er konnte nicht mehr sagen, wie lange es so ging, ein Fuß vor den anderen, die ewige Straße, konnte nicht mehr sagen, wann er begonnen hatte an den Tod zu denken. Es war kein plötzlicher Gedanke, vielmehr eine sich langsam verdichtende Gewissheit gewesen, die er irgendwann nicht mehr ignorieren konnte. Das tagelange Marschieren, dieser Todesmarsch, der kein Ziel hatte und bei dem alle allen folgten, hatte ihn wie die anderen tief in den Körper hineingepresst. Er war zu einer Maschine geworden, die Schritt um Schritt nach vorne zog, mühsam das Gleichgewicht hielt, keine Hoffnung über die nächste Straßenkuppe hinaus, kaum ein Gedanke überwand den gebeugten Rücken des Vordermannes, ab und zu ein leerer Blick zur Seite, wenn wieder ein Körper auf den Boden fiel, ein Geräusch, das zermürbte, aber nicht mehr erschrecken konnte, ansonsten folgten die Augen den feinen Rissen in der verkrusteten Asphaltdecke, immer weiter war er gegangen, dann, der Gedanke an den Tod, irgendwann der Moment, in dem er gar nicht mehr bedrohlich erschien, eher wie ein alter Bekannter, dem man lange und aus den falschen Gründen misstraut hatte, dann: der Ohrensessel und mit ihm unabänderliche Assoziationen, Entspannung, Ruhe, vielleicht so etwas wie Heimat, wenn es denn Heimat gab. Alles erschien merkwürdig gedämpft, alles verlor seine Farben, selbst die Gedanken. Nur dieser Ohrensessel ragte daraus hervor, war irgendwie mehr da als alles andere, leuchtete mit seinen kräftigen Farben über alles Bleiche und Sterbende hinaus.
Schon seit Stunden war ihm der schmale spärlich bewachsene Grasstreifen hinter den verkohlten Leitplanken als Verlockung erschienen. Sein Körper schmerzte an jeder nur erdenklichen Stelle, Blut sickerte beständig aus seinen aufgerissenen Füße, mit jedem Schritt wurde es weniger Leben, das noch durch seine Adern kreiste, er zweifelte bei jedem Atemzug, ob er die Kraft finden würde diese trockene Luft wieder aus seinem Brustkorb herauszustoßen, kleine Dampfwölkchen vor seinem Mund zeigten ihm, wie kalt es noch war und dass er schnell erfrieren würde, wenn er seinen Körper in einer halbwegs bequemen Position bettete.
Doch warum sollte er seine Augen nicht schließen, wenn dass Schicksal sie ohnehin blenden und auslöschen würde, das Gefängnis lief mit ihm mit, dehnte sich bei jedem Schritt nach vorne, um sich hinter ihm wieder zu verengen. Überall um ihn herum war der Tod, und bereits so viele waren über die Leitplanke gestiegen und nicht zurückgekehrt. Er hatte gerade gedacht, dass der Tod vielleicht nichts als ein unendlicher Schlaf war, nichts als ewige Ruhe und Subjektlosigkeit, dann: der Ohrensessel und mit ihm jener neue Gedanke, in dem Verstand, Erschöpfung und Wahnsinn auf einmal übereinstimmten. Wenn er ohnehin sterben musste, dann war es sinnlos weiterzumarschieren, die Beine gaben bereits nach und bald würde er ohnehin stürzen, mit jenem nassen und inzwischen vertrauten Geräusch mit dem Kopf auf den gefrorenen Boden schlagen, und über all dem strahlte auf einmal ein unglaublicher und zugleich beängstigender Gedanke, der Gedanke, dass er König wäre, wenn er sich auf den weichen Polstern niederließe und mit den Händen über die zierlichen Schnitzereien strich.
Der Ohrensessel: Die gelungenste, die perfideste, die eigentliche letzte Versuchung, von der er wusste, dass er ihr erliegen würde. Warum dem Tod entgegenmarschieren, wenn er ihn dort gemütlich sitzend erwarten konnte, warum nicht einfach noch einige Minuten sitzen, sitzen und die Sonne betrachten, die ungerührt über all dem Leid strahlte, rasten wollte er, irgendwann mit einem Lächeln einschlafen. Es gab niemanden, von dem er sich verabschieden musste, alle waren sie hier einander fremd, anonym in ihrem Leid, übereinandergetrieben, wie das Schicksal im Herbst die Blätter übereinander trieb. Kraftlos wankte er zur Seite und überwand einen kurzen Moment des Schwindels, der sofort einsetze, als er seine Schritte aus dem gewohnten Rhythmus brachte, wich den Körpern und Habseligkeiten verschiedener Flüchtlinge aus, stieg mit einer letzten, empörenden Kraftanstrengung über die Leitplanke, einen kleinen Abhang empor, auf den der ehemalige Besitzer diesen Sessel wohl mit letzter Kraft geschleppt hatte. Dann berührten seine Hände das dunkle Holz, wie eine Geliebte nahm der Sessel ihn in sich auf, er versank regelrecht in den weichen Polstern, wurde sanft gebeugt, sank und schwebte und in diesem Moment, als die Sonne höher stieg und seine Hände über die geheimnisvollen Schnitzereien in den Armlehnen glitten, wurde der neue König geboren.“
Er legte den Stift beiseite, atmete tief durch, ein hastiger Schluck aus der Kaffeetasse, dann blätterte er in seinem Notizbuch zurück, betrachtete Seite um Seite seiner eigenen Schrift, er hatte sehr schnell geschrieben, etwa eine halbe Stunde war vergangen. Schnell fand er den ersten Absatz, an dem er begonnen hatte, der Ohrensessel und die zwei erfrorenen Statisten, jene ersten Sätze, die ihn gelockt und zum Weiterschreiben verführt hatten, er zögerte einen Moment, dann überschrieb er den Text mit „Der neue König“, wobei er das Gefühl hatte das Richtige zu tun, wusste, dass dies mehr als ein vorläufiger Arbeitstitel war. Staunend betrachtete er diese drei Wörter, dann setzte er kurzentschlossen „Das erste Kapitel“ darunter. Es war nur ein kurzes erstes Kapitel, aber es war in sich geschlossen, die Genesis eines neuen Protagonisten, von dem er so gut wie nichts wusste, es musste abgetrennt vom restlichen Buch stehen, denn diese schemenhafte Gestalt, die sich auf dem Ohrensessel niedergelassen hatte, würde im nächsten Kapitel ein anderer, würde König sein.
Das zweite Kapitel
Er beschloss eine Zigarette zu rauchen, was er trotz aller Einsicht in deren Schädlichkeit noch immer gerne und häufig tat. Beim Schreiben waren ihm mit der Zeit gewisse Rituale wichtig geworden, Belanglosigkeiten, die ungeachtet ihrer Belanglosigkeit aber doch wichtig für ihn waren. Hierzu zählte nicht zuletzt der Ohrensessel, in dem er immer saß, wenn er schrieb und der in den Jahren das Zentrum seiner Kreativität geworden war, hierzu zählten harte Bleistifte – er hasste weiche Bleichstifte – und jene schwarzen Notizbücher, die er seit seiner Jugend mit Gedanken füllte. Er glaubte nicht, dass es ein Zufall war, dass so ziemlich alle Geistesgrößen, die er verehrte, nahezu alle Schriftsteller, die ihm mehr als nur gleichgültig und somit Trost waren, geraucht hatten. Es gab eine bestimmte geheime Geschmacksübereinkunft der Freigeister und er dachte, dass starker Kaffee, Tabak und Wein ausreichten, um einen beträchtlichen Teil der gesamten Intelligenzija, die dieser Planet hervorgebracht hatte bei Laune zu halten. Er lächelte bei diesem Gedanken, so wie er in der letzten Zeit oft vor sich hin lächelte, seit das Unsägliche passiert war und es niemanden mehr gab, der mit ihm lachen konnte. Dann entzündete er die Zigarette. Der Abschluss des ersten Kapitels war für ihn immer ein Moment der Reflexion, ein Moment in dem er über das nachdachte, was er geschrieben hatte, die fremden Assoziationsketten zu eigenen machte und in einigem Abstand dem Pfad folgte, den der Protagonist beschritten hatte. Es war immer ein feierlicher Moment, die literarische Version einer Taufe, aber auch ein Moment der Prüfung, in dem er Ideen verwarf, veränderte oder ergänzte. Oft genug hatte er ein Manuskript abgebrochen, auch schon früher, vor jener Zeit, dann, im letzten Jahr, hatte er immer wieder alles abgebrochen, weil es ihm falsch und verlogen erschienen war. Dieses erste Kapitel jedoch erschreckte ihn, während er es gleichzeitig bewunderte. Während seine Notizbücher sonst oft ein Sammelsurium von Querverweisen, Einschüben und Streichungen waren, erschien ihm dieser Text wie aus einem Guss, in sich geschlossen und wahr, ungefähr das, was Schiller gemeint hatte, als er schrieb, dass ein Drama nur die Blüte eines einzigen Sommers sein durfte. Er fand nichts, das sich ergänzen oder verändern ließe, ja er spürte sogar, dass das ganze Gebilde in sich zusammenfallen würde, wenn er nur ein Wort veränderte. Eine Flut von bösen Bildern, dazwischen ein gebeugter Mensch auf der Flucht, eine Figur, zu der kein Gesicht passte. Schemenhaft sah er diese Gestalt durch eine verbrannte und geschändete Landschaft ziehen, feinmaschig hatte er die Verzweiflung mit der Welt verwoben, dann: der Ohrensessel und die beiden Leichen. Er dachte, dass dies der beste Anfang war, den er jemals geschrieben hatte, dass dieser Text im wahrsten Sinne des Wortes klassisch, dass er zeitlos war.
Trotzdem war dort auch ein anderes Gefühl, eine Art Bestürzung, vielleicht ein Hauch von Angst, den er sich nicht erklären konnte. Es war nicht die Grausamkeit jener Welt, die er erschaffen hatte, er hatte unzählige grausame Welten erschaffen, Figuren leiden und sterben lassen, es war etwas anderes, ein tiefer gehendes Gefühl, er fühlte das da etwas Fremdes im Text war, das er nicht kannte, doch so aufmerksam er auch jeden Satz las, er konnte es nicht bestimmen. Jeder Satz war genau so, wie er ihn wieder schreiben würde, es war etwas, das zwischen, vielleicht hinter den Worten lag. Der Ohrensessel, die erfrorenen Leichen, der schemenhafte Protagonist. Es war der Protagonist, der ihm fremd war. Wenn er einen Text geschrieben hatte, war er zumeist immer von dem Protagonisten ausgegangen, jeder erste Satz stand in Bezug zum Protagonisten, selbst, wenn er nichts als eine Landschaftsbeschreibung war.
Der Charakter war immer präsent, selbst wenn der Autor ihn schweigen ließ. Eine Romanfigur war eine fluide Masse, die in den Händen des Autors fortwährend neue Konturen bekam, wie eine getöpferte Vase, die sich bei jeder Umdrehung ein Stück verformt, und genau hier lag das Problem, dass sich so schwer in Worte fassen ließ. Das Wichtigste beim Töpfern war das fertige Bild, das im Kopf des Töpfers bereits existierte und nur noch in das leblose Material transferiert werden muss, die Vorstellung was einmal aus diesem Lehmklumpen werden würde, wie jenes berühmte Sinnbild, jenem berühmten Quaderblock, in dem die Statue in all ihrer Schönheit bereits existiert und nur noch aus dem Marmor befreit werden muss. Ebenso war es für ihm mit dem Schreiben. Er selbst lernte seine Figuren nur allmählich kennen, doch er hatte gewissermaßen ein bestimmtes Ideal von ihnen, zu dem er sie hinführte. Wie beim Töpfern konnte sich diese Vorstellung im kreativen Prozess verändern, doch sie war eine Voraussetzung, weil – und hiervon war er überzeugt – ohne Ziel jede Handlung sinnlos ist. Der Protagonist durfte nicht schemenhaft sein, und noch niemals war es vorgekommen, dass er sich kein Bild seiner eigenen Figur machen konnte. Die erschreckende Konsequenz eines solchen Zustandes war die Frage: Wenn er diesen Protagonisten nicht kannte, der von einer Sekunde auf die andere König geworden war, dann hatte er ihn auch nicht erdacht, erschaffen und wenn er es nicht gewesen war, wer war es dann gewesen? Wieder versuchte er sich die Gestalt ins Gedächtnis zu rufen, die keinen Namen hatte, glitt im Geist über den Flüchtlingszug, sah all die ausgemergelten Körper, die wie Ameisen eine Straße gebildet hatten und die wie Ameisen ihr Hab und Gut einer ungewissen Zukunft entgegentrugen. Jedes dieser Gesichter war greifbar, variierbar, formbar. Er sah dieser traurigen Schar verbitterter Gestalten an, dass er sie geschaffen hatte, sie waren seine Produkte, seine Kinder, um für einen kurzen Moment die Aufmerksamkeit des Lesers zu fesseln, eine unbestimmt große Zahl von knöchrigen Gestalten, die nur den Hintergrund bildeten, die auf ewig marschierten und litten, manchmal über die Leitplanke stiegen, um zu sterben. Dann dachte er an den namenlosen neuen König und konnte ihn nicht sehen, konnte ihn nicht erkennen. Hoch oben saß dieser am Straßenrand, saß in dem Ohrensessel, der zum Thron geworden war. Die Sonne stand genau über ihm, blendete die Augen und machte ihn zu einem majestätischen Schatten, umgeben von einer blendenden, majestätisch-gold glänzenden Corona. Das Auge konnte ihn nicht fassen, seine Gedanken glitten immer wieder von ihm ab. Zornig betrachtete er ihn und hatte für einen kurzen Moment das Gefühl, dass dieser zurückblickte. Eine Weile betrachteten sie sich, ohne einander zu erkennen, dann riss der Faden und er dachte, dass dies Einbildung und eine Folge des trockenen Rotweins sein musste, den er bereits bis zur Hälfte geleert hatte. Er entzündete sich eine weitere Zigarette, dachte dass es merkwürdig, aber mitnichten unerklärbar war. Er hatte ja auch gerade erst begonnen zu schreiben, sich eben mehr der Welt als dem Charakter gewidmet, der so plötzlich und unverhofft in der Geschichte aufgetaucht war. Unbewusst hatte er bereits wieder den Bleistift ergriffen, dachte noch, dass es bald an der Zeit wäre einen neuen Kaffee aufzusetzen, dann schrieb er weiter, vergaß den Kaffee, die qualmende Zigarette, vergaß seine Zweifel.
„Es war eine bunte Parade, die dort zu seinen Ehren an dem neuen König vorbeizog und es war eine Freude zu sehen, wie viele seiner Untertanen sich auf den weiten Weg gemacht hatten, um bei der Krönung anwesend zu sein. Allesamt hatten sie ihre beste Kleidung angelegt, überall sah er festliche Anzüge, wunderschöne, auserlesene Kleider und wenn auch der Staub der Straße recht zäh auf ihren Gesichtern klebte, erzählte dieser doch nur von dem weiten Weg, den sie zurückgelegt hatten, um ihrem neuen König zu huldigen. Alle trugen sie Geschenke und immer wieder legte jemand ein verschnürtes Päckchen oder einen ledernen Koffer hinter die Absperrung. Manche hatten so schwer an ihrem Präsent zu tragen gehabt, dass sie sich direkt neben ihr Paket auf den Grasstreifen legten und in der milden Mittagssonne einschliefen. Jeder hatte etwas dabei, das er ihm schenken wollte, selbst die, denen man ansah, dass sie so gut wie nichts besaßen, brachten eine Gabe dar. Von überall waren sie zusammengekommen und die verschiedenen Gesichter, Haar- und Hautfarben zeigten ihm wie groß und wie vielseitig sein Reich war. Irgendwo im Hintergrund spielte ein unsichtbares Orchester und er wiegte die Hände im Takt, jenem Takt, in dem sie sich alle bewegten, Streicher und Fanfaren, die einander abwechselten, der Rhythmus der Parade, und es musste die Ehrfurcht der Untertanen sein, welche die Gesichter so ernsthaft anspannte, denn es war eine fröhliche Melodie, die von besseren Zeiten erzählte. Immer wieder hob er die Hand, grüßte, segnete, lächelte. Ein weiser König würde er sein und in seinem Reich würde Frieden herrschen, er würde Frieden herrschen und die Menschen würden nicht nur Nachbarn, nein, sie würden Freunde sein. Ungeheurer Reichtum stapelte sich an den Straßenrändern und sowohl die Zahl der Geschenke, als auch die Zahl seiner Untertanen ließen ihn staunen, wie groß sein Reich und mit ihm die neue Verantwortung war. Jubeln sollten sie, doch er empfand auch Freude über ihre Besinnlichkeit. Und über all dem erhob sich strahlend die Mittagssonne und ihre Kraft wärmte seine Glieder. Selbst die Natur huldigte ihm in diesem kostbaren, und damit so schmerzhaft vergänglichen Moment. Überall begrüßten die Tiere des Waldes ihren neuen König und er blickte lächelnd hinunter zu den beiden Dienern, die mit friedlichen Gesichtern neben dem Thron schliefen. Dann beschloss er, dass er sie nicht wecken würde, obwohl sie ihre Pflicht sträflich vernachlässigten. ‚Ihr seid gute Diener’, flüsterte er zärtlich in ihre Richtung, dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder der Parade zu.“
Er hielt inne und las die letzten Sätze noch einmal, lächelte über diesen assoziativen, mit Metaphern und Symbolen überladenen Stil, dachte zurück an die anderen mehr oder weniger erfolgreichen Erzählungen, die er geschrieben hatte und fand in seiner Erinnerung nichts, dass sich mit dem begonnenen Manuskript vergleichen ließ. Dann lächelte er über den neuen König, diesen wahnsinnigen Idealisten, der das Elend um sich herum einfach ignorierte, es schön dachte. Dieser plötzliche Wandel einer Figur, die zuvor noch überhaupt nicht bestimmt worden war, war aus dramaturgischen Gesichtspunkten heraus ungeschickt, doch er schien trotzdem einen Sinn zu beinhalten, auch wenn dieser Sinn noch verborgen war. Auch das war eine neue Erfahrung und es gab noch etwas, das ihn störte. So absonderlich der Gedanke auch war, es war nicht sein eigener Stil, die Worte folgten ihrer eigenen Bestimmung, und wäre er nicht selbst Zeuge der Entstehung gewesen, hätte er diesen Text weit von sich gewiesen, nicht weil er ihm nicht gefiel, nicht weil es nicht seine Worte waren, sondern einfach, weil er fremd war. Er hatte immer klare Strukturen bevorzugt, eine intakte Syntax, Nachvollziehbarkeit der Handlungen seiner Figuren, vor allem hatte er aber immer diesen metaphysischen Glanz gemieden, der alles umstrahlte, was sich in dieser Geschichte dem Rezipienten darbot, jedes Detail, die Straße, die gefroren und zugleich staubig war, die Leitplanke, vorneweg der neue König; alles schien eine eigene symbolhafte Funktion zu besitzen, die er nicht begriff.
Das Schreiben war für ihn immer ein Mysterium gewesen und es auch geblieben, ungeachtet der Tatsache, dass er es seit vielen Jahren immer weiter entwickelt, perfektioniert, wenn nicht gar zu seinem Lebensmittelpunkt, seiner selbst gewählten Bestimmung erhoben hatte. Oft hatte er sich gefragt, wie man etwas beherrschen konnte, das man nicht verstand. Ein befreundeter Kollege, den er privat immer hoch geschätzt, vom künstlerischen Standpunkt aus immer verachtet hatte
– denn das Künstlerdasein bestand zu einem großen Teil aus der Verachtung aller lebenden, der Idealisierung einzelner verstorbener anderer Künstler – hatte einmal einen Satz geschrieben, der ihm immer wieder einfiel, wenn er über das Schreiben nachdachte.
„Es ist wie das Einholen eines Eimers, den der Autor in die verborgenen Tiefen seines imaginären Brunnens hinab lässt, das Einholen des Eimers und der Weg zurück ins Dorf.“,
hatte dieser geschrieben und obwohl dieser Satz in vielerlei Hinsicht zumindest fragwürdig, wenn nicht gar falsch war, traf er doch genau den Punkt. Zunächst einmal wusste der Autor nicht, was dieser Eimer enthielt, den er ans Tageslicht zog, es gab keinen Bauplan für eine gute Geschichte. Es war unmöglich Einfluss darauf zu nehmen, was dort an die Oberfläche kam, und egal wie sehr der Schriftsteller auch die Technik, das Ausbalancieren des Gewichtes, die Schrittfolge auf dem Weg ins Dorf beherrschte, immer war der Autor darauf angewiesen, dass dort unten Wasser war, dass der Brunnen durch geheime Zugänge gespeist wurde. Im letzten halben Jahr, nachdem das Unsägliche passiert war, in der Zeit jener Schreibblockade – er hasste dieses Wort – war der Brunnen auf einmal versiegt, ausgetrocknet gewesen, immer und immer wieder hatte er enttäuscht den leeren Eimer nach oben gezogen, all seine Erfahrung, seine Raffinesse, sein Gefühl für Sprache waren mit einem Mal ohne Bedeutung gewesen, denn es war egal, wie man einen leeren Eimer trug. Er hatte begonnen einige Kurzgeschichten zu schreiben, Gedichte, alte Manuskripte korrigiert und immer wieder darauf gewartet, dass es weiterging, dass sich der Brunnen wieder füllte, Seite um Seite mit Worten voll geschrieben, die er dann zu den lodernden Scheiten in den Kamin geworfen hatte, dann auf einmal jener Abend, der Ohrensessel, die beiden toten Menschen, der neue König. Geistesabwesend wollte er sein Glas füllen und erschrak, als er bemerkte, dass die Flasche bereits leer war. Er dachte kurz darüber nach, dass er sich nicht erinnern konnte, wie er sie geleert hatte, keine Erinnerung, dann stand er auf, um eine neue aus dem Keller zu holen.
Erst als er die Kellertreppe hinab stieg, merkte er, dass er bereits einigermaßen betrunken war. Die vertrauten Wände und Gegenstände hatten sich mit Fremdheit aufgeladen, wichen vor seiner tastenden Hand zurück. Auch das war seltsam, denn normalerweise blieb er immer bei klarem Verstand, wenn er schrieb. Das Verfassen eines Textes war für ihn immer das beste Hausmittel gegen einen Kater gewesen, einfach, weil dort die Strukturen immer klar, dem Wahnsinn des Zufalls entrissen waren. Selbst wenn Inhalte manchmal fremd und nebulös waren, durch die Transferierung in Buchstaben bildeten sie ein System in dem er zuhause war. Es hatte ihn immer ernüchtert, Worte zu schreiben, aneinanderzufügen, Sätze zu verschachteln. Egal wie sich eine Geschichte entwickelte, es waren immer die gleichen Buchstaben, die sich nach klar umrissenen Regeln zusammensetzten. Die Flasche trockener Rotwein war dann zwar mit der Zeit irgendwann Teil des Rituals, Teil des Schreibens geworden, ab und zu ein Schluck zwischen den fließenden Gedanken, aber er war nicht Bukowski und dass er eine ganze Flasche Wein, alleine während eines so kurzen Kapitels getrunken hatte, war lange her, zu lange um sich zu erinnern.
Doch wie lange hatte er überhaupt geschrieben und was war Zeit, wenn man sie nicht fühlte. Vorsichtig tasteten sich seine Füße Stufe für Stufe vorwärts, hinab, während er an den neuen König dachte. Regungslos verharrte er eine Weile vor dem Weinregal, starrte prüfend in die Leere, zögerte, obwohl er immer den gleichen Wein trank, dachte und brütete, entwickelte eine Idee, die noch verborgen wie ein Vulkan unter der Oberfläche brodelte.
Der Gedanke den neuen König zu prüfen war nahe liegend und folgerichtig und kam ihm doch erst als er wieder in dem Ohrensessel saß, der Wein entkorkt, das Glas gefüllt, die Zigarette am brennen war. Eine Figur ließ sich wie ein Mensch am ehesten an ihren Handlungen bewerten und um dem neuen König die Persönlichkeit hinter dem dunklen Schatten zu entreißen, das zu enthüllen, was dieser nicht preisgeben wollte, musste er ihn handeln und damit entscheiden lassen. Er selbst war der Autor dieser Geschichte, er konnte das, was geschah lenken.
Noch während dieses Gedankens griff er nach dem Stift, sah die Entwicklung der Geschichte vor sich, fragte sich, wie sein neuer Charakter reagieren würde. Wieder versank er in dieser grauen Welt und ließ den Stift über das Papier streichen.
„Eine junge Frau trat aus der Reihe hervor und war wunderschön, ging mit gesenktem Haupt auf ihn zu, und wäre er nicht König gewesen, hätte er sich erhoben, um sie willkommen zu heißen.
Noch fühlte er sich unsicher in seiner neuen Rolle und unsicher machte ihn auch diese Frau, deren Bedeutung er ahnte, aber nicht begriff. Obwohl ihm das Gesicht vollkommen fremd war, erinnerte sie ihn an jemanden, erinnerte ihn an etwas, ohne dass er die Erinnerung benennen konnte. Obwohl ihr Blick ernst war, glaubte er dem Gesicht anzusehen, dass es oft gelacht hatte, ein besonderes, ein einzigartiges Lachen, das nun hinter einem Tränenschleier verborgen war. Sie trug etwas in den Händen, das sie in weiße Tücher gewickelt hatte, und ihre Augen wichen seinen suchenden Blicken aus.
„Ich kann es nicht mehr tragen“, flüsterte sie, als sie sich dem neuen König näherte,
und „ich habe keine Hoffnung“, sagte sie, als sie ihn erreicht hatte.
„Ich bin dein König“, antwortete er,
und „ich kann dir helfen.“
„Ich möchte in den Wald gehen, möchte mich in den Klee legen
und vergessen, dass alles mehr, als ein kalter Frühlingsmorgen ist, ich
möchte die Vögel hören, bevor ich einschlafe, nicht den ewigen Tritt der Schuhe
auf das Pflaster, ich möchte frei sein“,
sagte sie,
„aber ich kann ihn nicht mitnehmen.“
Mit zitternden Händen streckte sie ihm das Bündel entgegen.
„Mach dir keine Sorgen“, sagte er und nahm das Kind in seine Arme.
„Er schläft und er wird weiterschlafen, wenn ihr ihn vorsichtig haltet, mein König.
Er wird nicht aufwachen. Er wird ewig träumen.“
Tröstend strich er der Frau mit der Hand durch die Haare,
wollte gar nicht loslassen, wollte sie nach ihrem Namen fragen, dann war sie mit einem Mal
verschwunden. Eine ganze Weile saß er einfach regungslos da, hielt das Kind in seinem Arm und versuchte sich an die Frau zu erinnern, versuchte ihre Erinnerung festzuhalten, dann wurde er müde, irgendwann sank sein Kopf zur Seite und er schlief ein.
Das dritte Kapitel
Während der König schlief, zog die Parade weiter. Mensch um Mensch spuckte die Kurve auf die Straße, Mensch um Mensch verschlang die Straßenkuppe am Horizont. Viele Gesichter blickten hinüber zum neuen König, manch einer neidete ihm seinen Thron, viele fragten sich, was wohl in dem Bündel war, das der schlafende König fest an seine Brust gepresst hatte.
Höher und höher stieg die Sonne und trieb die Schatten in den benachbarten Wald zurück.
Gruppe reihte sich an Gruppe, doch dann wurden es weniger, die Parade neigte sich dem Ende zu. Immer durchlässiger wurde der Menschenstrom, manchmal riss er ganz ab, schließlich waren es nur noch vereinzelte Menschen, die sich aus den unterschiedlichsten Gründen von der Gruppe getrennt hatten, diese aber nicht verlieren wollten. Schließlich war es nur noch ein einzelner alter Mann, der ein verlorenes Bein mit zwei Krücken zu ersetzen versuchte, der den Raum zwischen Kurve und Kuppe bevölkerte. In einem eisernen Rhythmus, bewegte er sich auf die Stelle zu, wo die Steigung zur Senkung wurde, wo die Straße vielleicht abwärts, vielleicht in ein Tal führte, immer wieder zischte es, wenn er die Luft zwischen den Zähnen hervorpresste, immer näher kam er der Kuppe, immer leiser wurde das Zischen, dann fiel er zur Seite, tot, und die Straße war leer, als der Abend dämmerte und das Kind nach seinem Vater zu schreien begann.“
Er hielt inne und dachte über das nach, was er dort geschrieben hatte, dachte, dass es ihn an das Unsägliche erinnerte, dass er immer noch trauerte und dass die Frau vollkommen fehl am Platz war, dass sie nicht in diese Geschichte gehörte. Er wusste, wer sie war, die der neue König nicht kannte, nicht kennen konnte, weil sie ein Teil seiner eigenen Geschichte, ein Teil der Wirklichkeit war. Er entzündete sich eine weitere Zigarette, dachte, dass er zu viel rauchte, dachte, dass er sein eigenes Kind niemals schreien gehört hatte, schrieb dann weiter, um all den traurigen Gedanken auszuweichen.
„Während das Kind in seinen Armen starb, träumte der neue König: Vorsichtig erhob er sich von seinem Thron und behutsam bettete er den kleinen, schweren und kalten Körper neben den schlafenden Dienern. Ratlos schritt er der Prozession hinterher und mit jedem Schritt verlor die Welt um ihn herum ihre Farben. Irgendwann war da nur noch der Mond, bleich und verloren das Licht, das er auf die Erde reflektierte. Irgendwo hinter ihm der Donner der Geschütze, vereinzelte Lichtblitze, welche die Welt immer nur kurz und schemenhaft erhellten.
„Einsamkeit“, dachte er und fragte sich, wo all die Untertanen waren, die doch vor kurzem noch so zahlreich an ihm vorübergezogen waren. „Was ist ein König ohne Untertanen“, dachte er sich, und dann „nichts als ein starrer, faulender Baum, der nur noch nicht vollständig gestorben ist, weil der Tod eine Weile braucht, bis er von den Wurzeln bis in die Krone gekrochen ist.“
Er spürte, dass er Menschen um sich brauchte, gerade jetzt, wo die Traurigkeit ihn behutsam mit einem unsichtbaren Netz umspann, gerade jetzt, wo es immer dunkler wurde und unbekannte Erinnerungen an die Oberfläche krochen, doch da war nur der Mond und so beschloss er ihm zu folgen.
„Sprich mit mir, Mond“, rief er zu der leuchtenden Scheibe empor, doch nur Schweigen war die Antwort und dann kam Wind auf, der die dunklen, schwarzen Wolken übereinander trieb.
Immer dunkler wurde es um ihn herum und weil er weder aus noch ein wusste, ging er immer weiter, kam von der Straße ab und fand sich nach einer Weile in den dichten Wäldern wieder.
„Aus dem Weg, Zweige“, flüsterte er und weil der Wald Teil seines Reiches war, schoben sich die Ranken und Dornen beiseite, um ihren neuen König passieren zu lassen. Lange schritt er so weiter, bis er irgendwann auf die Frau stieß, die ihm das Kind gegeben hatte.
Regungslos lag sie auf einem Blätterbett, wie die Diener schlief auch sie, tief und fest und er blieb eine Weile bei ihr, sprach mit ihrem Leib, doch auch sie antwortete nicht. Er hatte so viele Fragen an sie, Fragen, die immer zahlreicher in seinem Kopf auftauchten, Widersprüche, die er sich nicht erklären konnte.
„Ich will nicht, dass es in meinem Reich so finster ist“, sagte er schließlich und endlich, endlich antwortete die Frau, schläfrig war ihre Stimme, der man anhörte, dass sie nur kurz in den Bereich des Bewusstseins geglitten war: „Es ist immer nur so finster, wie Ihr befehlt, dass es finster ist, mein König“, flüsterte sie, ohne die Lippen zu bewegen und ihre Worte waren Trost. „Ich befehle, dass es Licht wird“, sagte der neue König, doch es blieb dunkel.
„Es ist noch nicht an der Zeit“, flüsterte die Frau, „erst musst du ganz Mensch, ganz König werden“, dann blieb sie still, und ratlos bettete er ihren Kopf eine Weile in seinem Schoß.
Schließlich ging er weiter und er tat es ohne Abschied zu nehmen, weil er irgendwie wusste, dass es ein Traum war und weil man sich in Träumen nie verabschiedete. Schließlich gelangte er an einen Fluss, den er zwar nicht sehen – denn im Wald war die Nacht am dunkelsten –, aber riechen und hören konnte. Von weit oben her, aus den Gipfeln der nahen Berge, suchte sich das Wasser seinen Weg die Hänge hinunter und er befahl ihm innezuhalten, damit er durch die schwarzen Fluten waten konnte. Behutsam hob er sein purpurnes Gewand und schritt durch das stille Wasser. Gerade, als er die Mitte erreicht hatte und sich suchend umblickte, war da eine Stimme, die ihn zu sich rief und auf einer kleinen Insel, genau in der Mitte des Flusses, lag seine vergessene alte Mutter. Der Mond zeigte sein Erbarmen und schob sich für einige Momente zwischen den dunklen Wolken hervor, so dass er sie sehen konnte. „Mutter, ich bin König“, rief er ihr zu, doch sie lachte nur und winkte ihn zu sich. „Du bist so wenig König wie ich Königin bin“, sagte sie, „es gibt nur einen König, den ich kenne und der ist der Krieg, der Krieg ist der König und wir alle sind seine Vasallen.“
„Aber Mutter, siehst du nicht mein Gewand?“, rief der neue König, doch als er an sich hinunterblickte, waren da nur Lumpen, Fetzen und zerschorfte Knie. „Ich sehe dein Gewand“, sagte die Mutter und erst jetzt fiel ihm auf, wie dunkel die Höhlen ihrer Augen waren.
„Mutter, siehst du meine Krone?“, flüsterte er, obwohl er keine Krone trug und wieder lachte die Mutter. Dann dachte er, dass es viel zu kalt war und dass die Mutter frieren musste, die dort ohne Decke an dem schlammigen Ufer lag.
„Ich werde dich hier wegbringen, Mutter“, rief er und fasste ihren knochigen Leib, der eine einzige Entbehrung war. Vorsichtig hob er sie auf seine Schultern, vorsichtig trug er sie durch die dunklen Fluten. Die Mutter schwieg, so als ginge sie dies alles nichts an und er versuchte sein Schluchzen zu unterdrücken, um ihr nicht noch mehr Kummer zu bereiten.
„Ich wollte dich nicht zurücklassen, Mutter“, flüsterte er, „aber ich hatte Angst, solche Angst.“
Immer schwerer wurde ihr Körper und er musste kleine Pausen einlegen, stand immer wieder regungslos im Wasser, das sich noch immer seinem Befehl beugte und den Atem anhielt.
„Mutter, du bist so schwer“, flüsterte er und die Anstrengung machte aus den Worten ein pfeifendes Keuchen. Wieder ging es einen Schritt vorwärts, wieder versuchte er das Gewicht zu verlagern, wieder einen Schritt, dann auf einmal eine Untiefe, Angst, dass sie ihm entglitt, kein Boden unter den Füßen, Panik, Atemnot, Wasser schlucken. Diesmal würde er sie nicht zurücklassen, nicht loslassen, fest umklammerte er das magere Bündel, die Füße tasteten nach dem Boden, keine Worte, keine Luft, dann ließ er sie doch los, überleben wollte er, überleben um jeden Preis, nicht hier in den dunklen Fluten versinken, denn er war König und musste auch an sein Volk denken. Wild strampelnd schoss er an die Oberfläche, schlug und kratzte nach dem Wasser, das vor seinem König zurückwich, an das Ufer waten, dann eiskalte Finger, die sich um seinen Knöchel schlossen, ihn wieder nach unten zogen, und es war so kalt, kälter als der Tod und er trat nach ihr, stieß sie zurück nach unten, schluchzend und schreiend, schrie, dass sie nicht seine Mutter war, nur ein böser Geist, keine Verantwortung, keine Schuld, dann irgendwann kroch er an das Ufer und erwachte.“
Nachdem er diesen Satz geschrieben hatte, stand er auf und ging im Kaminzimmer auf und ab, so wie er es oft in seinem Leben tat, wenn schwierige Entscheidungen ihm Kopfzerbrechen bereiteten. Er dachte, dass die Geschichte sich nicht so entwickelte, wie er es wollte, dass erneut diese Frau, seine Frau aufgetreten war, dass sie dem neuen König geraten hatte, gewissermaßen auf seiner Seite stand. Er dachte, dass er durchaus in den Text eingreifen, ihn in groben Zügen lenken konnte, dass jedoch der tatsächliche Ausgang ungewiss war. Er hatte seine Hände um die Knöchel des neuen Königs geschlossen, hatte ihn hinabziehen, ertränken wollen, doch das Wasser hatte ihn nach oben gehoben, seinem Griff entrissen und ihn ans Ufer getragen. Dann dachte er an seine Mutter und wie erbarmungslos der Tod sie ihm genommen hatte. Von einem Tag auf den anderen war er gezwungen gewesen erwachsen zu sein, er war der Kindheit entwachsen, hatte wachsen müssen, um die Schuld zu verarbeiten, die sein Kindsein überforderte. Die Mutter war für ihn ein Halbgott gewesen, die letzte Instanz, ein sicherer Hafen,
zu dem er immer wieder zurückkehren konnte, um die Erfahrungen seiner Kinderwelt zu verarbeiten. Einzelne Gedankenfetzen verbanden sich, er dachte an den Geruch ihrer Schürze, wenn er den Kopf in ihrem Schoß geborgen hatte, dachte zurück an die Zeit, als er nur rufen musste, wenn er schlecht geschlafen, Albträume gehabt hatte, wenn er sich verletzt hatte oder verletzt worden war. Immer war sie für ihn da gewesen und an jenem Tag, als er erwachsen geworden war, war er nicht für sie dagewesen. Er dachte zurück, war wieder Kind, lag in seinem Jugendbett, Wochenende, schulfrei am nächsten Morgen, dann auf einmal dieses Geräusch, mit dem alles angefangen hatte, ein Geräusch, für das er keine Erklärung gefunden hatte. Etwas war hingefallen, etwas Großes und Schweres, auf den Boden gefallen, doch es hatte anders geklungen als alle Gegenstände die ihm einfielen. Als er nach der Mutter rief, war sie nicht gekommen, die erste bewusste Erinnerung daran, dass sie ihn im Stich gelassen hatte. Er erinnerte sich, wie er in der Dunkelheit auf die Tür gestarrt hatte, jeden Moment erwartet hatte, dass sie kam, ihn beruhigte, das Geräusch erklärte. Sie war nicht gekommen und anstatt die Augen zu schließen und den nächsten Morgen abzuwarten, hatte ihn kalte Panik ergriffen. Der Umstand, dass sie nicht kam, ihm nicht half, war eine Erfahrung, die sich mit nichts vergleichen ließ, unfassbar als würde die Sonne ihren Lauf unterbrechen oder einfach ihre Richtung ändern, unfassbar wie die Zaubertricks, die er in einer Zirkusvorstellung gesehen hatte, aber gleichzeitig voller Ernst und Bedrohung. Er erinnerte sich an die Treppenstufen, die er hinabgestiegen war, den Moment in dem er gesehen hatte, dass Licht unter der Küchentür hervorstrahlte, obwohl es mitten in der Nacht war. Viel zu lange hatte er vor dieser Tür gestanden, nicht gewagt sie zu öffnen, mehrmals ihren Namen gerufen, geweint, dann durch die Tür gehorcht, gewartet, gezittert, gefroren. Dann hatte er die Tür geöffnet.
Der Moment, in dem er seine Mutter entdeckte, war ein furchtbarer Moment gewesen. Da sie sonst meistens neben dem Herd an der Arbeitsplatte stand, wenn er in die Küche gekommen war, hatten seine Augen sie zuerst dort oben zwischen Kacheln und Spülbecken gesucht, große Erleichterung durchströmte ihn, dass sie nicht dort stand, denn er hatte etwas Schlimmes erwartet. Eine Veränderung in ihrem Gesicht, eine dämonische Vampirfratze oder auch nur der Ausdruck von Enttäuschung und Geringschätzung, er hatte gefühlt, dass etwas nicht stimmte, aber die Dimension der Verkehrtheit nicht begriffen. Dann erst sah er sie auf dem Boden und erstarrte. Er hatte seine Mutter noch nie hilflos gesehen, immer hatte sie eine Lösung gewusst, egal wie kompliziert das Problem gewesen war, das er ihr vorgetragen hatte. Nun lag sie mit dem Gesicht nach unten auf dem Küchenboden, atmete heftig, keuchend und doch fast lautlos in den Boden hinein, erstickend und er entdeckte einen kahlen Fleck in der Mitte ihres Kopfes, der ihm noch nie zuvor aufgefallen war. Sie hatte ihre Hände, mit denen sie ihm sonst so oft liebevoll durch die Haare gestrichen hatte, unnatürlich verkrampft, ihr Nachthemd war nach oben gerutscht und ihre dicken weißen Schenkel leuchteten im gnadenlosen Licht der Deckenleuchter. Erstarrt war er, hilflos, überfordert, konnte sie nur betrachten, anstaunen, war wie festgefroren, als sie ihm das Gesicht zugewandt und ihn angeblickt hatte. Bestürzte Augen, die sonst sooft liebevoll gelächelt hatten, wirre nasse Haarsträhnen, der Mund verzerrt, Speichel und Schaum, sie hatte seinen Namen geflüstert, nichts als seinen Namen und er hatte nichts tun können, als sie zu betrachten. Sekunden, Minuten, Jahre, die Zeit war aus der Küche verschwunden gewesen. Irgendwann, nach einem ewigen Moment, war er wieder Herr über seinen Körper gewesen, hatte gedacht, dass er ihr helfen musste, hatte an das Telefon gedacht und dass er keine Nummer kannte, die er hätte wählen können. Dann waren ihm die Nachbarn eingefallen und er hatte losrennen wollen, Hilfe holen, so wie es einmal ein Feuerwehrmann in der Schule erklärt hatte, und gerade in dem Moment, als er sich umdrehte, hatte sie nach seinem Knöchel gefasst, die Hand war eiskalt gewesen, eine Kralle, die ihn eisern festhielt, zu sich hinzog, wieder hatte sie seinen Namen ausgesprochen, hatte ihn zu sich gezogen, festgehalten und an ihre Schürze gedrückt, er erinnerte sich, dass er geschrien hatte, dass sie dort lagen, dass sie ihn nicht losgelassen hatte, als sie gestorben war, dass er die ganze Nacht dort mit ihr gelegen hatte und dass es kalt und immer kälter geworden war.
Er schüttelte den Kopf und riss sich von seinen Gedanken los, überwand in seinem Ohrensessel sitzend eben jene Starre, die er schon einmal als Kind überwunden hatte, suchte eine schöne Erinnerung, versuchte sich das Gesicht der Mutter in aller Deutlichkeit und in aller Liebe vor das geistige Auge zu rufen, doch es gelang nicht. Immer wieder war da nur der Küchenboden, die Kälte, immer wieder, wenn er versuchte sich ihr Gesicht vorzustellen, war sie nichts als ein Gespenst, schemenhaft, fremd, ebenso wie der neue König, den er sich nicht vorstellen konnte, eine einzige Leerstelle, die in den Erinnerungen klaffte. Auf seltsame Weise hatte ihn das Geschriebene vereinnahmt, einen Teil seiner Gedanken blockiert und er dachte, dass er es vielleicht niemals veröffentlichen würde, dass es das Persönlichste war, das er jemals geschrieben hatte, vielleicht eine ganz eigene Art von Selbsttherapie, denn trotz all dem schmerzhaften Staub, den er aufwirbelte, fühlte er sich erstaunlich gut, er schrieb, allein dies war ein Grund zu leben. Tief atmete er durch und beruhigte sich, füllte das leere Glas und beschloss weiterzuschreiben, erst später darüber nachzudenken, weil die Reflexion zwar notwendig aber auch ein Feind des kreativen Prozesses war.
„Der neue König saß auf seinem Thron und dachte“, schrieb er und stockte kurz, dachte selbst an Descartes und dann, dass fiktive Figuren nicht denken konnten, einfach weil sie nicht existierten und dass dieser Satz, sooft er auch gedruckt wurde, eine Lüge war, wenn man den Überlegungen jenes wahrscheinlich größten Denkers seiner Zeit folgte.
„Das Kind lag noch immer in seinem Schoß, schlief so sanft und ruhig, dass nicht einmal sein Atem zu hören war, schlief wie die Diener, während der König nachdachte. Der Traum ließ ihm keine Ruhe, er war etwas Fremdes, etwas Neues, überhaupt der erste Traum, an den er sich erinnern konnte. Er dachte an die Frau, die seine Mutter war und an die er sich nicht erinnern konnte. Nur ihr Gesicht, ihr lächelndes, gutmütiges Gesicht konnte er sich vor Augen rufen, sonst wusste er nichts, wusste nicht woher er stammte, wusste nichts über seine Kindheit, jede Erinnerung begann mit der Straße, dem Ohrensessel und seiner Krönung. Die vage Erinnerung an eine Mutter, der Gedanke einmal Kind gewesen zu sein verwies auf eine ganz andere Welt, war einzigartig und gab ihm eine Geschichte. Sanft wiegte er den kleinen Körper und versuchte sich zu erinnern, doch da war nichts als ein schwarzes Loch, immer wieder Leerstellen, die sich nicht füllen ließen, Abgründe, in die er stürzte, kein Halt fand sich. All dies machte den neuen König traurig, verloren kam er sich vor und selbst die Parade, die nun weiterging, konnte ihn nicht mehr fröhlich stimmen. Kurzentschlossen erhob er sich
und dachte, dass er den Wald besuchen würde, von dem er auf dem Thron geträumt hatte. Das Kind, das in seinen Armen lag, würde er mitnehmen und einen Platz finden, an dem es in Frieden schlafen konnte, ungestört vom Lärm der Parade. Er stieg mit leichtem Schritt über die Leitplanke und bald war er von lebendigem Grün umgeben.
Der Wald, durch den er schritt, war ein friedlicher Wald, keine Dornen und dunkle Ecken, Herbstlaub federte wie ein bunter Teppich den Schritt und die Sonne fand immer wieder Wege, um ihr warmes Licht durch die Regenfurchen in den Eichenrinden hinabsickern zu lassen. Emsige Spechte gaben einander Klopfzeichen und auch die Vögel in den majestätischen Baumkronen begrüßten ihren neuen König. Eine Weile ging er durch diese träumerische Landschaft, dann wichen die Bäume zurück und machten einen kleinen Platz frei, den sie mit ihren mächtigen Körpern beschützten. Der Wind hatte die bunten Herbstblätter sanft übereinander gedrängt und einen weichen Laubhaufen, wie einen Grabhügel auf der Lichtung zusammengeblasen, auf dem der neue König das Kind vorsichtig bettete. Dies war sein Reich und der treusorgende Wald mit all seinen verborgenen Bewohnern würde für das kleine Leben sorgen, das Kind behüten, das sich verträumt die Augen rieb und bald schlafen würde.
Sorgsam bedeckte er den kleinen Körper mit wärmenden Blättern, bis schließlich nur noch das kleine schlafende Gesicht aus dem bunten Herbst hervorschaute.
„Blut von meinem Blut, Fleisch von meinem Fleisch, Saat meiner Gedanken“,
murmelte der neue König, um diesem Moment eine verdiente Feierlichkeit zu verleihen und wieder brachten die Worte eine Erinnerung, an ein anderes Leben, in dem jemand diesen Satz gesagt hatte. Seitdem er König geworden war, waren immer mehr Fragen aufgetreten, die er vorher einfach nicht gekannt, von denen er nichts gewusst hatte. Die Erinnerung begann mit der staubigen Straße, dem Gedanken an den Tod, dann: der Ohrensessel, das Gefühl von Heimat, seitdem: Erinnerungsfetzen wie Lichtblitze aus einer Zeit, die vor dem Ohrensessel, vor der Straße lagen. Eine Vergangenheit a posteriori, der Wunsch nach Assimilation. Der Traum von der Mutter war ein vorläufiger Höhepunkt der seltsamen Gedanken gewesen, nach denen er fortwährend suchte und die doch nur unverhofft, ohne sein Zutun auftauchten. Sie unterlagen nicht seiner Macht und das bedeutete, dass sie nicht Teil des Reiches waren, das er als König sein Eigen nannte.
Er dachte, dass er selbst, die Frau, die Mutter, das Kind, allesamt Verstoßene, Vertriebene und aus einem fremden Reich verbannt worden waren, in dem ein Anderer regierte und er beschloss mit seinen Untertanen zu sprechen und sie über dieses Reich zu befragen, aus dem auch sie geflohen waren.
Ein letzter Blick galt dem Kind, das sich zur Seite gedreht und tiefer in das Laub gegraben hatte, dann ging er zurück zur Straße, zurück zu seinem Thron. Er weckte seine Diener, die nun lang genug geschlafen hatten, dann befahl er der Parade zu halten und trat hinunter auf die Straße. Mit dem gebotenen Ernst schritt er ihre Reihen ab, blickte vielen tief in die Augen, klopfte manche Schulter, dann bildeten sie einen Kreis, um ihrem neuen König ihre Geschichte zu erzählen, näher rückten sie zusammen und während sie sprachen, der neue König wieder auf seinem Thron saß und ihnen zuhörte, wurde sein Gesicht ernster und sorgenvoller.“
Obwohl er, wenn er schrieb, in einen unbewussten, träumerischen Zustand entglitt, war da doch ein Teil von ihm, der stets kritisch und streng die Entstehung des Textes überwachte, eine Art innerer Zensor, der oft genug einschritt und die Assoziationskette sprengte, der strenger und unerbittlicher war als die wirklichen Rezensenten, die oft genug seine Stücke angegriffen, manche – er hasste dieses Wort – verrissen hatten.
Der innere Rezensent, der Impuls einen Text und das Blatt auf dem er geschrieben war zusammenzuknüllen, dieses zeitlose Motiv zahlreicher Liebesgeschichten und begonnener Liebesbriefe, die Versuchung, den gescheiterten Versuch ungeschehen machen, der Affekt, der dafür verantwortlich war, ein Wort, einen Satz – oftmals mehrfach – durchzustreichen, Texte zu zerreißen und die zerrissenen Phrasen dem Feuer zu übergeben. Dieser innere Zensor, war mit jeder Zeile unwilliger geworden, seine Schrift war krakelig, nahezu unleserlich geworden. Mit wachsender Panik hatte er bemerkt, dass er nicht aufhören konnte zu schreiben, dass seine Hand einem fremden Willen folgte und immer schneller Buchstabe um Buchstabe in sein Notizbuch zeichnete, am Rand immer nur kurz verharrte und dann entschlossen in die nächste Zeile sprang. Hilflos musste er zusehen, wie sich die Seiten füllten, wie die Hand umblätterte, und ein Teil von ihm dachte, dass er wahnsinnig geworden war. Mehr und mehr wurde er aus der Geschichte zurückgedrängt, er hörte die Flüchtlinge flüstern, verstand aber nicht, was sie sagten, immer mehr verblasste das Bild, farblos scharten sie sich um ihren neuen König, die Geschichte entfernte sich immer mehr von ihm, was dazu führte, dass er immer rationaler und klarer über seinen Zustand nachdenken konnte. Zunächst hatte er gedacht, dass diese „Schreibattacke“ wohl so etwas wie eine Art Anfall war, eine Flut der Kontrolllosigkeit, auf die jeden Moment wieder die Ebbe, die Kontrolle folgen würde, ein seltsamer Akt des Wahnsinns, der wie ein Krampf, oder ein schlechtes Gewissen vorübergehen und dann vergessen sein würde.
bis hierhin
Er würde sich im Ohrensessel wiederfinden, dieses seltsame Geschehen dem Alkohol und der späten Stunde zuschreiben, sein normales Leben weiterführen, so dachte er und er dachte es eine Weile lang, wartete auf den ersehnten Moment der Kontrolle, bis er begriff, dass sein Gedanke falsch war. Er erinnerte sich an jugendliche Drogenerfahrungen, halluzinogene Substanzen, sich selbst zitternd in einer Ecke an einem bedrohlich fremden Ort, schwitzen und der Wunsch, dass es einfach vorbei wäre, der Gedanke es niemals wieder zu tun, wenn es nur vorbeiginge, gleichzeitig das Wissen, dass er keine Kontrolle hatte, dass fremde biochemische Prozesse seinen Körper lenkten, dass das Gehirn nicht das dachte, was es denken sollte. Er begriff in diesem Moment im Ohrensessel, dass seine Hand immer weiter schreiben würde, wenn er sie nicht zwang aufzuhören, dass es nicht einfach vorbeigehen würde, dann der schlimmste Gedanke, dass es niemals vorbei sein würde. Er erkannte jenen Prüfstein, jene plötzliche Erkenntnis, dass er jetzt, in diesem Moment, etwas tun musste, dass es ansonsten vielleicht zu spät war. Am allerschlimmsten aber war der Gedanke, dass er sich nicht einmal sicher war, dass es aufhören sollte, denn da war auch jene Spannung, er wollte näher an den Kreis heran, wollte verstehen, was die Figuren sagten, die Frage, wie es weitergehen, was geschehen würde, spürte, dass das, was gesagt wurde wichtig war, sie flüsterten, weil sie nicht wollten, dass er sie verstand, weil sie von ihm wussten und dann fand er den Gedanken, der seine Rettung wurde, der ihm ein Stück Kraft und Macht zurückgab. Er hatte sich bislang als Mensch angegriffen gefühlt, als Privatperson, die Schlimmes erlebt hatte und die nun auf eine unerklärliche Weise zusammenbrach unter der Last der Erinnerung und – nur in diesem Moment gestand er es sich ein – fortwährendem, teils exzessivem Alkoholkonsums. Erbärmlich war er sich vorgekommen, hilflos, doch der neue Gedanke veränderte die Situation. Er fühlte sich als Schriftsteller angegriffen und das war etwas anderes, denn das war ein Bereich, in dem er sich trotz aller Rückschläge und Enttäuschungen nicht angreifen ließ und erst recht nicht von einem Haufen fiktiver Flüchtlinge, die sich gegen ihren Autor verbündet hatten. Empört war er und dabei zornig und vor allem entrüstet über das, was sich diese unsägliche Figur herausgenommen hatte. Nichts konnte seinen Stolz härter treffen, als wenn der eigene Protagonist rebellierte und sich seinem Willen widersetzte, sich ohne Sinn, Verstand oder Zusammenhang selbst krönte und den Gang seiner Geschichte eigenmächtig veränderte. Er ballte alle diese Gefühle in einen einzigen freien Atemzug, gewann für einen kurzen Moment wieder die Gewalt über seine missbrauchte und entmündigte Hand, schleuderte den Stift mit aller aufgestauten Wut gegen die Wand, wo er zerbrach und in zwei Teilen unschuldig auf den Boden fiel. Sofort war der geheime Bann gebrochen, verschwunden, doch es dauerte einige Minuten, bis er seiner Hand wieder vertraute und wie zur Probe das Glas ergriff und einen Schluck von dem trockenen Rotwein nahm. Mit zitternden Fingern entzündete er sich eine Zigarette, stieß das Manuskript beiseite und trat hinaus in den Garten, wo ein kühler Luftzug ihn ein wenig beruhigte und langsam, Stück für Stück, den Schrecken von ihm nahm. Er stand dort einige Minuten und atmete in kontrollierten und vollen Zügen, während er in die Dunkelheit des Gartens starrte.
Wie so oft, wenn er an diesem Platz seine Gedanken ordnete, den einen Fuß auf der Terrasse, den anderen, wie zur Prüfung, bereits auf dem lange nicht mehr gemähten Rasen, hatte er das Gefühl beobachtet zu werden. Wie so oft horchte er in die Dunkelheit, doch da war nur der Wind in den herumwirbelnden Zweigen. Trotzdem glaubte er immer wieder Blicke aus dem Verborgenen zu spüren, feindselige Blicke, hinter denen sich ein feindlicher Verstand verbarg.
Da er noch nicht müde war und sein Herz ohnehin zu schnell schlug, um einfach schlafen zu gehen, ging er nach einer Weile wieder zurück ins Haus, beschloss sich an diesem Abend nicht mehr mit dem neuen König auseinanderzusetzen, schaltete nach einem kurzen Seitenblick auf die Uhr den Fernseher ein, da um diese Zeit – es war gegen vier Uhr in der Früh – eine jener Kultursendungen wiederholt wurde, die er seit vielen Jahren immer wieder gesehen hatte. Am liebsten mochte er jene alten Buchbesprechungen – obwohl es ein Wort war, dass er hasste –, die zumeist blasse Aufzeichnungen von Aufzeichnungen aus den 70er Jahren waren. Es war weniger Nostalgie als vielmehr eine Art von stummer Rebellion, mit der er die aktuellen, postmodernen Literatursendungen boykottierte, die ohnehin nicht für Menschen wie ihn konzipiert waren. Er war davon überzeugt, dass ebenso wie die verschwindend geringe Zahl von lebenden Intellektuellen mit ihrer Freizeit nicht besseres anzufangen wussten, als sich über Talkshowgäste, Popsternchen und kollektive Selbstdemütigung zu belustigen, Nacht für Nacht das Prekariat
– ein Wort, dass er mochte – seine Fernsehgeräte einschaltete, um in den neuen, postmodernen „Literatursendungen“ einen sanften, monotonen Weg in den Schlaf zu finden, oder um über fremdartige Scheingelehrte und noch viel fremdartigere Wörter wie „Konglomerat“ oder „Disposition“ zu lachen. Staunend hatte er miterlebt, wie diese beiden Genres – Bildung und Verdummung – munter an ihren Zielgruppen vorbeiproduziert wurden, indem die Fehler der einen Senders die Fehler der anderen ausglichen, irgendwie aufhoben. Das Problem war für ihn dort entstanden, wo es in den letzten Jahren wohl Umstrukturierungen und Neubesetzungen in den Chefetagen der öffentlich rechtlichen Sendeanstalten gegeben hatte. Die totale Ignoranz der eigentlichen Zielgruppe war wohl aufgeflogen und ein neuer, wahrscheinlich junger und dynamischer, zumindest innovationsfreudiger Chef hatte versucht die Kultursendungen zu popularisieren. Nicht nur die karge Einrichtung der Studios (oft nicht mehr als ein Tisch und zwei Stühle) war auf einen Schlag bunt und voller Geheimnisse gewesen, man hatte eine wahre Reform durchgeführt, man hatte das Programm verändert. Analysten hatten wohl erkannt, dass es hauptsächlich die staubtrockene Authentizität der bebrillten, bärtigen und oftmals karierten Relikte des Bildungsbürgertums, sowie ihren oftmals fülligen, ebenso bebrillten – denn die Brille war das Geheimzeichen der Intellektuellen – und mit dicken Perlen behangenen weiblichen Pendants waren, welche den einen oder anderen betrunkenen Partyheimkehrer vor dem Bildschirm gehalten hatte.
Manch einer hatte wohl in diesen pseudointellektuellen Karikaturen vergangener Ernsthaftigkeit einen verstorbenen Vater, einen gelehrten Onkel erkannt, Redewendungen hatten auf diese Weise überlebt, doch nun, dachte er auf dem Ohrensessel, hatte sich das Fernsehen selbst betrogen. Vielleicht war es auch den Programmdirektoren zu unheimlich geworden, ihre Darsteller über Bücher sprechen zu lassen, die sie selbst nicht und auch keiner der Zuschauer kannte, und die zudem weder sie, noch die Mehrzahl der Zuschauer interessierten, vielleicht war es der schwindende Enthusiasmus der Darsteller – denn allesamt waren sie nichts als Darsteller – gewesen, wenn Worte wie „Introspektive“ oder „Onomatopoeia“ über den Äther gegangen waren, Hilflosigkeit in diesen gelehrten Gesichtern, wenn sie beispielsweise innerhalb von 60 Minuten James Joyce und sein wahnsinniges Buch einem unwissenden Publikum erklären sollten. Die Auswahl der Bücher war verändert worden. Nicht mehr, was man lesen sollte, sondern was man las, stand nun auf dem Programm. Selbst Ortega y Gasset hätte gestaunt, wie leicht und dreist die Masse jenen winzigen Winkel des Intellekts im Fernsehen usurpiert hatte. Wozu braucht der moderne Mensch auch Tolstoi, dachte er sich auf dem Ohrensessel, wenn sich die russische Geschichte viel anschaulicher mit bunten Kostümen und ernst dreinblickenden Statisten verdeutlichen ließ, wo lag der Reiz Kafkas, wenn es genug „Realityshows“ und „Reportagen“ gab, bei denen die verzweifelten Bürger mit der Kamera zum Arbeitsamt begleitet wurden. War die europäische Subventionspolitik nicht „kafkaesker“ – ein Wort, das er hasste –
als jede noch so nachdenkliche Erzählung dieses dauerhaft traurigen Autors, dessen tiefgründiger Humor für die meisten nicht mehr nachvollziehbar schien. Da Fiktion und Realität in der Gesellschaft ohnehin immer mehr miteinander verschwammen, war zudem auch der einstige Unterschied zwischen Sachbuch und Roman verschwunden. So sprachen die sogenannten Literaturexperten neuerdings über nichtige Biographien, die allesamt der Feder des gleichen
– hier ungenannten – Ghostwriters entstammten, sprachen über „historische“ Romane, die so viel mit Literatur zu tun hatten, wie das gleicherweise geistlose Malen nach Zahlen mit der Malerei. Anstelle von elliptischen Satzkonstruktionen, Intersubjektivität oder Chiasmen sprach man nun über Geistliche und Huren, Verschwörungstheorien und postmoderne Nachkriegsliteratur, die sich zunehmender Beliebtheit erfreute. Überall wurden dem Zuschauer „historische Persönlichkeiten“ oder „persönliche Geschichten“ geboten. Der Fehler war wohl gewesen, dass man in diesem Innovationsschub davor zurückgeschreckt war, die altgedienten „Literaturkritiker“ auszutauschen, die beharrlichen Satzverschachteler durch junge und würdelose Allerweltsgesichter zu ersetzen oder zumindest diese unsterblichen Rentner über ihre harlekinhafte Funktion aufzuklären. Niemand hatte ihnen gesagt, dass egal war, was und wichtig nur, wie sie es sagten, um einen Schein von Gelehrsamkeit zu erhalten. Dies hatte dazu geführt, dass diese weltfremden Idealisten mit Ferienhaus im warmen Süden und temperiertem Weinkeller das einzige getan hatten, was es ihnen erlaubte zumindest einen kleinen Rest ihres eingebildeten Stolzes zu bewahren: Sie kritisierten, sie verrissen, sie vernichteten und weil diese neue Aufgabe einfacher war als die alte, weil die Vernichtung eines dieser Werk alle anderen vernichtete, waren aus den alten Literatursendungen, die er gerne und häufig gesehen hatte, Literaturvernichtungssendungen geworden, denen es gerade durch diese unausgesetzte Vernichtung gelang, dass die Verkaufszahlen der vernichteten und gleichzeitig nichtigen Bücher in die Höhe schossen. Je heftiger und leidenschaftlicher ein Buch vernichtet wurde, je größer die Abscheu war, mit der es zwischen den Fingerspitzen in die Kamera gehalten wurde, desto tiefer haftete es in den berauschten Köpfen vor der flimmernden Mattscheibe und wurde so in einem hinteren Teil des Gehirns als potentielles Geschenk für eine potentielle Feierlichkeit gespeichert, dachte er auf dem Ohrensessel, während er mit trägem Verstand den Ausführungen eines langhaarigen Intellektuellen folgte, der vor etwa 30 Jahren über Sartre gesprochen hatte.
Der Punkt, den er nicht verstand, aber war die Verlogenheit, mit der die Gesellschaft weiterhin die Geburts- und Todestage dieser nun geschmähten Freigeister zelebrierte, die mit einer solchen Verzweiflung gegen die herrschende Kultur angeschrieben hatten. Nun waren sie Staubfänger geworden, mehr Statussymbol als Buch, und obwohl die Druckerpressen mit jedem Tag noch buntere, noch vollständigere Gesamtausgaben herausgaben, assoziierten die meisten Menschen Nietzsche wohl eher mit Syphilis und Geisteskrankheit als mit den Unzeitgemäßen Betrachtungen, Schiller eher mit den jugend- und mangelhaften Räubern als mit den durchdachten und konsequenten ästhetischen Briefen oder dem Wallenstein.
Eine ganze Weile noch erging er sich so in einsamer und mehr und mehr melancholischer Kulturkritik, während hinter den Fenstern die Sonne sich zu einem neuen Tag erhob und er schließlich den Fernseher ausschaltete. Es lag eine tiefe Wahrheit in diesem auf den ersten Blick so plumpen Wort Fernseher, einfach, weil Menschen immer in die Ferne sahen, wenn es nichts in ihrer unmittelbaren Umgebung gab, das der Betrachtung würdig erschien. Seitdem das Unsägliche passiert war, verließ er nicht mehr so häufig das Haus und wenn doch, dann wortlos und mit einem konkreten Ziel. Der Fernseher, so schlimm dieser Gedanke auch war, bildete die einzige Verbindung zu den anderen Menschen und dem, was nach demokratischer Mehrheitsmeinung als Realität bezeichnet wurde. Lacan hätte sich wohl bestätigt gefühlt, wenn er gesehen hätte, wie erbärmlich und abhängig er sich in solchen Momenten an die spiegelnde Mattscheibe klammerte, die für die Realität bürgte, auch wenn sie zumeist nichts als Antipathie und Abscheu hervorrief. Immer wenn er die Darsteller betrachtete, die so anders, so unwirklich die Wirklichkeit repräsentierten, fühlte er sich selbst bestätigt, gestärkt, denn es war etwas anderes in einer eingebildeten Revolution gegen den Strom zu schwimmen, als in der tatsächlichen Einsamkeit und Abgeschiedenheit auf der Stelle zu treten.
Dann, als er sich gerade aufraffen und ins Bett gehen wollte, dachte er an Gérard, der nicht nur sein Verleger, sondern auch sein bester Freund war. Die Freundschaft zu ihm war wohl so etwas, was man als „Freundschaft fürs Leben“ bezeichnete. Zu allen anderen, die ihm einmal etwas bedeutet hatten, war der Kontakt abgerissen. Anders als all die anderen, die er einmal seine Freunde genannt hatte und die sich in den Jahren über Land, Welt, Beziehungen und Verpflichtungen verteilt hatten, lebte er selbst noch immer an genau dem Ort, an dem er geboren worden war, und so war er für viele der Zugang zu einer verklärten und idealisierten Vergangenheit geworden. „Dieses Haus atmet den Geist unserer Jugend“, hatte einmal ein Freund gesagt, der zu jener Zeit hauptsächlich romantische Gedichte geschrieben hatte. „Dieser Ort ist wie eine Insel im Strom der Zeit“, hatte Gérard gesagt, der oftmals die richtigen Worte fand. Als er aber dann Luisa kennengelernt hatte waren auch Veränderungen an diesem bis dahin heiligen Ort vor sich gegangen, beispielsweise ihr Rattansessel, der seinem Ohrensessel gegenüberstand und zu nichts anderem in der Wohnung passte. Wie ein Wirbelwind war sie in sein Leben getreten, voller Energie und dem Willen zur Veränderung. Es war die Zeit gewesen, in der er schmerzhaft begriffen hatte, dass er für die anderen nichts als ein Stück Nostalgie, schon lange nicht mehr Freund gewesen war, so leichtfertig dieses Wort in der heutigen Zeit auch verwendet wurde. Sein Kaminzimmer war ihnen nichts als der sichere Hafen gewesen, in dem man ausruhen und von den Erinnerungen zehren konnte, missbraucht hatte er sich gefühlt und selbst Gérard in dieser Zeit seltener gesehen. „Eine Insel im Strom der Zeit“, hatte dieser sogar mehrmals, ritualhaft, gesagt, wenn sie gemeinsam im Kaminzimmer gesessen hatten, den Blick schweifend zwischen verstaubten Postern, die ewig gleichen Bücher griffbereit in dem kleinen Regal, um in den ewig gleichen Diskussionen die eigene Argumentation zu belegen. Luisa hatte diese Welt verändert und erst jetzt, im Nachhinein, begriff er, dass sie es für sie beide getan hatte. Er hatte ihr versprochen, dass sie sich in ihr neues, gemeinsames Zuhause mit einbringen durfte, dass Veränderungen möglich waren. Nur unter dieser Bedingung hatte sie ihren Traum von einer gänzlich neuen Wohnung aufgegeben, war ihm in das Haus gefolgt, in dem seine Mutter auf dem Küchenfußboden gestorben war. Oft war es zum Streit gekommen, wenn sie dieses Recht einforderte und Bilder, Bücher und Möbelstücke von ihrem Platz entfernt hatte. Erst nachdem das Unsägliche passiert war, war auch der Kontakt zu Gérard wieder intensiver geworden und hatte sich über die gemeinsame Arbeit hinaus erstreckt. Obwohl sie ihm beide immer versichert hatten, dass sie einander mochten, waren sie einander aus dem Weg gegangen, die einzigen Menschen, die ihm etwas bedeutet hatten, waren inkompatibel gewesen.
Er beschloss, dass er Gérard einladen würde, nicht nur, weil er seinen Rat schätzte, sondern auch, weil es ihm nach einem Menschen verlangte, weil es nicht stimmte, was dieser sarkastische Therapeut ihm damals gesagt hatte. Einsamkeit verschwindet nicht einfach, wenn man sich mit Menschen umgibt, dachte er, man übersah nur wie sie wuchs, bis sie irgendwann ein Abgrund war, über den man nicht mehr hinauskam.
Das vierte Kapitel
„Das ist nicht dein Ernst“, sagte Gérard, der nicht nur sein Verleger, sondern auch sein bester Freund war. „Das kannst du nicht machen, du musst es weiterschreiben.“
Ratlos saß er in seinem Ohrensessel und dachte, dass er Gérard alles sagen musste, damit dieser ihn verstand, dachte dann, dass Gérard ihn niemals verstehen würde, verstehen konnte.
„Ich fühle mich bei diesem Text nicht wohl“, sagte er und deutete mit ausgestreckter Hand auf das begonnene Manuskript, das zwischen ihnen auf dem Tisch lag und aus dem er Gérard vorgelesen hatte.
„Du weißt, dass ich sonst sehr sparsam mit Superlativen bin, ich war immer ehrlich zu dir, aber es ist wirklich und das sage ich auch als dein Freund, es ist mit Abstand das Beste, was du je geschrieben hast.“
Er betrachtete seinen Freund, ärgerte sich über dessen Einschätzung, obwohl es auch die seinige war. So sehr ihn der Text und der gestrige Abend auch erschreckten, er mochte die traurige, rätselhafte Grundstimmung und er dachte, dass die Geschichte durch jenen geheimnisvollen Sog, der ihn als Leser wie als Autor bei der Lektüre immer wieder ergriff, auch in marktwirtschaftlicher Hinsicht das erfolgreichste seiner Bücher sein würde, wenn er es denn zu einem Ende brachte.
„Es ist wirklich anders als alles andere, was ich geschrieben habe, aber ich würde nicht sagen, dass es darum unbedingt besser ist“, belog er Gérard, der nicht nur sein Verleger, sondern zugleich auch sein bester Freund war. Es stimmte einfach nicht, er hatte gute Bücher geschrieben, ebenso wie er schlechte Bücher geschrieben hatte, aber dieses Manuskript war etwas gänzlich anderes. Es verwunderte und erschreckte ihn zugleich, so wie wohl die ersten Farbfilme die Zuschauer verwundert und erschreckt hatten, es war etwas vollkommen Neues und er wusste, dass er niemals wieder ein solches Buch schreiben konnte. Er konnte nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, was es war, bestimmt nicht die Thematik, denn die war nicht neu, bestimmt auch nicht seine Metaphorik, aber es herrschte eine verborgene Symmetrie hinter den Zeilen, alles fügte sich zusammen, wie durch ein geheimnisvolles Band verbunden, selbst wenn man nach dramaturgischen Gesichtspunkten keine klare Linie, keinen roten Faden fand – eine dieser Phrasen, die er hasste – , dann fiel ihm ein, dass er nicht alleine war, dass Gérard ihm gegenübersaß, der nicht nur sein Verleger, sondern sein einziger und bester Freund war. „Ich kann das nicht richtig in Worte fassen“, sagte er, „ich kann es nicht erklären, etwas stimmt nicht, aber…“
„Du willst mir doch nicht erklären, dass du vor deiner eigenen Geschichte Angst hast“, unterbrach ihn Gérard lachend, der nicht den Ernst der Lage begriffen hatte, nicht begreifen konnte, weil er seinen einzigen Freund konsequent belog.
Er ging nicht auf diese Bemerkung ein, ignorierte sie, ließ sie unbeantwortet zwischen ihnen in der Luft schweben, wo sie eine unsichtbare Mauer bildete, an der seine Gefühle abprallten.
„Es ist der Charakter deines Helden“, sagte Gérard, „dieser Überlebenswille, der allein es vermag eine feindliche Welt zu verwandeln, sie schön zu machen, die Graswurzel, die den Asphalt sprengt.“ Gérards Augen glänzten, er war überzeugt von dem, was er sagte, bemerkte nicht seinen stummen Widerwillen, während er dachte, dass er tatsächlich Angst vor seiner eigenen Geschichte hatte.
„Dein Held ist die Personifizierung von Willensstärke und Entschlossenheit in einer wankelmütigen Zeit“, sagte Gérard, der gerne seine sozialkritische und oftmals revolutionäre Meinung in das Gespräch einbrachte. „Der Gedanke die Welt zu verändern, so inständig an diese Veränderung zu glauben, dass sie stärker als die Realität wird, diese Vision begeistert, dein Held…“
„Ich finde nicht, dass er ein Held ist, das ist das Problem“, unterbrach er Gérard, „er war nie als Held gedacht, ich wollte keinen Helden in dieser Geschichte, keinen Helden, lediglich leidende Zeugen einer zerstörten Welt, jemand, der einen Teil dieses Wahnsinns in sich aufnimmt und glaubt, er wäre König. Ich habe nie gewollt, dass er wirklich König wird, Gérard, ich habe das nicht gewollt, es ist passiert, diese ganze Geschichte passiert einfach.“
Er trank einen Schluck Rotwein und betrachtete Gérard, der wiederum ihn erstaunt betrachtete. Erst jetzt fiel ihm auf, wie impulsiv er reagiert hatte.
„Es ist deine Sache“, sagte Gérard einlenkend, um dann aber doch mit einem gewissen Trotz hinzuzufügen: „Er ist der neue König, das hat er eindrucksvoll bewiesen, er ist der neue König in dieser Geschichte und er will diese Welt besser machen, das ist ein tolles Motiv.“
Er hatte es von je her für sinnlos gehalten mit anderen über die Eigenarten seiner Protagonisten zu diskutieren. Obwohl er wusste, dass jeder ein Buch anders las, dass es keine Intersubjektivität gab, weil jeder Leser die Leerstellen mit seiner eigenen Fantasie füllte, hatte er sich doch immer als letzte Instanz bei der Analyse seiner Figuren gesehen. Es mochte sein, dass der eine oder andere vielleicht Züge entdeckte, die tatsächlich logisch erklärbar waren, aber niemand außer ihm kannte die Rohfassung, niemand außer ihm wusste, wie die Figuren ursprünglich gedacht waren. Aus dieser Perspektive heraus war die Diskussion, die er gerade führte, sinnlos, der Widerspruch von Gérard eine Frechheit, aber er wollte ihn nicht mit dieser Tatsache in die Schranken weisen, er wollte ihn überzeugen.
„Diese Figur ist kein Held, sie hat etwas Böses an sich, auch wenn ich das nicht wirklich am Text festmachen kann, etwas, das noch verborgen ist. Sie rebelliert, aber sie weiß nicht einmal wogegen, sie hat keine Vergangenheit, keine Persönlichkeit und die werde ich ihr auch nicht geben. Er ist wankelmütig, kein Held, mehr ein Kind, das nicht weiß, was seine Aufgabe ist, es ist eine sinnlose Rebellion und ein sinnloser Kampf, weil er ihn nicht gewinnen kann.“
Gérard schwieg, dachte einen Moment nach und genau in dem Moment, als er dachte, dass er ihn überzeugt hatte, sagte Gérard etwas, das ihn überraschte.
„Ich weiß, dass es eigentlich vermessen ist, dir als Autor so was zu sagen, aber du musst die Metaebene – erneut ein Wort, das er hasste – sehen. Du musst sehen, was der neue König will. Er will Frieden bringen in eine vom Krieg zerrüttete Welt, er ist traumatisiert von dem ganzen Elend, das er erlebt hat, er denkt nicht an sich selbst, sondern an seine Untertanen, darum existiert er. Er ist aus der Mitte der Flüchtlinge getreten, er repräsentiert die Flüchtlinge, deshalb hat er kein Gesicht, deshalb kann man ihn nicht sehen, er ist ein Symbol. Ich will mit dir nicht über Revolutionen diskutieren, das haben wir oft getan, aber warum glaubst du, dass er der Böse ist. Wie grausam muss sein Vorgänger gewesen sein, der ihm dieses verwüstete Reich hinterlassen hat. Erst im neuen König sieht man das Potential dieser Welt, ihre geschändete Schönheit. Ich denke, wenn der Begriff Held in der Literatur überhaupt angebracht ist, dann trifft er auf den neuen König in deiner Geschichte zu.“
Er war viel zu überrascht von diesem plötzlichen Plädoyer, von der Entschlossenheit in den Augen Gérards, um sofort etwas zu entgegnen, um zu widersprechen. Nicht die Tatsache, dass dort sein Verleger saß und die Deutungshoheit über seine Geschichte beanspruchte, nicht einmal der Umstand, dass dort sein bester Freund für die Figur eintrat, die er als seinen Feind empfand, machte ihn sprachlos. Der unfassbare, geradezu unheimliche Gedanke, dass Gérard vielleicht recht hatte, dass der neue König der Gute, er selbst womöglich der Böse war, ließ ihn verstummen.
Konnte ein Schriftsteller seinen Figuren Unrecht tun? War die Verurteilung zu ewigem, weil mit Buchstaben fixiertem Leid und die Preisgabe dieses Leides an Tausende von Lesern, war deren Ergötzung legitim, einzig und allein darum, weil das Opfer fiktional, das Leiden nur gedacht war. „Eindeutig ja“, wäre zu jedem anderen Zeitpunkt seine lächelnde Antwort auf diese überaus wahnsinnige Frage gewesen, „selbstverständlich, weil eine erfundene Figur nicht fühlt, weil man ihr kein Unrecht antun kann, weil sie nicht existiert.“
Das war die eine Seite, aber folgte man der Ideologie einer beliebigen Religion – die er alllesamt zwar nie geteilt, stets eher belächelt hatte, der aber der Großteil aller Menschen anhing – dann war auch der Mensch von Gott geformt, erdacht und erfunden worden. Am Anfang hatte schließlich das Wort gestanden. Er dachte, dass ihn dies alles verwirrte, fühlte ein unbestimmtes Gefühl von Schuld. Er hatte sich Trost und Zuspruch, nicht Gegnerschaft von Gérard gewünscht, der ihm noch immer gegenüber saß und geduldig auf eine Antwort wartete.
Er schaffte es die Form zu wahren, antwortete einige Nichtigkeiten, die eher auf verletzten Stolz als auf das eigentliche Problem verwiesen, er versuchte authentisch zu klingen, als er über Kopfschmerzen klagte und seinen Freund aus dem Haus komplimentierte. Er dachte, dass er Unrecht tat, als er ihm die Hand gab, fühlte sich schlecht, als er einen letzten Blick in die vertrauten Augen warf, dachte, dass es an ihm selbst lag, dass er ihm die Wahrheit hätte sagen müssen, als er die Tür hinter ihm verschloss, dann fühlte er wieder jene unbestimmte Schuld, als er zurück in das Wohnzimmer ging und sich in den Ohrensessel fallen ließ, in dem er von jeher am besten nachdenken konnte. Er würde Gérard in den nächsten Tagen anrufen, würde ihm alles erzählen, aber nun, nun musste er alleine sein.
Nach einer Weile beschloss er erneut ein wenig Fernsehen zu schauen, da all die Darsteller ihm zumindest nicht widersprachen, ihn oberflächlich ein wenig abzulenken vermochten und auch damit er nicht die ganze Zeit auf das aufgeschlagene Notizbuch starren musste, aus dem er Gérard vorgelesen hatte. Er schaltete den Fernseher ein und wechselte eine Weile lang gelangweilt die Kanäle, bis er bei einer Nachrichtensendung hängen blieb, verschwommene untertitelte Handyvideos aus dem Iran betrachtete, ein Volk auf den Straßen zusammenlaufen sah, Menschen, die „Tod dem Diktator“ gegen den Himmel schrien und englischsprachige Transparente in die Kamera hielten. „Tod dem Diktator“, dachte er und blickte hinüber zu dem Notizbuch, dann zu dem zerbrochenen Stift, der noch immer auf dem Boden lag, ein stummer Zeuge jenes furchtbaren Momentes, in dem er die Kontrolle verloren hatte. So sehr er spürte, dass er die Herausforderung suchte, weiterschreiben wollte; die Erinnerung an seine entmündigte Hand und wie sie über das Papier flog, ängstigte ihn. Ihm war Kontrolle von jeher wichtig gewesen, er wusste gerne vorher, worauf er sich einließ und in dieser Geschichte gab es zu viele Variablen, die sich nicht einschätzen ließen. Auf der anderen Seite war da dieser Drang, mehr als der Reiz des Verbotenen, mehr als das Versprechen sich selbst gegenüber, dieses Buch zu vergessen. Er fühlte sich vielleicht zum ersten Mal in seiner schriftstellerischen Karriere herausgefordert, hatte in der Masse der Gedanken etwas entdeckt, das ihm zumindest ebenbürtig, vielleicht sogar überlegen war und sein verletzter Stolz war nicht nur stärker als die Neugier, sondern auch stärker als die Angst vor dem, was passieren konnte, wenn Stift und Papier sich erneut berührten. Er fühlte sich wie ein Verwundeter, der genau wusste, dass er nicht an der Oberfläche der juckenden, weil heilenden Wunde kratzen durfte, der wusste, dass die Verkrustungen aufreißen, eitern und ihn töten konnten, der aber dann doch ungeachtet der Vernunft seinem Bedürfnis folgt, folgen muss, kratzen an Kruste, das Öffnen der Wunde, die Erleichterung, wenn das hinterhältige Jucken zum ernsthaften Schmerz wurde.
„Du willst mir doch nicht erklären, dass du vor deiner eigenen Geschichte Angst hast“, hatte Gérard gesagt. Nur einmal kurz über die Wundränder streichen, eine kurze Erleichterung, nur für einen Moment von den Prinzipien abweichen, um sie dann umso strenger und gewissenhafter zu befolgen. Er schaltete den Fernseher wieder aus, öffnete die Schublade unter dem Tisch und zog einen neuen Bleistift heraus, den er zunächst einmal probeweise neben das Notizbuch legte, etwa so wie ein Junkie, der sich fest vorgenommen hat zukünftig auf Drogen zu verzichten und seine aufgezogene, lang benutzte Spritze nur noch einmal aus Nostalgie betrachten will. Dann spürte er wieder jenen unheimlichen Magnetismus, blätterte und fand jenen Punkt, an dem er mit einem hässlichen Querstrich den Stift vom Papier weggerissen hatte, atmete tief durch und genoss die Kontrolle über den stetig wachsenden Drang zu schreiben, dann gab er nach und die Bleistiftspitze raste über das Papier. Ihm kam ein Gedanke, der ihn belustigte, und unbewusst, weil er bereits schrieb, stahl sich ein Lächeln auf sein Gesicht.
„Der neue König war gar kein König“, schrieb er und betrachtete diesen Satz, der plump und unbeholfen für sich stand und so gar nicht zu den anderen Sätzen passte. „Der neue König war nichts als ein Wahnsinniger, der in einer wahnsinnigen Welt für einen kurzen Moment geglaubt hatte es läge in seiner Hand, er könnte Licht in die Finsternis tragen.“
Wieder musste er lachen, trank einen Schluck Wein und dachte, dass es so einfach war, dass er selbst der Schöpfer dieser Fiktion war, die nach seinem, nicht nach dem Willen eines selbsternannten Königs funktionierte.
„Er begriff seinen Irrtum, als er den wahren, den alten, den richtigen König sah, der viel besser auf den Thron passte, auf dem er nur irrtümlich gesessen hatte. Der Mann auf dem Thron war ein alter Mann, weiß waren seine Haare in den Jahren geworden, die Würde seines Amtes umstrahlte ihn und ließ den neuen König, der kein König mehr war, beschämt in den Staub sinken.“
Wieder setzte er den Stift ab, lachte, trank, dachte, dass er gerade dieses Buch versaute, zerstörte, dann, dass es ihm egal war, dass er gewann, dass dies das einzige war, was zählte. Irrwitzig war es eine fiktionale Gestalt zu demütigen, weil sie nicht so war, wie er sie ursprünglich gedacht hatte, aber es tat gut diesen neuen König im Staub zu sehen. Dann zog es seine Hand wieder zum Papier und erneut versank er in der Geschichte, sein Geist verließ das behagliche Kaminzimmer, wurde eins mit der zerklüfteten Welt seines neuen Protagonisten, er schrieb ohne zu denken, zog den Eimer aus der Finsternis hervor, ließ die Gedanken fließen.
„Namenlos kniete er auf dem geschändeten Boden und betrachtete voller Erstaunen, wie all die friedlichen Schläfer starben, allesamt gleichzeitig, so als hätte ein böser Gott beschlossen seinen giftigen Atem über die Straße zu blasen. Überall brachen hässliche Entstellungen durch die vorher so sanften Gesichter seiner Untertanen, Blut, Schmutz und die verstreuten Habseligkeiten verstreuter Leben. Die Sonne verfinsterte sich, dunkle Wolken erstickten den blauen Himmel, die Luft wurde dünner und von einer Sekunde auf die andere löste der Donner der Geschütze das Orchester ab, das er sich nur eingebildet hatte, davor das Geschrei der Verwundeten, der Sterbenden und derer, welche die Sterbenden beklagten. Grauen schwappte aus dem Wald über die Wegesränder, aus Blättern wurden Dornenranken, die Steine unter den Füßen spitz und scharfkantig, die Welt war wieder zum Feind geworden. Die Erinnerung an den langen Marsch verdrängte alle anderen Gedanken, der Rücken des Vordermannes, die feinen Risse im Asphalt, vorbei an verkohlten Häusern, deren verkohlte Bewohner noch immer an ihren Tischen saßen, so als würden sie nur warten, bis der böse Traum vorbei war und sie weiter ihre dünnen Suppen schlürfen konnten, warten für die Ewigkeit. Der Ohrensessel war kein Thron, nie ein Thron gewesen, die Diener nichts als Leichen, die stumm einander in die Einschusslöcher starrten. Es roch nach Feuer und verbranntem Fleisch. Alles in ihm drängte ihn zu flüchten, er musste zurück zum Flüchtlingsstrom, seinen Platz einnehmen, flüchten, flüchten vor dem Krieg und dem zornigen alten König, der zu ihm hinunterblickte. Dann dachte er auf einmal an die Frau, die Frau, die ihm das Kind gegeben hatte, und er konnte sie lächeln sehen, erinnerte sich, dass sie sich einmal gekannt hatten, dachte an seine Mutter und ihr milde lächelndes Gesicht, das ihm Mut machte, dachte, wie gut ihre Schürze gerochen hatte.
„Nein“, sagte er und er sagte es leise, versuchsweise, ein stiller Protest, das Urwort und der Anfang jeglicher Verweigerung.
„Nein“, sagte er lauter und der Zorn über den Schrecken dieser Welt, die so gar nicht zu den entdeckten, kostbaren Erinnerungen passte, hallte in dem Wort wider.
„Nein“, schrie er und erhob sich, erhob sich stellvertretend für alle, die schliefen, starrte auf die fremde Gestalt, die dort oben auf seinem Thron saß, die er irgendwie nur unscharf und schemenhaft erkennen konnte. Gewaltige Kräfte strömten durch seinen Körper, pulsierende königliche Kräfte, die nur mühsam durch die Haut zusammengehalten wurden, „nein“, schrie er und der Himmel wurde ein wenig heller.
Bewegungslos blickte die fremde Gestalt vom Ohrensessel hinunter, jene fremde Gestalt, die für alles verantwortlich war, die er nicht richtig fixieren konnte, die ihn gar nicht beachtete, sondern sich über etwas beugte, die Hand bewegte, schrieb. Mit zwei schnellen Schritten war er bei dem Thron, konzentrierte alle Macht, die in ihm pulsierte, in seiner rechten Hand, griff wie von Sinnen nach diesem Verräter, diesem Heuchler, der dort kostümiert auf seinem Thron saß, griff tief hinein in das feindliche Fleisch, riss, zerrte heraus, biss, tobte, fasste nach diesem unwirklichen Kopf, der kein Gesicht hatte, presste, drückte, schrie, lauschte auf das hilflose Knacken und griff tief hinein in das feindliche Gehirn, das ihm überrascht entgegenquoll, eine Erinnerung an die Frau, an Luisa, die Hände hinein in den Spalt, auseinanderreißen, vernichten, ungeschehen machen. Mit einem finalen brutalen Ruck riss er den alten König auseinander, schleuderte ihn fort in das Nirgendwo der Wälder, dann ließ er sich mit einer gewissen Genugtuung wieder auf dem Ohrensessel nieder, strich sich mit den Händen durch das Gesicht und freute sich, dass sie blutig waren. Wie von Geisterhand zogen sich die Wolken zurück, suchten sich einen entfernten, traurigen Ort, um sich zu ballen, tief atmete der neue König die frische Luft ein, die nach Nadelhölzern, Frieden und Neuerung roch.“
Diesmal war er auf den Widerstand vorbereitet, als er aufhören wollte zu schreiben. Wieder war es die Empörung, die ihm Kraft gab, und er konnte sich zwingen, den Stift soweit vom Papier wegzureißen, bis der Druck nachließ, dann schleuderte er ihn gegen die Wand, ungefähr dorthin, wo der erste Stift gelandet war. Sein Versuch den neuen König innerhalb eines Absatzes zum Wahnsinnigen zu degradieren, ihn auszutauschen, war misslungen, was ihn nicht einmal sonderlich überraschte. Es war ein Versuch gewesen und er hatte viel bei diesem Versuch gelernt. Obwohl der neue König seinen Ersatzkönig vernichtet, zerrissen und zerstört hatte, war da doch ein Moment der Schwäche gewesen, er hatte die Welt verändert und für einige Momente hatte seine enttäuschte Figur an diese Veränderung geglaubt. Er dachte sich, dass er diesen Charakter kennenlernen musste, um ihn zu zerstören, dass er seine Schwächen einfach noch nicht kannte. Obwohl ein großer Teil von ihm noch immer nicht von der Macht dieser Figur überzeugt war und sich selbst fortwährend für seine Bemühungen belächelte, glaubte er die Gesetze allmählich zu fühlen, nach denen diese Welt funktionierte, auch wenn er sie nicht verstand.
Das jedoch, was ihn am meisten verstörte, war Luisa und dass sie in der Geschichte auftauchte, dass der neue König ihr Lächeln kannte, das für ihn selbst vor so langer Zeit gestorben war, an das er sich selbst nicht erinnern konnte. Wie so oft, wenn er in dem Ohrensessel saß und an sie dachte, glitt sein Blick hinüber zu dem anderen, zu dem Rattansessel, in dem sie immer gesessen hatte, bevor das Unsägliche passiert war. Ihr Auftauchen in seiner Geschichte war ein Tiefschlag, ein Pfeil in seiner Achillesferse, er verstand nicht, was sie getan hatte, hatte sooft darüber nachgedacht und keine Antwort gefunden.
Das fünfte Kapitel
Als die Sonne bereits wieder sank und in einem frühabendlichen Winkel durch das angelehnte Fenster fiel, spürte er, wie seine Stimmung schlechter wurde, die Gedanken abschweiften und sich auf einsamen und traurigen Pfaden verloren. Er kannte diesen Zustand, der bereits gefährlich nah an Verzweiflung und Depression heranreichte, er hatte ihn gewissermaßen studiert, seitdem das Unsägliche geschehen war. Einsam fühlte er sich, als er in dem Ohrensessel saß, so wie er dort immer saß, wenn es Abend wurde und er die Nacht erwartete. Stephen King
– den er gelegentlich und nur heimlich las – hatte in seinem Roman „Misery“, in dem die psychotische Ex-Krankenschwester Annie einen tiefsinnigen Schriftsteller folterte, ein Bild gefunden, an das er immer dachte, wenn er fühlte, wie sich seine Gedanken verdüsterten. Der Kontext war ein anderer und die deutsche Übersetzung, die er aus Ermangelung einer Alternative – er hasste Übersetzungen – gelesen hatte, war denkbar schlecht gewesen, aber jenes Bild hatte ihn fasziniert, weil es eine Stimmung in ein Sinnbild verwandelt und somit plastisch gemacht hatte. Der tiefsinnige Schriftsteller hatte den Schmerz seiner zertrümmerten Beine als alten hölzernen Pfahl an einem verlassenen Strand, die schmerzstillenden Drogen der psychotischen Annie als Flut bezeichnet, die den Schmerz zu verdecken, aber nicht zu entfernen vermochte. Dieses Bild traf genau seinen Zustand, traf ihn exakter, als es ihn in „Misery“ getroffen hatte. Das Unsägliche war der Pfahl, die Flut war sein restliches Leben, die restlichen Stunden, in denen sein Körper atmete, meist in dem Ohrensessel, meist alleine. Immer dachte er an den Pfahl, wenn er an das Unsägliche dachte, dachte an die Flut und dass sie immer schwächer, irgendwann nichts als Ebbe sein würde. Folgerichtig sagte dieses Bild, dass etwas in seinem Leben fehlte, dass die Strömung versiegte, belanglos wurde. Das Schreiben an dem neuen Buch, der neue König, hatte die Flut beschleunigt, Schreiben war wie eine Therapie für ihn, doch das zuströmende Wasser hatte nur den Grund aufgewühlt, den Pfahl größer gemacht und dabei so vieles an die Oberfläche gespült, das er nicht vergessen konnte. Er dachte sich, dass er langsam verrückt wurde, dass er ein einsamer alternder Mann in einer einsamen und alternden Wohnung war, dass niemand von ihm wusste, dass er sterben konnte, ohne dass es jemand bemerkte, dann dachte er, dass er das Haus, dieses Leben, verlassen musste, wenn auch nur für einige Stunden. Es war nichts als eine romantisierte Lüge, dass die großen Elegien der deutschsprachigen Literatur in Zuständen größten Leidens und der Hoffnungslosigkeit entstanden waren, niemand schrieb Elegien, wenn es ihm schlecht ging, und so beschloss er das zu tun, was Generationen von Künstlern vor ihm getan hatten, wenn die Trauer und das Leiden sie überwältigt hatten. Er stand auf, rannte fast zur Tür und zur Garderobe, der Zufall wählte seinen Mantel, dann verließ er das Haus, um sich in der nahegelegenen Stadt zu betrinken.
Als er mit großen Schritten in Richtung der Straßenbahnhaltestelle ausschritt, ging es ihm bereits besser. Er konnte wieder freier atmen, dachte über die Literatur nach und dass das Atmen und das Gehen – was seine Idee war –, das Denken und das Gehen, – was bereits Thomas Bernhard geschrieben hatte – eins waren. Das vorbeiziehende Licht der Laternen, der Wind der Veränderung in den Haaren rissen ihn aus seiner Agonie, er fühlte sich wieder jung und all den anderen überlegen, die wie er in dieser Nacht auszogen, um ihren Kummer im Alkohol zu ertränken. Alleine das Wortspiel, dass er draußen, auf dem Weg zur Straßenbahn, nicht drinnen, auf dem Weg in den Wahnsinn war, vermochte ein Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern. Die hässliche Realität der Reihenhauslandschaft um ihn herum lenkte seine Gedanken ab, die Fantasie füllte die Schatten mit Mysterien. „Schon stand im Nebelkleid die Eiche, ein aufgetürmter Riese da, wo Finsternis aus dem Gesträuche, mit hundert schwarzen Augen sah.“, hatte Schiller geschrieben und genau das gemeint, was er sah, fühlte und in diesem Moment dachte. Der Versuch eben das einzufangen, das nur im Verborgenen, nur in den Augenwinkeln existierte. Die Spannung brachte sein Herz zum Schlagen, er dachte an andere Male, Jugendzeit, Feiern, abends durch die Stadt mit einem Bier in der Hand und einem bestimmten Ziel in der verschwommenen Ferne. Geschichten fielen ihm ein, die an den bröckelnden Putzsteinen hängen geblieben waren und er dachte, dass niemals ein Ort schön, sondern nur das, was man mit ihm verbindet, schön sein konnte. Von Kindesbeinen an kannte er die Häuser, die Straßennamen und markanten Eigenarten der Fassaden und ihrer Bewohner. Für jedes zugezogene Fenster gab es eine Erinnerung, über jedes hatte er etwas erfahren, gehört oder zumindest gedacht. Unzählige Namen, Relationen, Satellitenschüsseln und bemalte Garagentore.
Er erreichte die Straßenbahnhaltestelle und stellte befriedigt fest, dass er nur wenige Minuten dort warten musste. Gerade dann, wenn der Geist zu Höhenflügen ansetzte, wenn Stift und Papier zu fern waren, um die neuen (alten) Gedanken zu bannen, hasste er nichts mehr als Stillstand und das Warten. Er setzte sich auf die alte Holzbank direkt unter der Anzeigetafel
– derart ungeschickt aufgestellt, dass man sitzend eben diese Anzeige nicht betrachten konnte –
und wartete auf die Bahn, genau an der Stelle, an der er bereits als Kind auf der Holzbank gesessen und auf die Bahn gewartet hatte. Inzwischen war es eine andere Bank und es waren auch andere Bahnen, aber irgendwie wohnte dem Moment etwas Feierliches, etwas Nostalgisches inne. Er betastete seinen Mantel und fand – womit er nicht gerechnet hatte – zu seiner Freude eine zerknautschte Packung Tabak und – in einer anderen Tasche – ein zerknülltes Blättchen. Obwohl er lange nicht mehr selber gedreht hatte, fanden die Hände wie von selbst die routinierten Bewegungen und als er in seiner Hosentasche das Feuerzeug ertastete, dachte er, dass er seit langer Zeit in seinem Leben noch einmal Glück und somit auch einen glücklichen Moment gehabt hatte. Tief sog er den alten aber immer noch würzigen Tabak in seine überraschten Lungen und überlegte, in welche Bar er gehen würde. Da er die gewohnte Trostlosigkeit des Kaminzimmers nicht mit einer anderen gewohnten Trostlosigkeit vertauschen wollte, suchte er immer, wenn er wie an diesem Abend loszog, eine neue Bar aus, wobei er einen großen Bogen um die sogenannten Künstlerbars machte, die allein schon durch ihre zumeist aufgesetzten Namen jegliche Kunst negierten. „In den Logen der Selbstdarsteller sind doch alle nichts als Schauspieler“, dachte er sich und dann an teure, aber zerschlissene Anzüge, elitäres Denken in den Köpfen von Schimpansen. Er hatte sich nie zu diesen Darstellern gezählt, die mit den Trends mitsegelten und gemeinsam mit ihnen wieder in der Bedeutungslosigkeit versanken. Er mochte den Schatten und meistens blieb er an Orten, wo andere im Scheinwerferlicht, er selbst in einer dunklen Ecke voneinander nichts wussten, er beobachtete gerne Menschen. Als Schriftsteller entwickelte man das – wo bei dieses „man“ nur die Riege der wirklichen Schriftsteller fasste – , was er einmal in einer Erzählung als den “schonungslosen Blick“ bezeichnet hatte, man sah genauer hin und entdeckte die feinen Haarrisse in den blank polierten Oberflächen, Haarrisse, die auf tiefer liegende Wunden und Geschichten verwiesen, die geplatzten Äderchen in den schwarz umrandeten Augen, betretene Blicke in spiegelnde Flächen oder das Funkeln einer verlorenen Münze im Schatten. Er füllte die Leerstellen der wartenden und angekommenen Gäste mit eigenen Gedanken und Geschichten, oft hatte er eine Inspiration für eine literarische Figur oder auch nur eine Beschreibung mit nach Hause genommen. Wieder zog er an der unregelmäßig abbrennenden Zigarette, dachte, dass diese Zigarette besser schmeckte als alle Zigaretten im Ohrensessel, fragte sich, ob Rauchen etwa Freiheit bedeuten konnte, dann dachte er an den toten Marlborocowboy, den er als Kind auf den großen Plakaten bewundert hatte, als die Bahn sich mit quietschenden Bremsen um die Ecke schlängelte, die Türen aufsprangen und er einstieg.
Er hatte Straßenbahnen immer gemocht, schon als Kind war er von ihnen fasziniert gewesen und hatte jenes Wunder bestaunt, einfach durch die Tür in einen Raum zu treten und dann diesen Raum durch dieselbe Tür an einem vollkommen anderen Ort wieder zu verlassen. Es war jene Zeit gewesen, in welcher er in kindlicher Entdeckerlaune die Fahrpläne – die viel zu hoch hingen – beobachtet hatte, auf welche die Leute immer wieder blickten und in denen irgendwie das Geheimnis verborgen sein musste, das die Büsche wie bunte Wolken an den Fenstern vorbeiziehen ließ. Diese kindliche Begeisterung war mit der notwendigen und doch zerstörerischen Erziehung – denn Erziehung ist immer auch Zerstörung – geschwunden, doch auch noch heute mochte er die Straßenbahn als einen Ort, der, wenn auch nur für eine kurze Zeit, die verschiedensten Menschen auf engem Raum zusammenbrachte, so als wären sie einander nicht fremd und hätten ein gemeinsames Ziel. Er betrachtete prüfend einige Jugendliche, die mit aufgesetzter Unschuld und roten Augen übereinander lachten, streifte die Augen einer attraktiven, aber für ihn zu jungen Frau, senkte den Blick vor einem breitschultrigen Feierabendtrinker, der ihm bedrohlich erschien, suchte und fand einen Sitzplatz, der mit dem Rücken zur Wand lag und wurde Teil der straßenbahnfahrenden Menschen.
Während er aus dem Fenster sah und versuchte von den beleuchteten Fassaden der zahlreichen Bars auf ihr Innenleben zu schließen, lauschte er auf die Gespräche um ihn herum, die teils ängstlich und leise geflüstert, teils enthemmt und betrunken geschrieen wurden. Die Frau, die er als zu jung eingeschätzt hatte, erklärte ihrer Tochter am Telefon die Fernsehbedienung, zwei Studenten belehrten sich gegenseitig über ihre Studienfächer, ein bleicher junger Mann sagte zu seinem Telefon, dass man sich bald bestimmt noch einmal sehen würde, ein Obdachloser mit umwickelten Füßen beklagte den amerikanischen Imperialismus, während eine rüstige Greisin ihre Lippen nachzog. Es war ein beruhigendes Wirrwarr, weil es zeigte, dass da draußen noch andere waren und weil der Wahnsinn der Masse den eigenen Wahnsinn veredelte. Mochte er auch Tag für Tag alleine in seinem Kaminzimmer, alleine in seinem Ohrensessel sitzen, es war besser als die Nichtigkeiten all dieser Fremden, dieser „normalen“ Menschen. Er lauschte auf den rauchigen Husten eines anderen und dachte, dass sein eigener Husten gar nicht so schlimm war, betrachtete den jungen und so bleichen Mann und dachte, dass seine Einsamkeit keine Not, sondern elitäres Denken war, lauschte den vielen über- und überbetonten Fremdwörtern der Studenten und dachte gerade, dass die Frau gar nicht so jung und auch gar nicht so attraktiv war, als in dem Leuchtreklamegewitter ein Name seine Aufmerksamkeit auf sich zog. „Kings Cross“, stand dort in alten Lettern, die von der Form her irgendwie englisch anmuteten, vielleicht eine Art Pub. „Kings Cross“, Londoner Bahnhof oder Rotlichtviertel in Sydney, so oder so fantasielos aber doch hatte der Name eine seltsame Anziehungskraft und auch der Bezug war zu offensichtlich um nicht von einem Hauch von Schicksal umweht zu sein. Kurzentschlossen erhob er sich und trat an die Tür, ärgerte sich dann, weil die Straßenbahn an einer Ampel stehen blieb und er sonst immer bis zum letzten Moment mit dem Aufstehen wartete, betrachtete den rotschimmernden Schriftzug, der wiederum die Rotlichtdeutung stützte, stieg schließlich aus und ging darauf zu.
In nahezu allen seinen Büchern gab es eine Szene, in der ein Protagonist über eine Straße ging, von einem Ort kam, um zu einem anderen zu gehen. Egal, was in der Geschichte passierte, egal, was die Kulisse war, immer gab es diesen Gang; den Satz „er ging die Straße entlang“ hatte er in jedem seiner Bücher verborgen und selbst den scharfsinnigsten seiner Kritiker war dies nicht aufgefallen. Der Weg des Protagonisten über die Straße war immer ein Punkt, an dem man als Leser zum Ausgangspunkt zurückschauen und die richtigen Schlüsse ziehen, aber auch nach vorne, dem Ziel entgegenblicken, es erahnen konnte. Und ebenso wie all seine Protagonisten diesen Weg beschritten hatten, ging nun auch er die Straße entlang, dachte noch einmal kurz an das Unsägliche, die Küche, den Fußboden, die sprichwörtliche Umwertung aller Werte, während er „Kings Cross“ erreichte.
Die Bar war kein Pub, aber recht geschmackvoll eingerichtet, sehr viel altes rötliches Holz, sorgsam aufbereitet, in dem sich die matten Deckenfluter wie Irrlichter spiegelten. Es herrschte eine dezente Geräuschkulisse, wenige Menschen wechselten einander mit ihrer Stimme ab, dahinter belanglose Musik aus verborgenen Boxen, zahlreiche Flaschen auf einem Brett hinter der Theke. Er fand einen freien Tisch in einer halbverborgenen Ecke und setzte sich in den Schatten, Blickrichtung zur Bar, weiche Polster, die sein Gewicht angenehm abfederten, kein Ohrensessel, aber ein behagliches Polster. Er bestellte eine Flasche Whisky und einen Kübel Eis, bezahlte direkt und zog sich am Automaten neben der Toilettentür eine Packung Zigaretten, dann lehnte er sich zurück und versenkte sich in die Geräuschkulisse.
Der Whisky war weder besonders gut, noch besonders schlecht und er dachte, dass es seltsam war, wie unbedeutend manche Dinge wurden, wenn sie so einfach zu bekommen waren, dachte zurück an seine Jugend, das abgezählte Taschengeld lose in den Hosentaschen, später die Studentenzeit mit ewig leerem Portemonnaie, jetzt, obwohl er nicht reich war, war eine Flasche Whisky nichts mehr, das ihm dekadent oder wie Geldverschwendung erschien. Er warf drei Eiswürfel in das Glas und übergoss sie mit der bernsteinfarbenen, laut Etikett 16 Jahre alten Flüssigkeit, die angenehm wärmend in der Kehle brannte und betrachtete die anderen Gäste, die sich wie er für diese Bar entschieden hatten. Die meisten von ihnen waren in kleinen Gruppen zusammengefasst, saßen gemeinsam an den runden Tischen und trugen jeder für sich zu dem allgegenwärtigen sonoren Stimmengewirr bei, das zunächst eine wahnsinnige Ansammlung, ein Wust von zusammenhanglosen Wörtern war, dann, als er sich auf einzelne Stimmen konzentrierte, eine bunte Sammlung von fremden Ideen und Geschichten. Hier lag eine der Ironien des Lebens, dachte er, denn auch er war in seiner Jugend Teil dieser Gruppen und Interessengemeinschaften, selten auch Freundschaften gewesen, während er nun, älter geworden, alleine saß und die neuen und fremden Gruppen um ihr Gruppendasein beneidete, gleichzeitig verachtete. Er suchte nach Außergewöhnlichem, den kleinen Details, die so oft übersehen wurden und den Stoff für Geschichten bildeten, doch zunächst fand er nichts, das seine Aufmerksamkeit fesselte. Seitdem das Unsägliche geschehen war, hatte er öfters in solchen Bars gesessen, kannte die durchschnittlichen Barbesucher, die Trinker und ihre Bewunderer, die Akteure und die Statisten, diejenigen, die tranken, weil sie es mochten und all die anderen, die nur dazugehören wollten. Allesamt fügten sie sich in dieses Schema und er fühlte bereits einen Hauch von Enttäuschung, der sich in den aufkommenden Rausch mischte, als sich die Tür zur Straße hin öffnete und ein neuer Gast den Raum betrat. Suchend blickte sich der Fremde um, ein junger Mann, der sich nicht so einfach einschätzen ließ, fehl am Platze wirkte, ohne dass sich diese Falschheit bestimmen ließ. Suchend blickte sich der Fremde um und er dachte, als er ebenfalls umherschaute, dass da niemand war, der zu dem Ankömmling gepasst hätte, niemand, mit dem er eine der beschriebenen Konstellationen hätte bilden können. Es gab nicht viel Auffälliges an dem Mann zu beschreiben, das Alter ließ sich nur schwer schätzen, auf jeden Fall jünger als er selbst, wie die meisten Barbesucher, unauffällig braune, gescheitelte Haare, er war weder besonders groß noch klein, lediglich die Augen hoben ihn aus der Masse heraus, etwas lag in ihnen verborgen, das er aber nicht entdecken konnte und irgendwie kam ihm dieses Allerweltsgesicht bekannt vor, so als würden sie sich aus der Kindheit oder frühen Jugend kennen. Im Geist verglich er ihn mit den Gesichtern von alten Klassenkameraden, zog Namen und Erinnerungen aus dem Gedächtnis hervor, doch er fand keine Übereinstimmung. Und doch war da eine Erinnerung, irgendetwas Dunkles, Flüchtiges. Es war, wie wenn man ein Wort suchte, es einem aber einfach nicht einfallen wollte, gleichzeitig da und nicht da war, ein Punkt in der Ferne, der sich nicht fixieren ließ. Natürlich erinnerte er sich nur an einen Bruchteil der Menschen, die ihm in seinem Leben begegnet waren. Er hatte zwar ein gutes Gedächtnis für Gesichter, aber die Tausenden und Abertausenden von Augen, die ihm in seinem Leben entgegengeblickt hatten, die unzähligen Namen, die ihm genannt worden waren, überstiegen die Kapazität des Bewusstseins. Nahezu alles wurde irgendwo in einen hinteren Teil des Gehirns
– was er für eine gute Metapher für das Unbewusste hielt – verdrängt, erst wenn Namen und Gesicht an Bedeutung gewannen, rückten sie weiter in der Erinnerung vor und konnten überleben. Erst als der Fremde weiter vortrat, immer noch suchend von Tisch zu Tisch blickte, fiel ihm die Behinderung auf. Es war nicht so, als würde sich der Mann auffällig bewegen, das Gegenteil war der Fall. Jeder Schritt wirkte wie einstudiert, lediglich winzige Besonderheiten der Schrittabfolge, ein fast unsichtbares Nachziehen des rechten Fußes sprengten dieses Muster. Er dachte, dass der Mann sich auf seine Schritte konzentrierte und jetzt, wo er ihn durchschaut hatte, fiel ihm diese Konzentration auch im Gesicht auf, die Augen zusammengekniffen, verborgene Schmerzen in einem emotionslosen Gesicht. Schwerfällig ließ er sich an einem der freien Tische nieder und benutzte nach einem Seitenblick die Hände, um die Beine in eine bequeme Position zu verlagern, vielleicht hatte er eine Erkrankung der Knochen, vielleicht eine dieser Lähmungen, bei welcher der eigene Körper mehr und mehr zu kaltem, totem Fleisch wurde. Er empfand Mitleid mit dem Fremden, den irgendein schlimmes Unglück des Lebens zum Krüppel gemacht hatte und obwohl er als Intellektueller durchaus auch an Verachtung dachte, wenn er Mitleid meinte, war da diese Vertrautheit, die er sich nicht erklären konnte. Irgendwo hatte er ihn schon einmal gesehen und die Erinnerung war einmal wichtig gewesen.
Der Fremde vertiefte sich derweil in die Getränkekarte, bestellte dann ein kleines Bier, immer noch sah er sich suchend um, blickte auch öfters zu ihm hinüber, doch er konnte nicht sagen, ob es Absicht oder Zufall war. Mit einem Mal war ihm die Situation unangenehm, er ärgerte sich über sich selbst und die Wandlung, die sich mit dem Alter an den Menschen vollzog. Damals, als er noch jung gewesen war, hatte er immer wieder neue Menschen kennengelernt. Das Leben war ein einziges Fließband gewesen, das ihm die unterschiedlichsten Gestalten entgegengetragen hatte, Geborgenheit und Freundschaft, wenn auch zumeist nur für einen Abend oder einen bestimmten Lebensabschnitt. Damals war es leichter gewesen ins Gespräch zu kommen, einfach weil er noch nicht so viel gewusst hatte, weil die Menge der Themen beschränkt gewesen war. Jetzt, als er darüber nachdachte, ob er den Fremden zu einem Glas Whisky einladen sollte, erschien ihm jede Form der Annäherung befremdlich, ja fast anzüglich. Was würde der andere von ihm denken, wenn er sich einfach zu ihm setzte, würde er ihn für betrunken, wahnsinnig oder im schlimmsten Fall gar für schwul halten, wenn er ihm einen Whisky ausgab, vielleicht würde er ihn auch auslachen und einen alten Mann nennen. All diese Fragen, Hemmungen hatte es früher nicht gegeben, ihm war es egal gewesen, was die anderen von ihm gedacht hatten, er selbst hatte nicht nachgedacht, einfach gehandelt. Geistesabwesend ließ er die Eiswürfel in seinem Glas kreisen, trank und dachte, wie wahnsinnig ein solcher Ort war. Jeder Mensch in dieser Bar hatte eine eigene Geschichte, eigene Erinnerungen, jeder hier fühlte, liebte, hasste und zweifelte. Alle beobachteten einander aus der Ferne und bildeten sich ein falsches Bild von den anderen, machten sie zur Kulisse, wie die wuchtige Theke oder die Bilder an den verrauchten Wänden. Jeder schätzte die anderen fortwährend ein, glitt mit Blicken über ihre Gesichter wie über Buchseiten und jede Einschätzung war nichts als Fiktion, nichts als das willkürliche Füllen von Leerstellen, keinen Deut realer als die Gedanken einer Romanfigur. Und doch war all dies wichtig, der Mensch war ein gesellschaftliches, zumindest ein zum Zusammenleben verdammtes Wesen, egal wie man die griechischen Worte übersetzte, Aristoteles hatte recht gehabt. Er selbst hatte immer unterschätzt, wie wichtig es war über soziale Kontakte zu verfügen – eine Phrase, die er hasste –, dass das wirkliche Wissen um andere und das Wissen anderer um einen selbst den Bezugsrahmen der Existenz bildeten und dabei mehr als ein bloßer Chiasmus waren. Wieder spürte er den Blick des anderen und sah bewusst in eine andere Richtung, ein sinnloser einstudierter Reflex, der all seinen Gedanken widersprach, nicht entdeckt werden wollte er, nur aus den Augenwinkeln beobachten. Er versuchte den fremden Besucher einzuschätzen, versuchte es die ganze Zeit, doch man sah dem Gesicht seine Bildung nicht an, er konnte nicht sagen, was wohl sein Beruf war, er konnte mit diesem konzentrierten, irgendwie leidenden Blick ebenso gut an einem Fließband stehen wie in einer Schlüsselposition der gesellschaftlichen Entscheidungsinstanzen. Er hätte ebenso gut mit leuchtenden Augen die Namen von Fußballspielern aufzählen wie den Erlkönig rezitieren können, er erschien ungeprägt und doch verwiesen die Augen auf das Sprichwort, dass stille Wasser tief gründen. Er weckte sein Interesse und da er langsam und glücklich betrunken wurde und da er, auch das war eine Redensart, nichts zu verlieren hatte, trank er den letzten wässrigen Schluck und ging dann mit Flasche, Glas und Eiskübel hinüber zu dem fremden Mann.
Schon als er aufstand, bereute er seinen Entschluss, jede Entscheidung für eine Möglichkeit war die Negation aller Alternativen, doch der Fremde hatte ihn bereits bemerkt und die Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet. Es war zu spät, um umzukehren, lediglich der Gang ließ sich noch verzögern, um in dem fremden Gesicht nach Abweisung oder Einladung zu suchen, dann erreichte er ihn.
„Ist hier noch frei?“, eine typische Kneipenfloskel, der Satz, mit dem man sich in ein fremdes Leben drängte.
„Setzen Sie sich“, eindeutig mehr Einladung als Abweisung, und er setzte sich.
„Sie wundern sich bestimmt, warum ich mich einfach so zu Ihnen an den Tisch setze“, sagte er, „aber ich habe gesehen, dass sie wie ich alleine hier sind und warum sollten wir uns nicht einfach unterhalten?“
Er war recht zufrieden mit diesen hölzernen Worten, war es nicht mehr gewohnt mit Fremden zu sprechen, und obwohl er nur selten genau das, was er dachte, in gesprochene Wörter fassen konnte, glaubte er alles soweit richtig gemacht zu haben. Bewusst hatte er seine Anrede auch als Frage formuliert, weil die nächste Reaktion des Fremden darüber entscheiden würde, ob er hier sitzen blieb oder zurück an seinen Tisch ging.
Prüfend musterte ihn der andere mit seinen geheimnisvollen Augen und ohne auch nur im Geringsten auf die Frage einzugehen, sagte er: „Ich kenne Sie.“
Das war eine Wendung des Gesprächs, die er nicht erwartet hatte. Obwohl ein guter Teil in ihm überzeugt war dieses Gesicht zu kennen, hatte er sich doch eingeredet, dass es Einbildung war. Auch jetzt glaubte er noch nicht, dass sie sich wirklich kannten. Obwohl in seinen Büchern niemals ein Foto von ihm abgedruckt war, denn er hasste grinsende Autorengesichter
in Hochglanzeinbänden, war doch hin und wieder, zumindest in den regionalen Medien, ein Bericht über ihn erschienen. Er hatte einige Schreibwettbewerbe gewonnen und da es in der Vorstadt nur wenige kulturschaffende Menschen gab, war er interviewt und auch einige Male fotografiert worden. So hatten wohl recht viele Leute sein Bild gesehen, die Leerstellen mit Subjektivität gefüllt, obwohl er wusste, dass die wenigsten ein Buch von ihm gelesen hatten.
„Ich habe ein Buch von Ihnen gelesen“, sagte der Fremde, während er dies dachte, und blickte nach links oben, dorthin, wo der kreative Teil des Gehirns vermutet wird.
„Milch“, sagte der Fremde, „das Buch hieß Milch, ein verstörender Titel, es war dieses Buch mit dem eingewachsenen Zehennagel und der rostigen Rasierklinge.“
Er nickte, der andere hatte tatsächlich ein Buch von ihm gelesen, auch wenn Zehennagel und Rasierklinge nur zwei unbedeutende Details waren. Er hatte festgestellt, dass sich die Leser seiner Bücher immer bestimmte Details merkten, einzelne Bilder, die eine Brücke zu der Handlung und der Geschichte bildeten. Jeder merkte sich andere Dinge und auf Zehennagel und Rasierklinge war er bislang noch nicht angesprochen worden. Überhaupt war das Buch „Milch“, sein Erstlingswerk, nur in einer verschwindend geringen Auflage erschienen, die meisten Exemplare standen in den Bücherregalen von Menschen, die er damals gekannt hatte, die wenigsten hatten dieses Buch so verstanden, wie es gedacht gewesen war.
„Auch Sie kommen mir bekannt vor“, sagte er, und dann:
„Schreiben Sie auch? Vielleicht haben wir uns in diesem Zusammenhang bereits einmal gesehen. Ihr Gesicht hat mich direkt an etwas erinnert, aber ich komme einfach nicht darauf.“
„Sie sind einmal an mir vorbeigegangen“, sagte der Fremde und er sagte es mit einer besonderen Betonung, fast pathetisch und dabei irgendwie abschließend, so als wäre dies eine bedeutungsvolle Antwort, die keiner weiteren Erklärung bedurfte.
Dann fiel ihm der Whisky ein.
„Trinken Sie mit mir?“, fragte er und winkte dem Kellner, dass dieser ein zweites Glas bringen sollte, als der Fremde nickte.
„Sie haben ’Milch’ gelesen, haben Sie gesagt. Wenige Menschen haben dieses Buch gelesen und es würde mich interessieren, wie es Ihnen gefallen hat“, sagte er, nachdem sie angestoßen hatten, um den Faden wieder aufzunehmen.
„Nein, warten Sie, sagen Sie mir nicht, ob sie es gut oder schlecht fanden, sagen Sie mir, was Sie dabei gedacht haben?“
Der Fremde legte den Kopf schief, dachte und sann, versetzte sich wohl in die Situation, als er es gelesen hatte. Er selbst war froh, dass er nun hier saß und in ein Gespräch gefunden hatte, es tat gut, nicht mehr alleine zu sein. Er zündete sich eine Zigarette an, blies den Rauch gegen die Decke und wartete auf eine Antwort.
„Es war alles nur Ablenkung“, sagte der Fremde, „ich erinnere mich. All die Gespräche, die Hauptstränge der Handlung, nichts als Ablenkung, das hat mich fasziniert. Man musste den einen Punkt in der Geschichte finden, die Worte, die er am Grab sagt, und von dort aus die Geschichte völlig neu zusammensetzen, nur so gab es einen Sinn. Ich habe es mehrmals gelesen.“
Erstaunt blickte er sein Gegenüber an. Er hatte eine grobe Zusammenfassung, einzelne wiedererzählte Fragmente seiner Geschichte erwartet, aber diese tiefsinnige, so exakte Analyse traf ihn unvorbereitet.
„Es stimmt“, sagte er, „so war es gedacht. Es gab eine Geschichte hinter der Geschichte. Das mochte ich an diesem Buch.“
Der Alkohol ließ ihn grinsen, denn es war verrückt, dass man in eine Bar gehen musste, um
eine fundierte Kritik der eigenen Schriften zu bekommen, sofort stellte sich ein warmes Gefühl für den anderen ein, denn jemand, der den eigenen Gedanken folgen konnte, war irgendwie verwandt.
„Es geht die ganze Zeit um Schuld“, sagte der Fremde und wieder hatte seine Stimme diesen bedeutungsvollen Klang, „so habe ich es verstanden, all sein Handeln, seine Gedanken sind nichts als das ständige Umkreisen seiner Schuld, die er nicht verarbeiten kann, deshalb muss er sterben und er muss es in eben dem Moment, als er das erkennt, was der Leser doch bereits die ganze Zeit wusste…“
„…wissen konnte“, unterbrach er den anderen.
„Die Wenigsten, glauben Sie mir, die Allerwenigsten haben dies gesehen. Die Geschichte verlief in eine ganz andere Richtung. Es gab eine einzige kurze Rezension, in der geschrieben stand, dass der ‚rote Faden’ in der Geschichte fehlen würde.“
„Ich hasse diese Phrase“, sagte der Mann und er fühlte sich mit ihm verbunden, weil auch er diese Phrase hasste. „In der Literatur gibt es keine roten Fäden“, sagte der Mann, „ein Buch darf keine Bedienungsanleitung sein, sonst ist es keine Literatur.“
„Wussten Sie, dass der rote Faden eine Idee Goethes war?“, fragte er und sah in dem Aufblitzen der fremden Augen bereits die Antwort.
„Letztendlich ist es der Ariadnefaden“, sagte der andere und wieder hatten sie den gleichen Gedanken. „Ein Buch muss wie ein Labyrinth sein, ein Kunstwerk, dann ist der Faden die Assoziationskette des Autors, der mit seinem Protagonisten bereits einen Weg durch die wirren Gänge und Höhlen genommen hat. Die Kunst aber ist es, einen eigenen Weg zu finden, aus dem heraus man sie umkreisen und beobachten kann, es geht nicht darum den Minotaurus zu erschlagen, sondern einen eigenen Weg aus dem Labyrinth herauszufinden.“
Er schwieg und dachte über diesen druckreifen Satz nach, der so genau das traf, was er oftmals an-, aber nie in dieser Konsequenz zu Ende gedacht hatte. Er staunte nicht nur über das Wissen des Fremden – denn welcher andere der Barbesucher kannte wohl schon Daidalus –, es war vielmehr der Scharfsinn und die Folgerichtigkeit der Gedanken. Auf der anderen Seite packte ihn der Ehrgeiz, denn es war eine Sache über sein Buch zu reden, eine andere, sich von einem Fremden über die Literatur belehren zu lassen.
„Dann ist das Schreiben ein Geschenk der Götter?“, fragte er, um dem Gespräch eine humorvolle Wendung zu geben, aber auch um zu zeigen, dass er die Anspielung verstanden hatte.
„Es ist ihre Strafe“, sagte der andere und erst jetzt lachte er, wobei nur das Gesicht, nicht die Augen, in Bewegung gerieten.
Zögernd lachte er mit, obwohl er den anderen hier nicht verstand.
Sie redeten eine Weile über Literatur, Jacques Derrida und den Dekonstruktivismus, elaborierte Themen in behaglicher Atmosphäre, immer wieder unterbrochen von einvernehmlichen Denkpausen, wobei er mehr und mehr den anderen sprechen ließ.
Noch immer suchte er in der Erinnerung nach der Situation, in der er ihn bereits einmal gesehen hatte. Er empfand Sympathie für den Unbekannten mit dem verborgenen Gehfehler, doch gleichzeitig fühlte er sich immer wieder zurückgestoßen. Der Unbekannte schien genau abzuwägen, was er sagte. Jedes Wort war mit eben jener Konzentration gewählt, die er auch auf sein Gehen gerichtet hatte. Er verbarg etwas hinter den Worten, ebenso wie er seine Behinderung zu verbergen versucht hatte. Jede Frage, die tiefer ging und auf seine Persönlichkeit abzielte, umschiffte er wie zufällig, warf neue Themen ein, und obwohl er die kühnsten Gedanken mit ihm teilte, glänzten seine Augen nicht, ruhten in ihrer Kälte, die weder Whisky noch das gelegentliche gemeinsame Lachen erwärmen konnten.
Erst als der Fremde irgendwann aufstand, ihm Abschied nehmend zunickte und sich abwendete, fiel ihm auf, dass er ihm nicht seinen Namen gesagt hatte. Mit verschleiertem Blick sah er ihm hinterher, wieder fiel ihm der verborgene Gehfehler auf, dann dachte er, dass er bereits sehr betrunken war. Nur noch ein kleiner Rest Whisky bedeckte den Boden der Flasche und obwohl sie den Inhalt doch gemeinsam getrunken hatten, spürte er, wie der Alkohol ihm in den Kopf stieg.
So gerne er sich auch unterhalten hatte, so froh war er nun, dass er bereits bezahlt hatte, denn auf einmal wollte er mit niemandem mehr sprechen, nicht mit dem Kellner, nicht mit der irgendwie zerstörten rothaarigen Frau, die nun die ganze Zeit zu ihm hinüberblickte, er wollte zurück nach Hause. Das beständige Gemurmel um ihn herum, in dem er zunächst mancher Stimme gelauscht, das er später, im Gespräch, vergessen hatte, schien ihm nun mit einem Mal verstörend laut, Stimmen, die von überall her kamen. Er stützte sich auf dem Tisch ab und stand auf. Merkte, wie die Beine zunächst überrascht nachgeben wollten, lachte viel zu laut über die Ironie, dass nun er die volle Konzentration auf seinen Gang richten musste, nickte dem Kellner überflüssigerweise zum Abschied zu, dann stand er draußen auf der Straße und war mit einem Mal wieder alleine. Einige Momente stand er reglos im Licht einer flackernden Laterne und versuchte den plötzlichen Wechsel der Umgebung zu begreifen, dann die Orientierung wiederzufinden. Er war von der dunklen Straßenbahnhaltestelle zielstrebig auf die Leuchtreklame zumarschiert, an der er vorher vorbeigefahren war, wie ein Wegweiser hatte der Schriftzug „Kings Cross“ ihn geleitet, nun wusste er nicht mehr, aus welcher Richtung er gekommen war, wusste nicht, wie spät es war, nicht einmal, ob noch Straßenbahnen fuhren, die ihn nach Hause hätten bringen können. Dann merkte er, wie ihm erst langsam, dann immer schneller schlecht wurde, Wellen von Übelkeit strömten durch seinen Körper, die Leuchtreklame und die Laterne blendeten ihn gemeinsam und sein Mund füllte sich mit Speichel, den er immer wieder hastig hinunterschluckte oder aber auf das Pflaster spuckte.
Der Kopf schmerzte, dröhnte, er musste aus dem Licht heraus, irgendwohin, wo es dunkel war, ging vorwärts, hielt wieder an, torkelte, zitterte, dann ergoss er würgend und klatschend seinen Mageninhalt gegen eine Häuserwand und dies brachte ihm für einige Momente das Gefühl von Klarheit. Es hatte bereits gedämmert, als er in die Bar gegangen war, wo er bestimmt vier, vielleicht fünf Stunden geblieben war. Nun war es tiefste Nacht, es würde keine Straßenbahn mehr fahren, es war ein einfacher Wochentag, er würde zu Fuß gehen oder ein Taxi anhalten müssen. Er ging einige Schritte vorwärts und wieder verkrampfte sich sein Magen, beugte ihn in sich zusammen und zitternd spuckte er bittere Magensäure und den letzten Rest Whisky, der noch nicht durch seine Blutbahn rauschte. Der Weg nach Hause war weit, zu Fuß bestimmt eine Dreiviertelstunde, es war dunkel und es ging ihm schlecht, aber er sah sich außerstande ein Taxi zu rufen, hätte sich geschämt, zurück in die Bar zu gehen und den Kellner darum zu bitten; sein torkelndes Auge fand die Straßenbahnschienen, an denen er einfach entlanggehen musste. Der Weg würde ihn ernüchtern und wenn es ihm besser ging, konnte er noch immer ein vorbeifahrendes Taxi anhalten. Zügig schritt er aus und dachte an den namenlosen Fremden und die Ansichten, die dieser vertreten hatte.
Er war nicht ehrlich zu dir, sagte eine Stimme tief in ihm drin, er hat das gesagt, was du hören wolltest und das bedeutet, dass er vieles über dich weiß, sich auf dieses Treffen vorbereitet hat, dass es kein Zufall gewesen und er dachte, dass er selbst dem Ariadnefaden eines anderen gefolgt war. „Sie sind einmal an mir vorbeigegangen“, hatte der Fremde gesagt und für einen winzigen Moment war dabei die Maske von seinem Gesicht gefallen, so kurz, dass es auch Einbildung gewesen sein konnte, lang genug, dass er glaubte, Wut und grenzenlosen Hass hinter der Eloquenz des anderen zu entdecken.
Plötzlich war dort ein Geräusch, das ihn aus seinen Gedanken riss und erschreckte.
Es klang wie eine Hand mit Ring, die gegen eine Bierflasche schlägt, eigentlich ein harmloses Geräusch, dann kamen verschiedene Stimmen und Stiefelabsätze auf dem Asphalt hinzu. Er blickte nach vorne und sah eine Gruppe Jugendlicher auf sich zukommen. Sofort war da Angst, die sich in die Gedanken mischte. Er war hoffnungslos betrunken, an sich auch kein kräftiger, kein besonders körperlicher Mensch und auf der verwaisten nächtlichen Straße war niemand, der ihm hätte zu Hilfe kommen können. Ihre Bewegungen machten ihm Angst, auch sie waren betrunken, rasche hektische Bewegungen, sie traten eine plattgedrückte Dose vor sich her und er konnte nicht erkennen, ob dies nur Spaß oder bloße Aggression war. Noch bestand die Möglichkeit die Straßenseite zu wechseln, sich umzudrehen und davonzurennen, doch all dies wäre ein Zeichen von Schwäche gewesen und aggressive Jugendliche waren wie Hunde, welche die Angst riechen konnten. Er straffte seinen Gang, versuchte sich größer zu machen als er war, Automatismen, die nur die Evolutionstheorie erklären konnte, doch mit jedem Schritt, den er auf sie zuging, wurde die Angst größer. Man hörte in der letzten Zeit in den Nachrichten so oft von Übergriffen auf Passanten, von steigenden Zahlen bei den Gewaltdelikten, von oftmals sinnloser und vielleicht deshalb um so brutalerer Gewalt, die Frustration einer betrogenen Generation, die er verstehen, aber nicht gutheißen konnte. Gerade gingen sie unter einer Laterne her, Licht fiel auf ihre verkniffenen Gesichter, die kurzgeschorenen Haare, über denen bunte Basecaps schwebten. Ganz nahe waren sie nun, mussten auch ihn entdeckt haben, doch noch reagierten sie nicht, hatten ein Thema, über das sie sich stritten, keine Aufmerksamkeit für einen alternden, betrunkenen Mann auf dem Weg nach Hause.
Er ging ganz nach rechts, an die parkenden Autos, um den Jugendlichen Platz zu machen und um nicht ihre Aufmerksamkeit zu erregen, während sein Herz immer schneller schlug. Er war Schriftsteller und spielend fand sein Kopf die richtigen Begriffe, splitternde Zähne, aufgeplatzte Wunden, Schläge mit unbarmherziger Gewalt in ein flehendes Gebiss gehämmert, gleichzeitig glaubte er, dass da mehr war, eine Erinnerung, die verdrängt und dunkel sein Herz immer schneller schlagen ließ, eine Erinnerung, welche die Panik und das Zittern seiner Beine erklärte, dann waren sie an ihm vorüber, interessierten sich nicht für ihn. Die Erleichterung war übermächtig, nicht einmal die Scham, sich vor diesen Jugendlichen gefürchtet zu haben – sie waren vielleicht 18, höchstens 19 Jahre alt und somit Kinder gewesen –, nicht das schlechte Gewissen, ihnen unrecht getan zu haben, konnten diesen Moment verderben, das Gefühl davongekommen zu sein, überlebt zu haben.
„Buh“, schrie einer der Jugendlichen auf einmal in seinem Rücken, um ihn zu erschrecken und er erschrak. Das Herz machte einen wilden Satz, Schmerzen schossen durch die Brust, ein Herzinfarkt, dachte er, als seine Glieder stocksteif froren und er reglos auf sich nähernde Stiefeltritte horchte, doch da war nur Gelächter, das sich langsam entfernte und irgendwie fand er die Kraft weiterzugehen, um die nächste Ecke herum, wo er sich erneut übergab. Dann setzte er sich in einen Hauseingang, saß eine Weile zitternd auf einer fremden Fußmatte, fand schließlich die Kraft weiterzugehen. Nach und nach beruhigte er sich und obwohl er immer wieder glaubte Schritte zu hören und ängstlich in die Dunkelheit lauschte, begegnete ihm niemand mehr auf dem Weg nach Hause.
Das sechste Kapitel
Als er vor dem Haus auf der Terrasse stand, nach oben blickte und die Sterne bewunderte, die dort miteinander verschwammen, war die Übelkeit gewichen, nur noch stumpfer Rausch war geblieben, der es nicht mehr vermochte jenen symbolischen Pfahl zu bedecken. Da war auch wieder dieses Gefühl, dass er beobachtet wurde, das sich aber problemlos als Neurose oder als Paranoia erklären ließ, anders war es mit dem Unsäglichen, das sich überhaupt nicht erklären ließ und für das der Pfahl stand, an den er jetzt wieder dachte. Jener bittere Satz, dass man vor Problemen nicht davonlaufen kann, stimmte Silbe für Silbe und doch war immer die erste Versuchung die, davonzulaufen, zu vergessen. Noch einmal blickte er sich misstrauisch um, vielleicht war es keine Einbildung, vielleicht wurde er beobachtet, dann beschloss er sich zu fügen, ging mit hängendem Kopf zurück ins Kaminzimmer und setzte sich in den Ohrensessel.
Luisa war neben, vielleicht sogar noch vor dem Schreiben sein Lebensmittelpunkt gewesen, bevor das Unsägliche passiert war und der Wahnsinn sie ihm geraubt hatte. Sie war bereits gezeichnet gewesen, als sie sich kennengelernt hatten, keiner von ihnen hatte den dunklen Schatten geahnt, der damals noch im Verborgenen lauerte. Ihr Lächeln war der Schlüssel zu ihrem gemeinsamen Leben gewesen, es war dieses Lächeln, das ihm aufgefallen war, ihn verzaubert hatte. Wahrscheinlich war es zu Beginn mehr Reflex als Einladung zu einer gemeinsamen Zukunft gewesen, der Blick mehr Interesse als Aufforderung, später war es sein Lächeln geworden, dann war es verloren gegangen. Ihr zorniges, aufgebrachtes Gesicht, die leeren starrenden Augen hatten Stück um Stück das Lächeln vertrieben, bis er sich nicht mehr erinnern konnte. Sie hatte sich nicht von einem Tag auf den anderen verändert, eher war es ein schleichender, kaum wahrnehmbarer Prozess gewesen, der sich erst später immer mehr beschleunigt hatte. Er war Schriftsteller, war es gewohnt außerhalb der rationalen Grenzen zu denken, hatte vielleicht deshalb nicht bemerkt, dass sie irgendwann bei einer ihrer Reflexionen nicht mehr den Weg zurück gefunden hatte, dass ein Teil von ihr dort geblieben und niemals heimgekehrt war. Kleinigkeiten waren ihm aufgefallen, ihre zunehmende Schlaflosigkeit, die bösen Träume, die eine oder andere ungerechte Anschuldigung, doch er hatte sie geliebt und somit immer nur das Beste gesehen, hatte sich Dinge erklärt, die nicht zu erklären waren und es hatte auch schöne Momente gegeben, klare Momente, die gerade durch ihre zunehmende Seltenheit umso prägender in der Erinnerung haften geblieben waren. Je hoffnungsloser alles schien, umso emsiger hatten sie Pläne für die Zukunft geschmiedet, gemeinsame Träume geträumt und er hatte versucht nicht mit ihr zu streiten, sich zurückzuhalten, ihr ihren Willen zu lassen, obwohl er oft genug verletzt in die Fiktion geflüchtet, sich mit seinem Schreiben von der Realität abgelenkt hatte. Er hatte ihre Krankheit nicht ernst genug genommen, darauf lief alles hinaus und vielleicht war das für sie das Schlimmste gewesen, der auslösende Moment, der sie dazu gebracht hatte das Unsägliche zu tun. Als sie schwanger geworden war, hatte es für eine Weile so ausgesehen, als würde sich alles normalisieren, heute wusste er, dass es ihr nicht besser gegangen war, dass sie ihren Kummer nur besser versteckt hat. Wie oft hatten sie gemeinsam im Bett gelegen, hatte er das Ohr an ihren Bauch gepresst und dieses kleine neue Herz schlagen gehört, wie oft hatten sie einfach dagelegen und gelauscht, gemeinsam geschwiegen, wie oft war dort die Gelegenheit gewesen sie zu fragen, ob es ihr wirklich besser ging. Er war feige gewesen, hatte die Scheinwelt, ihre Schauspielerei, geliebt, aber doch geahnt, dass dort etwas verborgen war. Er hatte sie betrachtet, während sie schlief und so viele Schatten hatten auf ihrem Gesicht gelegen. Die Ironie, die bösartigste aller Ironien, war es, dass sich das Unsägliche in der Küche zugetragen hatte, in der seine Mutter auf dem Fußboden erstickt war, die bösartigste aller Ironien war, dass auch sie, dass wohl auch das Kind erstickt war, es war jener Punkt, den er nicht begreifen konnte und an dem die furchtbare Kindheitserinnerung mit der noch viel furchtbareren späteren Erinnerung, mit dem Unsäglichen, verschwamm. Wieder war er wach geworden, wieder war da Licht unter der Küchentüre in den Flur gefallen, wieder hatte er nach jemandem gerufen, der nicht antwortete. Bereits bevor er die Tür öffnete, hatte er es gewusst, hatte sich alles zu einem Bild gefügt. Er hatte mit dem Schlimmsten gerechnet und es sich doch nicht ausmalen können. Er war in den Raum gestürzt und hatte das Unsägliche gesehen.
Die Erinnerung war zu schmerzhaft, um sie wieder und wieder zu beschwören, er wollte vergessen, wusste gleichzeitig, dass er nicht vergessen konnte, niemals vergessen, niemals verzeihen. Immer wieder lief alles auf die gleiche Frage hinaus, die er sich so oft in seinem Leben gestellt hatte, die sich wohl jeder Mensch stellte, der zu stolz war, um sich einfach treiben zu lassen, die Frage, ob es Zufall oder Schicksal war, ob man an zynischen Determinismus oder an bestürzende Anarchie glaubte. Er selbst konnte mit dem Begriff Schicksal nichts anfangen, obwohl er ihn in seinen Schriften häufig und gerne verwendete, Schicksal war eine literarische Kategorie, aber das Wort Zufall war zu plump, um die Veränderung zu beschreiben, die seinem Leben, die ihrem Leben widerfahren war. Am meisten schmerzte, dass es kein spontaner Entschluss, nicht die Entscheidung zwischen zwei gehetzten Atemzügen gewesen war, sie hatte es geplant, von langer Hand geplant, wie man so sagte. Er erinnerte sich, wie er Späße gemacht hatte, als sie mit seiner Bohrmaschine in der Küche stand und ein Loch ein kleines Stück unterhalb der Decke gebohrt hatte – sie hatten hohe Decken –. Er wusste nicht mehr, was er gesagt hatte, „Luisa die Heimwerkerin“, mit ein wenig Spott, irgendetwas derartiges, er hatte nicht darüber nachgedacht, damals nicht, später immer wieder. So war das Loch entstanden, in das sie später den Dübel, dann, wahrscheinlich in der Nacht, den Haken gedreht hatte. Er selbst war zu dieser Zeit mit einem Buch beschäftigt gewesen, einem Buch, in das er große Hoffnungen gesteckt hatte, das ihm nun rückblickend – retrospektiv – schlecht und geistlos erschien. Er hatte die Bedeutung dieses Loches erst begriffen, als er den Haken, das Seil, ihren Körper entdeckt hatte, als er in die Küche gerannt war. Obwohl dieses Bild das grausamste war, das er jemals gesehen hatte, die größte Groteske, die er niemals hätte ersinnen können, hatte er zuerst nur diesen Haken betrachten können, den er in diesem Moment verstand, den Haken, an dem ihr Körper hing, nicht baumelte, weil sie von der Wand im Rücken gestützt wurde. Nackte Füße, ungefähr auf seiner Kniehöhe, darunter das Grauen, die Nabelschnur, der kleine Kopf, der viel zu früh in diese Welt gepresst worden war. Zu ihren Füßen lag sein Kind in einer schmierigen Lache, sein Kind, dessen Herzschlag er so oft durch ihre Bauchdecke gelauscht hatte, sein Kind, dessen Herz nun nicht mehr schlug, für das jede Hilfe zu spät kam.
Wie so oft, wenn er im Ohrensessel saß, den leeren Rattansessel betrachtete und an das Unsägliche dachte, war da ein plötzliches Zittern in seinem Körper, eine Art Schwächeanfall, in dem sein Körper gegen die Erinnerung rebellierte. Er versuchte ruhig zu atmen, wie es ihm der „Unfallpsychologe“ in einem Nebensatz geraten hatte, autosuggestives Training, den Körper kontrollieren, wenn die Erinnerungen zu schmerzhaft werden. Er dachte, dass man sich des Wertes einer Sache oder eines Menschen immer erst dann bewusst wird, wenn sie unwiderruflich verloren und damit Vergangenheit sind, dachte, dass dies mehr war als eine der unzähligen Kalenderblatttautologien, dass es ein Stück Lebensweisheit war, das man erst begriff, wenn es einem selbst widerfuhr. Während er immer wieder gelesen, gehört und gesehen hatte, dass fiktionale wie reale Charaktere einen Verlust spielend überwanden, war es bei ihm anders gewesen. Die Zeit heilte eben nicht alle Wunden, dieser Kalenderspruch war falsch. Ebenso war es falsch, dass man bewusst etwas gegen den Schmerz und die Erinnerung tun konnte, weder als Künstler, noch als Mensch. Er hatte diesen Schmerz nie verarbeiten können, weil sich ein solcher Schmerz nicht verarbeiten ließ, einfach blieb. Er hatte versucht all diese negative Energie, dieses Leid, aber auch diese Wut auf ihren kalten Körper konstruktiv zu nutzen, ihm Schönheit zu geben, doch auch hiermit war er gescheitert. Wie ließ sich eine Elegie schreiben über dieses Leid auf dem Küchenboden, wie sollte er auch literarisch die Bedeutung des Hakens, des Lochs hervorheben, des Lochs, das er nur registriert, nicht verstanden hatte. Von je her hatte er Menschen gehasst, welche die Frechheit besaßen von einem literarischen Werk auf dessen Autor zu schließen, die Erfindung des biographischen Interpretationsansatzes und seine unzähligen Anhänger, die jeden noch so nichtssagenden Papierschnitzel in einen großen Zusammenhang stellten. Er hasste jenes „aufgeklärte“ Bildungsbürgertum, das nur das Wort „Kafka“ hören musste, um mit schamloser Unwissenheit „Kafkas Vater“ zurückzubrüllen. Immer hatte er diese Sichtweise gehasst, doch in jenem Moment, als er dort saß, im Ohrensessel saß und der Blick zwischen dem leeren Rattansessel – er hasste Rattan – und dem aufgeschlagenen Notizbuch pendelte, dachte er, dass die Parallelen zwischen seinem Buch und seiner Wirklichkeit erschreckend zahlreich waren.
Nicht nur Luisa, die Mutter und das Kind, auch die Finsternis dieser geschändeten und brutalen Welt korrespondierten auf erschreckende Weise mit jenem Gefühl, das er in der Küche kennengelernt hatte. Er fragte sich, ob er all diese Figuren so leiden ließ, weil er selbst so gelitten hatte. Obwohl er es nicht begriff, spürte er, dass da eine geheimnisvolle Verbindung war, die seine Geschichte mit der des neuen Königs verband und so naiv und auf den ersten Blick sinnlos der Gedanke auch war, er fühlte die Hoffnung, dass er vielleicht Antworten finden würde, wenn er weiterschrieb. Wieder öffnete er die Schublade, zog einen neuen Bleistift hervor und dachte, dass er genug Bleistifte besaß, um diese wochenlang gegen die Wand zu schleudern. Er zog das Notizbuch ein Stück an sich heran, sank in seine Schreibposition, den linken Arm auf den Tisch gestützt, den rechten, der den Stift hielt, über dem Papier schwebend, Schwebezustand, der Moment, bevor die Gedanken flossen, der Moment, bevor er sich anschickte einen neuen Eimer aus der Tiefe zu ziehen. Dann begann er zu schreiben.
„Der neue König saß regungslos auf seinem Thron und blickte nach Westen, dorthin, wo der Himmel dunkler und feindlicher wurde. Er war in einen grüblerischen Zustand verfallen, zu vieles passte noch nicht zusammen, aber er begriff, dass es zwei Seiten gab, dass er selbst auf der einen, sein Feind auf der anderen stand. Er wusste weder, wer dieser Andere war, noch ahnte er dessen Ziele, aber er verstand, dass all das Leid, das er auf dem Marsch erlebt hatte, mit diesem Feind zusammenhing. Er hatte mit seinen Untertanen gesprochen und sie hatten das bestätigt, was er geahnt, vielleicht sogar befürchtet hatte. Niemand erinnerte sich an die Zeit vor dem Krieg, an die Zeit vor der Flucht, jede Erinnerung seiner Untertanen begann und endete auf dieser Straße, die am Thron vorbeiführte. Niemand wusste, wovor sie geflüchtet waren, lediglich der Geschützdonner und die Lichtblitze am Horizont waren die beständige Antwort, doch niemand konnte sagen, wofür diese standen. Erst ab dem Moment seiner Krönung, dem Moment, als er auf den Thron gestiegen war, unterschieden sich die individuellen von den kollektiven Erinnerungen. Auch wenn es nur Einzelheiten, verschwindend geringe Divergenzen waren, eine besonders schöne Blume am Straßenrand, neue Gedanken oder ein verstauchter Fuß, erst ab diesem Punkt unterschieden sich die Menschen. Fast war es so, als hätten sie erst mit jenem Moment, mit dem Ohrensessel am Straßenrand Persönlichkeit gewonnen, wären unterscheidbar geworden. Niemand von ihnen kannte seinen Namen, weil sie niemals miteinander gesprochen hatten. Der neue König verstand, dass diese Veränderung nicht nur mit ihm zusammenhing, dass sie gleichsam das Werk jenes anderen waren und es verlangte ihn mit diesem zu sprechen. In dem Moment, als er den alten König zerrissen hatte, war ihm sofort klar gewesen, dass dieser nicht mehr als eine Hülle, eine Marionette war, viel zu leicht hatte dieser seine Macht fahren lassen, eigentlich ab jenem Moment, wo er sie in Frage gestellt hatte.
’Rede mit mir’, sagte der neue König und wusste, dabei, dass der andere ihn verstand.“
Diesmal ließ sich der Stift ohne jeden Widerstand beiseite legen. Nichts hielt ihn zurück, er begriff, dass der neue König bereit war zu kooperieren, lachte kurz und gehetzt über diese Idee und beschloss dann ihm einen Boten zu senden.
„Der Bote war ein sympathischer junger Mann, Anfang dreißig, der perfekte Bote, voller Demut und Pflichtgefühl, vielleicht ein wenig so wie Barnabas in Kafkas Schloss, er kannte bereits den Ernst des Lebens, hatte aber noch nicht die Begeisterung der Jugend verloren. Sein Gang war elegant, aber nicht hochnäsig, die Personifizierung des Wortes Diplomatie, jemand, der ausgewählt worden war, um dem Gesprächspartner zu schmeicheln. Tief verneigte er sich vor dem neuen König, der ihn interessiert betrachtete.“
Wieder unterbrach er das Schreiben, um einen Moment nachzudenken. Der Bote war eingeführt, stand dem neuen König gegenüber, doch er wusste nicht, was er ihn fragen sollte. Der Entschluss einen Boten zu erschaffen war ein spontaner Gedanke gewesen, angeregt durch den neuen König, der mit ihm sprechen wollte, doch ihm fiel keine Frage ein.
„Schweigen hing zwischen dem Boten und dem neuen König, beide betrachteten sich und der Bote konnte, trotz aller Erfahrung und Beherrschtheit, ein leichtes Zittern seiner Beine nicht verhindern, als er die Ernsthaftigkeit im Gesicht des neuen Königs begriff, diese Strenge, die ihm, obwohl er nichts als Bote war, ein schlechtes Gewissen einflößte.
„Nenn mir deinen Namen“, sagte der neue König und seine Stimme war mild, bildete einen scharfen Kontrast zu diesem ernsthaften Gesicht.
Der Bote zögerte, überlegte, dachte nach, bemerkte, dass er keinen Namen hatte und fiel vor dem neuen König auf die Knie.
„Ich bin nur Bote“, sagte er zögernd, „ich habe keinen Namen.“
„Erzähl mir deine Geschichte“, sagte der der neue König und erst jetzt fiel dem Boten auf, dass er keine Geschichte hatte, dass seine Geschichte erst jetzt, in diesem Moment begonnen hatte.
„Ich kenne meine Geschichte nicht“, flüsterte der Bote, „ich bin nur Bote.“
„Was ist deine Botschaft?“, fragte der neue König und erst jetzt sprudelten die Fragen hervor.
„Was ist mit dem Kind?“, fragte der Bote.
„Dem Kind geht es gut“, antwortete der neue König und er dachte an das friedliche Gesicht, das auf den Blättern gebettet schlief und nicht tot war.
„Wie geht es der Mutter?“, fragte der Bote, dem wie von Geisterhand die richtigen Fragen einfielen, und „Auch der Mutter geht es gut“, antwortete der neue König und sie trat hinter dem Thron hervor und legte ihren Arm auf seine Schulter.
„Was willst du?“, fragte der Bote, die vielleicht wichtigste Frage.
Der König dachte einige Momente nach, bevor er antwortete:
„Freiheit“, sagte der neue König,
„Frieden“, sagte der neue König,
„Erbarmen“, sagte der neue König.
„Ich habe keine Geschichte“, sagte er dann, „genau wie du keine Geschichte hast. Niemand in diesem Zug der Verlorenen hier hat eine Geschichte, allesamt flüchten sie und wissen nicht wovor, haben sich diese Frage nie gestellt. All ihre Existenz ist Grauen, Flucht und Verzweiflung. Allesamt tragen sie Gegenstände, Koffer und schwere Pakete, die aus einer Vergangenheit stammen müssen und die nicht alle leer sein können. Relikte einer Vergangenheit, die sie nicht kennen.
Wir wollen nicht mehr flüchten“, sagte der neue König mit ernster Stimme, wir möchten hier bleiben, ein Dorf errichten, eine Stadt aufbauen, eine Verfassung bilden, nicht mehr flüchten, ankommen, ankommen und bleiben.“
Während der neue König sprach, war der Bote immer trauriger geworden, schmerzhaft hatte er erkannt, dass auch er keine Geschichte, keine Mutter, keine Kindheit hatte. Nichts war in seinem Kopf als der Auftrag, der Botengang, sonst nichts als Leere, Bestimmungslosigkeit.
Während der neue König sprach, hatten sich die Flüchtenden nach und nach um den Thron versammelt, einige hatten sich gesetzt, still zugehört, doch auf einmal kam Bewegung in die Gestalten. Mit den Worten des neuen Königs erinnerten sie sich an die schweren Koffer und Pakete, die sie mit sich trugen und obwohl sie eine große Ehrfurcht vor der Stimme ihres Herrn hatten, öffneten sie ihre Pakete und immer wieder durchbrachen kurze Freudenrufe das Gespräch, wenn jemand etwas entdeckte, das der Gegenwart eine Vergangenheit gab. Jedes Paket enthielt eine Erinnerung, Feierlichkeiten, einzelne Personen, das erste Auto, die erste Freundin, aber auch traurige Erinnerungen, wie die Beerdigung von Luisa, die schwierige Entscheidung, ob ein oder zwei Särge für die Beerdigung bestellt werden sollten.“
Mit einem zornigen Aufschrei schleuderte er den Stift beiseite, weil er es in jenem Moment begriff, weil er verstand, was dort vor sich ging. All diese Päckchen, verschnürten Bündel,
all dieser Ballast, den die Flüchtenden getragen hatten, waren seine eigenen Erinnerungen, seine eigene Geschichte und er begriff, dass er sich das Lächeln von Luisa nicht mehr ins Gedächtnis rufen konnte, weil sich der neue König an sie erinnerte. „Die schwierige Entscheidung, ob ein oder zwei Särge für die Beerdigung bestellt werden sollten.“ Er las den letzten Satz noch einmal, dachte, dass er sich letztendlich für einen Sarg entschieden hatte, dachte dann, dass er sich an den Moment der Entscheidung nicht erinnern konnte. Wahrscheinlich hatte er genau an dem Platz gesessen, an dem er nun saß, auf dem Ohrensessel, weil er auf dem Ohrensessel am besten denken konnte, aber er erinnerte sich nicht. Er begriff, dass er für dieses Buch einen hohen Preis zahlte, dass dieses Buch, wenn es denn einmal vollendet sein würde, seine Geschichte, seine Erinnerungen, sein Leben aufgesogen haben würde. Der neue König füllte die Leerstellen seiner Welt mit den Erinnerungen seines Schöpfers, seines Erfinders.
„Ich verliere meine Identität“, sagte er laut in das leere Kaminzimmer, um diesen Gedanken in seiner Ungeheuerlichkeit fassen zu können und er sah vor seinem geistigen Auge diese Schar von Menschen, die in seinen Erinnerungen wühlten, Dinge hervorzogen, die kostbar und sein Eigentum waren, aber auch Dinge, die er tief im Vergessen begraben hatte und die sie nun ohne jeden Sinn für Pietät, wie gierige Raubtiere, aus dem Dickicht der Gedanken hervorzogen.
Immer noch wütend zog er einen neuen Stift hervor, grübelte, dachte nach, schrieb:
„Der Inhalt dieser Pakete gehört nicht euch“, rief der Bote, „es ist nicht recht sie zu öffnen. Es ist Unrecht“, rief er und die Flüchtlinge erstarrten in ihrer Bewegung, blickten hinüber zum neuen König, warteten, wie ihr Herr entscheiden würde.
„Alles was in diesen Koffern ist, gehört meinem Herrn“, sagte der Bote und obwohl er Angst vor dem neuen König hatte, blieb seine Stimme fest, weil er einen Auftrag hatte.
„Wer ist dein Herr?“, fragte der neue König und als dem Boten keine Antwort einfiel, als er unruhig von einem Bein auf das andere trat, erhob sich der neue König und trat hinunter zu ihm.
„Ich gebe dir einen Namen und damit eine Heimat“, sagte der neue König und legte dem Boten seinen schweren Arm auf die Schulter.
„Und wenn du einen Namen hast, kannst du dir eine Geschichte, eine Vergangenheit suchen.“
Der Bote schwankte, dachte an die Order, an den Auftrag, doch er fand nichts, was sich den Worten des neuen Königs entgegensetzen ließ, kein Widerstand, obwohl er den Zorn seines Herrn spürte.
„Ich nenne dich Gérard“, sagte der neue König und legte seinem neuen Untertan die Hand auf die Stirn und „ich schenke dir Frieden“, sagte er und noch während er sprach, fuhren die Untertanen fort die Koffer zu öffnen, zeigten sich gegenseitig die Schätze, die darin verborgen waren, lachten und weinten gemeinsam über ihr neues Leben.“
Der innere Rezensent in ihm schrie auf, alles in ihm strebte dem Ausgang zu, er konnte nicht mehr weiter schreiben, alles in ihm sträubte sich und der neue König ließ ihm den Rückzug, allein weil er wusste, dass er wiederkommen würde. Erschrocken fand er sich in seinem Ohrensessel wieder, die Augen starr auf die letzten Sätze geheftet, Gérard, den er irgendwie in diese Sache hineingezogen hatte, Gérard, der nicht nur sein Verleger, sondern auch ein Freund gewesen war. Doch war er das tatsächlich? Er suchte in seiner Erinnerung nach Verbindungen, die Schulzeit, dann das Studium. Er hatte Gérard während seines Studiums kennengelernt, in einem Seminar über die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts, Schiller und der Begriff des Schönen. Gérard war der einzige gewesen, der ihm widersprochen hatte, die ganze Veranstaltung war zu einer einzigen Diskussion zwischen ihnen beiden geworden, doch er wusste nicht mehr, was der eigentliche Gegenstand dieser Diskussion gewesen war. Er erinnerte sich, wie sie gemeinsam nach dem Seminar weiterdiskutiert hatten, wie sie Richtung Westen vom Universitätsgebäude weggeschritten waren, Nachmittag war es gewesen, aber wo waren sie hingegangen. Jede Erinnerung an Gérard enthielt diese klaffenden Lücken, die Hochzeit mit seiner Frau, die Giselle hieß, der Schleiertanz, doch er konnte sich nicht mehr an Gérards Rede erinnern, wusste aber, dass Gérard eine Rede gehalten hatte, wusste, dass er ihn erwähnt und etwas Nettes, etwas Kostbares gesagt hatte. Er dachte, dass dieses Buch ihn tatsächlich seine Existenz kosten würde, dass bereits viel verloren, unwiederbringlich verloren war. Erst in diesem Moment kam er zu dem Entschluss, der die ganze Zeit im Hintergrund verborgen gelauert hatte, den er nicht hatte wahrnehmen wollen, weil er ungeheuerlich war. Er würde das Manuskript vernichten, verbrennen, das beste, das er jemals geschrieben hatte, ins Vergessen schleudern, bestaunen, wie die Flamme Seite um Seite fraß, wie der Rauch zum Himmel stieg. Es wäre die schmerzhafteste, die größte Niederlage seiner schriftstellerischen Laufbahn, er würde nie wieder ein Buch schreiben, würde etwas anderes tun, von seinen Ersparnissen, von seinen Erinnerungen leben.
Er glaubte nicht, dass all das, was er bereits verloren hatte, wiederkehren würde, wenn er das Manuskript vernichtete, er würde lediglich verhindern, dass er noch mehr verlor, Schadensbegrenzung, dachte er und kurzentschlossen griff er nach dem Notizbuch, trat hinaus auf die Terrasse.
Recht weit hinten im Garten, dort wo der efeubewachsene Holzzaun sein Grundstück von dem des Nachbarn abtrennte – er hasste neugierige Blicke – , stand der alte Holzkohlegrill, bereits damals ein billiges Modell, das Regen, Rost und Verwitterung nicht schöner gemacht hatten.
Obwohl es viele Jahre her war, dass er ihn an diese Stelle getragen hatte, erinnerte er sich noch genau an jenen Moment, Luisa in einem roten Kleid, eine Fleischplatte in den Händen, er selbst fluchend über den Wind, der Funken in die ausgetrockneten Büsche trieb, Sommer war es gewesen, gegen Ende des Sommers, einige Wochen, bevor das Unsägliche passiert war. Seitdem stand er dort, nutzlos und entartet, manchmal Vogeltränke und vielleicht nur in den Hintergrund gerückt, um in diesem Moment wieder an Bedeutung zu gewinnen, brennen sollte sein Manuskript und mit ihm die Angst, der Zweifel und der neue König. Er warf das Notizbuch voller Geringschätzung in die Feuerschale, zerriss es aber nicht, weil er sich den Moment der letzten Entscheidung, den sprichwörtlichen „point of no return“ – einer der wenigen Anglizismen, die er mochte – noch ein wenig hinauszögern wollte. Überhaupt wich die Sicherheit des ersten Impulses sehr rasch, falsch kam ihm die Kombination aus beschriebenen Seiten und primitivem Feuer vor. Er hatte noch nie etwas verbrannt, das ihm etwas bedeutet hatte, lediglich Anfänge, die sich im Nichts verloren, sinnlose Gedanken, die sich im Kreis bewegten, niemals aber Zeilen, an die er geglaubt hatte. Doch es half alles nichts, er wollte es beenden. Mit einem Ruck riss er sich von dem Anblick des geschändeten Notizbuches los, dessen Seiten hilflos im Wind flatterten und rannte voller Trotz hinüber in die Garage, um Grillanzünder, Spiritus oder einen anderen Brandbeschleuniger zu holen. Es war seine Entscheidung und nichts und niemand konnte sie beeinflussen.
Als er dann aber vor dem vollgestopften Regal stand und die Etiketten der zahlreichen Flaschen studierte, wich die Gewissheit bereits neuen Zweifeln. Es war nicht nur der Gedanke der Niederlage, des Verlustes, des beschämenden Rückzuges, der mit der Vernichtung seines Werkes einherging, da war gleichzeitig auch ein gewaltiger Widerwille, unschuldige Wörter, Sätze und Buchseiten der Vernichtung preiszugeben. Sätze konnten nichts für den Kontext, in dem sie standen, oder für die Zeit ihrer Schöpfung. Er dachte an jene dunkle Epoche, in der sein Volk die Blüten der eigenen Literatur auf die Scheiterhaufen geworfen hatte, das Leiden der Expressionisten, Höhenflüge des deutschen Geistes, selbst Nietzsche hätten sie verbrannt, wenn sie ihn verstanden hätten. So stand er eine Weile dort und fühlte sich schuldig, suchte gedanklich einen Ausweg und fand dann eine Flasche mit flüssigem Grillanzünder und vergilbtem Etikett. Leicht entflammbar, ein Gefahrenhinweis, dann stand er wieder vor dem Grill, betrachtete das Notizbuch und das Spiel des Windes mit den Seiten, „Der neue König“, las er und dann „Dämmerung“ und „Morgenröte“. Er öffnete die Flasche, roch augenblicklich den scharfen Geruch und wusste, dass er es nicht tun konnte, ebenso wie damals, als er im Schwimmbad ganz oben auf dem Sprungturm gestanden hatte.
„Blut von meinem Blut, Fleisch von meinem Fleisch, Saat meiner Gedanken“,
murmelten die Lippen, immer noch zögerte er, jede Entscheidung war die Vernichtung aller Alternativen und emsig blätterte der Wind, unzählige Seiten seiner eigenen engzeiligen Schrift,
„Luisa“ stand dort und konnte er das tun, ihren Namen verbrennen?
Suchend blickte er sich um, das Gefühl von Scham, die Leiter wieder hinuntersteigen, und er fühlte sich beobachtet, wie so oft, wenn er im Garten stand, irgendwo war ein Zeuge seiner Niederlage.
„Komm doch raus!“, schrie er in den Wind, auch um der Wut auf sich selbst eine andere Richtung zu geben, doch da war keine Reaktion.
Wie beiläufig nahm er das Notizbuch zurück aus der Feuerschale und säuberte es an seinem Hemd, „ich weiß doch, dass du da bist“, sagte er schon leiser, zweifelnder, mehr zu sich selbst.
Achtlos ließ er die Flasche fallen und wurde bereits ruhiger, als er auf die Terrasse zuschritt.
Er durfte nicht paranoid werden, sich nicht zu sehr von seinen Gedanken fortreißen lassen. Der Zwang zu schreiben mochte eine verworrene psychologische Erklärung haben, ein tatsächlicher Spion, der sich in seinem heruntergekommenen Garten herumtrieb, wäre selbst aus dem Drehbuch der geistlosen Vorabendserien gestrichen worden. Eigentlich ging es auch nur um dieses Buch, den „neuen König“, und darum, dass er verlor, wenn er einfach aufgab. Sorgfältig verschloss er die Terrassentür, nachdem er ins Kaminzimmer zurückgekehrt war, und als er dann im Ohrensessel saß, musste er wieder an Luisa denken und dass er ihr Lächeln verloren hatte.
Allein dieses Lächeln erschien ihm in diesem Moment als unschätzbarer Wert und er überlegte, dass es einen anderen Weg geben musste, irgendeine Möglichkeit, bei der er das, was er verloren hatte, zurückbekommen konnte. Er dachte, dass er nichts überstürzen durfte, überall lauerten Abgründe und er würde erst einmal gar nichts tun, vielleicht eine Flasche Wein öffnen und Gérard, seinen Verleger und vielmehr noch sein Freund, in den nächsten Tagen anrufen, ihm diesmal die Wahrheit sagen und auf seinen Rat hören.
Das siebte Kapitel
Morgens, wenn er aufstand, führte ihn der erste Gang zunächst immer hinunter zum Briefkasten. Als Schriftsteller stand er in einem engen Verhältnis zur Post, denn sie war der hauptsächliche Kontakt zur Außenwelt. Ebenso wie es immer ein besonderer Moment war, eines der Manuskripte in den Briefkasten am Ende der Straße zu werfen, der Moment, in dem er einen Text losließ und ihn in fremde Hände legte, war es ein besonderer Moment, den Briefkasten zu öffnen, der potentiell immer eine Antwort, ein Vertragsangebot oder eine persönlich formulierte, ewig aus den gleichen Textbausteinen zusammengesetzte Absage enthalten konnte.
Er hasste es, seine Schriften, seine persönlichsten Gedanken in die Hände von Minijobbern und Teilzeitlektoren zu legen, hatte aber in den Jahren schmerzhaft akzeptiert, dass dies der einzige Weg war, durch den seine Worte von der Welt gehört werden konnten. Die Kunst war es nicht, einen außergewöhnlichen Text zu schreiben, die Kunst bestand darin, in dem Heer der inkompetenten Lektoren jemanden zu finden, der seinen Gedanken folgen konnte. In der Zeit, bevor Gérard sein Lektor geworden war, war er vollständig abhängig von dem Gutdünken dieser Literaturvernichter gewesen, hatte ihnen wieder und wieder seine Texte geschickt und wieder und wieder ihre Absagen gelesen. „Wir bedauern Ihnen mitteilen zu müssen“, war einer dieser Anfänge, ab dem er nicht weiter las und immer wieder hatte er jenen Zwiespalt gespürt, jenen großen Widerspruch, der die heilende Wirkung der Kunst nahezu vollständig vernichtete. Verlage waren nichts als Verkaufsstellen, auch das war eine schmerzhafte Erfahrung gewesen. Der intellektuelle Schein, die vorgeschobenen Ideale, die diese findigen Unternehmer veranlasste Namen wie Herder, Goethe oder Schelling in ihre Briefköpfe hineinzudrucken, hatte ihn lange Zeit darüber hinweggetäuscht, dass das einzige Ziel eines Verlages die Profitmaximierung, nicht die Edition eines guten Buches war. Übersetzungen erfolgreicher ausländischer Autoren, Bücher, die den Zeitgeist trafen, also an einem Tag für den nächsten geschrieben wurden, waren das, wonach die Lektoren suchten.
So spaltete sich dieses Heer in die gutbezahlten und versierten Lektoren, die ständig um die Welt reisten, um für Millionen und Abermillionen von Dollars Übersetzungsrechte und Banalitäten zu suchen, und die andere Gruppe, die unterbezahlten und somit frustrierten Literaturvernichter, die mehr Zeit an den Reißwölfen, als bei der eigentlichen Lektüre verbrachten, die nur existierten um den Schein zu wahren und so zugleich auch nur zum Schein ihren Beruf ausübten. Alles ist nichts als Schein, dachte er, als er den Briefkasten öffnete, der Versuch den Schein zu wahren, „Senden Sie uns gerne ihr Manuskript, wir vernichten es für Sie“, das wäre ehrliche und zeitgemäße Werbung für die großen Verlage gewesen, denen er trotz besseren Wissens immer wieder seine Manuskripte schickte. Dann entdeckte er den Brief.
Das Kuvert war weder adressiert noch gestempelt, nichts als ein einfacher weißer Umschlag, den jemand persönlich durch den Schlitz geschoben haben musste. Lange betrachtete er ihn und tat dies mit einem unguten Gefühl, bevor er ihn dann öffnete. Zumeist bekam er nur Werbung, keine Briefe – wenn man von den Absagen und gelegentlichen Autorenabrechnungen absah –, Werbung, die unverschämterweise an ihn persönlich adressiert und somit als Brief getarnt war. Dieser Brief war anders, es klebte eine Ahnung an dem blütenweißen Umschlag.
Er öffnete das Kuvert, während er hinüber ins Kaminzimmer ging, wunderte sich über das altertümlich dicke Papier, das er entfaltete, etwa in der Mitte des Raumes blieb er stehen.
„Hinter jedem Wort verbirgt sich Schuld!“, stand dort in einer eleganten und geschwungenen Handschrift, einer Schrift mit vielen kleinen Kringeln und großzügig verzierten Anfangsbuchstaben, einer Schrift, die eine frappierende Ähnlichkeit zu der Schrift seiner toten Mutter aufwies. Ratlos stand er eine Weile dort und dachte mehr über die Schrift als über die Botschaft nach. Die Mutter hatte, als sie noch jung und die Farbfotografie neu und modern war, leidenschaftlich gerne Fotos gemacht, unzählige dicke und inzwischen verstaubte Alben gefüllt, tausende Fragmente, Mosaiksteine eines vergangenen Lebens, die sie sorgfältig Stück für Stück mit vier Fotoecken für die Ewigkeit gebannt hatte. Gerade in der Zeit nach ihrem Tod hatte er öfters die alten Fotos betrachtet und, darum dachte er an die Alben, sie hatte gelegentlich kleine Kommentare zu besonderen Ereignissen neben die Bilder geschrieben:
„Sommer 53 in der Toskana“, manchmal mit ungelenkem Sprachgefühl und humoristischen Hintergedanken. „Nicht so ernst, Ernst“, war einer der kreativeren Sprüche, an den er sich erinnerte. Noch immer den Brief in der Hand, rannte er mehr als er ging die Treppenstufen hinab in den Keller und zog wahllos eines der dicken Alben aus der endlosen Reihe. Dann kehrte er zurück ins Kaminzimmer, ließ sich in den Ohrensessel fallen und schlug das Album auf. Bereits die erste Seite bestätigte seine Ahnung, doch er wollte und konnte es nicht glauben, es machte keinen Sinn, war unerklärbar, letztendlich Wahnsinn und so blätterte er weiter, bis er auf der vierten Seite innehielt. „Das ist aber nicht meine Schuld!“, stand dort neben dem Bild einer zwischen Zorn und Lachen hingerissenen etwas dicklichen Frau, die neben seiner schmunzelnden Mutter stand und mit der rechten Hand auf einen blutroten Weinfleck auf ihrem leuchtend gelben Kostüm wies. „Das ist aber nicht meine Schuld!“,
die gleichen Kringel, die gleiche zeitaufwendige Verzierung des großen „S“. Erst jetzt, wo dieser erste Gedanke, die frappierende Ähnlichkeit, bestätigt war, dachte er über den Sinn der Botschaft nach. „Hinter jedem Wort verbirgt sich Schuld!“, ebenfalls mit einem Ausrufezeichen, so als hätte der Schreiber das Foto gekannt und versucht darauf anzuspielen.
Es machte keinen Sinn und doch war es das gleiche Ausrufezeichen, der Punkt mehr ein Strich, der Strich, mehr geschoben als gezogen, mit einer gewissen Schräge von links unten nach rechts oben. Er hatte sich immer gegen den Schicksalgedanken gewehrt, ebenso, wie er nicht wirklich an Zufälle glaubte, und doch waren in seinem Leben so viele Dinge geschehen, die auf erschreckende Weise zusammenpassten, auch wenn das verbindende Glied im Verborgenen blieb. Der Tod der Mutter und das Unsägliche, die Küche, die zahlreichen Absagen, hinter der er verschwörungstheoretisch dieselbe Hand vermutete, das Gefühl beobachtet zu werden, all das verwies darauf, dass er einen Aspekt übersah. Wäre sein Leben ein Roman gewesen, dann wären die einzelnen Bedeutungen irgendwo zusammengelaufen, die verschiedenen Ereignisse hätten in ein finales Ereignis gemündet, ob dies nun Descartes’ Täuschergott oder die postmoderne Vorstellung einer Matrix war, aber es war eben kein Buch, das er las, es war die Realität, die er erlebte. Die Realität sagte, dass es Zufall war, dass dort draußen ein Mensch existierte, der eben einfach exakt die gleiche Handschrift wie die tote Mutter hatte, ebenso, wie einer aus einer unendlich großen Zahl von Affen durch fortwährendes sinnloses Tippen auf Schreibmaschinen die Bibel samt Einhaltung aller gültigen Interpunktionsregeln verfassen konnte, doch er hatte nicht unendlich viele Briefe bekommen, genauer gesagt nur einen, der erste Brief seit Jahren, der nicht gedruckt, sondern geschrieben worden war. Dann erinnerte er sich. Die Bar, „Kings Cross“ in roten Farben in der Dunkelheit leuchtend, der seltsame Fremde mit der Behinderung, das Buch „Milch“, auch ein nahezu unglaublicher Zufall, dass jener es gelesen hatte, der eingewachsene Zehennagel, die rostige Rasierklinge, auch der Fremde hatte über Schuld gesprochen. Langsam kehrte die Erinnerung zurück.
Wenn er vorsätzlich zu schnell und zu viel Alkohol trank – was ohne Vorsatz so gut wie nie in seinem Leben passiert war – , geschah es, dass er Dinge zeitweilig vergaß, niemals vollständig, aber so, dass es eines äußeren Ereignisses bedurfte, um sie wieder in Erinnerung zu rufen. Doch warum schickte der Fremde ihm diesen Brief, warum rief er sich auf diese mysteriöse Art ins Gedächtnis zurück. Er hatte den Brief persönlich eingeworfen, warum hatte er nicht geklingelt. Trotz aller Skrupel hätte er ihn eingelassen, jetzt, wo er wieder an den Fremden dachte, war da auch wieder die Neugier, die Geschichte hinter der Geschichte, die ihn interessierte. Der Fremde war eine Erklärung für den Brief, aber er erklärte mitnichten die Handschrift. „Schuld“, das zentrale Element dieses Briefes, mehr als eine Anspielung auf seine Exegese von „Milch“, tiefergehender, er war sich nicht sicher, ob dort ein Vorwurf mitschwang, aber man konnte den Brief auch als Anklage lesen, doch was war sein Verbrechen. Er legte den Brief beiseite.
In seiner Karriere als Schriftsteller hatte er manchen wahnwitzigen Brief bekommen, wüste Beschimpfungen und schmachtende Liebesgeständnisse hatten sich abgewechselt, aber keiner dieser Briefe, die er einmal im Monat aus seinem Postfach abholte, waren durch seinen Briefkastenschlitz gewandert. Er dachte sich, dass der Fremde etwas von ihm wollte, sich nicht traute es zu sagen, vielleicht war es nicht einmal Zufall gewesen, dass sie sich in der Bar getroffen hatten. Irgendwie hatte er die Handschrift der Mutter herausgefunden und es wohl für besonders originell gehalten, ihn auf diese Art zu überraschen, er wusste es nicht. Es war absurd, aber nicht gänzlich ausgeschlossen. Obwohl er nicht viel über den Mann wusste, mit dem er einen Abend lang über Literatur diskutiert hatte, glaubte er nicht, dass dieser gefährlich war. Die Bedrohung, die von ihm ausging, war subtiler, nicht gewalttätig.
Er dachte, dass er einfach abwarten musste, dass dieser Fremde, wenn er denn ein Ziel hatte, wieder in Erscheinung treten würde. Schließlich wollte er etwas von ihm, auch wenn er nicht im Geringsten ahnte, was dies denn sein konnte. Vielleicht nichts als ein übereifriger Fan, dachte er, und obwohl dieser Gedanke ihn nicht überzeugte, vermochte er es, ihn zu beruhigen.
Überhaupt war dies alles nichts als Ablenkung von seinem Buch, vom neuen König, der seinen Boten einfach vereinnahmt hatte. Er warf einen letzten abschließenden Blick auf das junge Gesicht der Mutter, die mit fragenden Augen zurücksah, schlug das Album zu und legte auch den Brief beiseite, dann griff er nach dem Notizbuch, las die letzten Sätze, fühlte erneut jene Empörung, mit der aufgehört hatte zu schreiben.
„Der neue König wartete, bis sich alle Untertanen um ihn herum versammelt hatten. Prüfend und voller Mitleid betrachtete er die dürren Menschen und die Hoffnung, die ihm aus so vielen Augen entgegenglänzte.
„Ihr habt gelitten, wie ein Volk nur leiden kann“, rief er den Untertanen zu,
„wir haben gelitten, ohne zu wissen wofür, ohne jegliche Hoffnung auf Erlösung.“
Es war still geworden. Anfangs war da noch ein gelegentliches Murmeln gewesen, längst waren noch nicht alle Pakete geöffnet, doch jetzt schwieg das Volk und lauschte auf die Stimme ihres neuen Königs.
„Wir haben keine Vergangenheit gehabt, nichts, das hinter uns lag und so haben wir auch keine Zukunft gehabt, nichts als der Staub der Straße und der Geschützlärm in unserem Rücken, nichts als der Staub der Straße und die Ungewissheit vor uns. Wir haben nicht wirklich existiert“, rief der neue König, „und nun ist es an der Zeit unser Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Wir sind davongelaufen, ohne zu wissen, woher wir kamen, davongelaufen ohne Ziel, wir wussten nichts über die Koffer auf unseren Rücken, haben sie einfach akzeptiert, haben sie wie ein Schicksal ertragen. Es gibt kein Schicksal“, schrie der neue König, „nichts, auf das ihr vertrauen könnt. Ihr wisst nicht, wer ihr seid und so werde ich euch Namen geben, ihr habt keine Geschichte und ich werde euch eine schenken.“
Jetzt war jegliche Konzentration auf den neuen König gerichtet, wie durch ein Brennglas bündelte sich die Aufmerksamkeit in ihm, ließ ihn leuchten, als er sich erhob und dem ersten seiner Diener die Hand auf die Stirn legte. „Als Kind hast du dich, wenn du Angst hattest, immer im Baumhaus versteckt.“
Er erinnerte sich auf einmal: das Baumhaus, eine schiefe Konstruktion aus groben Leisten gezimmert, kein wirkliches Baumhaus, mehr eine Plattform zwischen den Zweigen, die er mit Ästen und losen Blättern abgedeckt hatte, das Baumhaus, in das er sich geflüchtet hatte, wenn die Stimme der Mutter diesen bedrohlichen Klang bekam.
„Du hast dort gesessen und dir die Ohren zugehalten, wolltest ihre Stimme nicht hören und hast sie doch gehört, hörst du die Stimme deiner Mutter“, fragte der neue König und der Diener nickte stumm. „Du warst noch klein, aber du wusstest, dass sie die Strickleiter nicht hochklettern konnte, wusstest, dass sie dir dort nichts tun konnte, wusstest, dass du trotzdem wieder zu ihr hinuntersteigen würdest, um deine gerechte Strafe zu erhalten.“
Er schluckte. Wort für Wort stand dort die Wahrheit, es war sein Erlebnis, seine Erinnerung, doch erst jetzt, wo es Buchstabe für Buchstabe in seinem Notizbuch stand, wusste er, dass dies wirklich passiert und dann einfach verschwunden war. Mehrere Male hatte er dort gesessen und gehört, wie ihre Empörung und ihr Zorn in geheuchelte Trauer und in Verzweiflung übergingen, Verzweiflung, die er nicht ertragen konnte, obwohl er wusste, dass sie nicht gespielt war.
„Warum tust du mir das an?“
Ein Satz, der sich damals tief in sein Gehirn eingebrannt hatte, Schuld, die keine war, er war ein Kind gewesen. Und es stimmte, er war immer wieder hinuntergeklettert. Unzählige Male hatte er dort oben gesessen und beschlossen niemals wieder hinunterzusteigen, zu verhungern, zu verdursten, nur niemals wieder in die Arme der Mutter zurückzukehren. So oft hatte er sich in kindlicher Verzweiflung geschworen, diesmal nicht auf ihre falschen Tränen hereinzufallen, diesmal den Stolz zu bewahren, sich durchzusetzen, doch er hatte es nie lange ausgehalten. Dann fand er aus der Erinnerung in den Ohrensessel zurück, betrachtete kritisch die letzten Sätze, die ihm nicht gefielen. Unabhängig von dem Auftauchen seiner Kindheitserinnerung gefiel ihm der Stil nicht, die Trivialität der Bilder, das Baumhaus. Er dachte sich, dass er den Pathos und das Mysterium des neuen Königs zerstören würde, wenn er ihn kleine Alltagsgeschichten an seine Untertanen erzählen ließ. Wieder dachte er aber auch, dass er etwas verloren hatte. Wenn er über dieses Baumhaus las, dann wusste er, dass dies ein Stück seiner Geschichte war, aber die eigentliche Erinnerung ließ sich nicht zurückrufen. Es war möglich, von der Beschreibung auf seinen damaligen Gemütszustand zu schließen, er war zornig, verzweifelt, hilflos gewesen, aber die eigentliche Erinnerung an das, was er in jener Nacht gefühlt hatte, war auf merkwürdige Weise einfach verschwunden, es war, als ob das Baumhaus in seinem Manuskript das eigentliche ersetzt hatte.
Es war das zweite Mal, dass ihm dieser Gedanke kam, der trotz aller Monstrosität irgendwo Sinn machte. Er hatte immer geglaubt, dass die Persönlichkeit eines Menschen nichts als die Ansammlung seiner Erinnerungen war, ein bloßes Konglomerat des Erlebten, ob bewusst oder unbewusst, Erinnerungen, die nach einer unbekannten Formel gemeinsam die Persönlichkeit konstituierten. Wenn man diesen Gedanken vereinfachte, bedeutete dies
– zumindest bedeutete es dies für ihn – , dass mehr Erinnerungen mehr Persönlichkeit, weniger Erinnerung weniger Persönlichkeit zur Folge hatten. Und so, wie ein Demenzkranker immer ungeprägter und roher wurde, je mehr der Konventionen, die er mühsam erlernt hatte, er vergaß, desto unbestimmter und leerer würde er werden, je mehr seiner Erinnerungen von diesem Flüchtlingszug aufgesogen würden. Dass dies alles physikalisch betrachtet Unsinn, nicht erklärbar und somit – denn so funktionierte Wissenschaft – falsch war, änderte nichts daran, dass es einem versteckten Sinn folgte.
„Wir müssen erst lernen Mensch zu werden“, schrieb er, irgendwo zwischen Rousseau und der Rede des neuen Königs, dann Büchner „Friede den Hütten. Krieg den Palästen“ und er merkte, wie er abschweifte, sich nicht auf den Fortgang der Geschichte konzentrieren konnte, vielleicht aber auch gleichzeitig zu konzentriert war. Die ganzen letzten Sätze kamen ihm falsch und unwirklich, er selbst kam sich getäuscht vor. Dies war nicht der neue König, dies war eine Ablenkung, eine Fiktion in der Fiktion, deswegen so seltsam gestelzt, sinnlose Phrasen, die er aneinander reihte und er dachte, dass in seiner Geschichte gerade etwas anderes passierte, dass schon das Baumhaus ihn vom eigentlichen Geschehen ablenken sollte. Er legte den Stift beiseite, ohne darüber nachzudenken, ohne jeglichen Widerstand und plötzlich begriff er, dass er nicht an der eigentlichen Geschichte schrieb, dass er gar keinen Zugang zu der Welt des neuen Königs gefunden hatte. Gedanken schossen ihm durch den Kopf, der merkwürdige Fremde, der seltsame Brief, und er nahm sich vor noch einmal bei der Bar „Kings Cross“ vorbeizugehen. Vielleicht kam der Fremde öfter in diesen Laden, vielleicht kannte man ihn dort, vielleicht war es möglich, mit ihm in Kontakt zu treten. Dann wandte er sich geistig endgültig von dem neuen König ab, dachte, dass man wie beim Glückspiel die Lösung nicht erzwingen konnte, dachte an den Brunnen, die geheimen Zugänge, dass es fließen musste, was einfach nicht immer geschah. Immer wieder dachte er an den Fremden, bis das Telefon klingelte.
Das achte Kapitel
„Es kam alles ganz plötzlich“, sagte die stammelnde, zunächst nicht eindeutig weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung, in der er schließlich Giselle erkannte. „Ich bin aufgewacht, weil er sich so seltsam bewegt, gezuckt hat, er ist mit dem Ellenbogen gegen mich gestoßen, davon muss ich wach geworden sein, oder vielleicht war es auch sein Keuchen, dieses furchtbare Keuchen, verstehst du, ich weiß nicht, wie lange er schon so lag, wie lange er so gekämpft hat, während ich geschlafen habe, ich…“, dann nur noch Schluchzen, während er versuchte die unzähligen Informationen in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen; Gérard war etwas passiert, vielleicht ein Anfall. „Der Arzt hat gesagt, dass es ein Gehirnschlag war, eine plötzliche Blutung, unvorhersehbar, wir hatten so viele Pläne“, mühsam gewann sie die Fassung zurück, während er mehr und mehr seine Fassung verlor, als er schließlich begriff, dass Gérard tot war. Tiefer und tiefer hinunter in den Abgrund.
„Es tut mir leid“, war das einzige was er sagen konnte und dann noch einmal, wie zur Bekräftigung: „Hörst du, es tut mir leid“, ihm fiel nichts anderes ein, nicht die richtigen Worte, kein Trost, nichts als Anerkennung ihres Schmerzes und der eigene Schmerz.
„Kann ich etwas tun, Giselle, brauchst du Hilfe?“ Die richtigen Worte hervorgekramt und er hoffte, dass sie ablehnte, weil er ihr nicht in die Augen blicken konnte.
„Nein, ich muss das alles erst einmal verstehen, aber danke, ich danke dir“, Erleichterung, dann wusste er nichts mehr zu sagen, suchte und fand einige Floskeln, welche die Flucht aus diesem Gespräch möglich machten, schließlich legte er den Hörer auf, flüchtete hinüber in das Kaminzimmer, setzte sich in den Ohrensessel, auf dem er von jeher am besten denken konnte.
Mehr und mehr wurde ihm bewusst, dass der Tod von Gérard Piskine – der nie und nimmer Zufall sein konnte – alles und wirklich alles in Frage stellte, an das er bislang geglaubt hatte, an das alle glaubten, die er kannte. Dass die Figuren in diesem Buch nicht seinem Willen folgten, war das eine, eine ebenso ungeheuerliche wie unerklärliche Tatsache, aber sie ließ sich verkraften, so sehr sein schriftstellerischer Stolz auch darunter litt, sowenig er auch die Möglichkeit dieser Rebellion verstand. Dass es aber möglich war, dass die Handlungen einer fiktionalen Figur eine Veränderung in der Realität, in seiner Realität bewirken konnten, das war etwas ganz anderes, anders als „Die Leiden des jungen Werthers“, die so manchen seiner Bewunderer in den Tod getrieben hatten, es war kein Beispiel, das eine fiktive Person gab, es war eine tatsächliche Handlung. „Der neue König hat Gérard ermordet, der mein Verleger und einer meiner besten Freunde war“, sagte er in den leeren Raum. Die bislang unausgesprochene furchtbare Konsequenz dieses Mordes war aber eine ganz andere:
Wenn der neue König in der Realität einfach Menschen töten konnte, indem er ihren Namen aussprach, so wie er als Autor in der Welt der Fiktion töten konnte, stellte sich die erschreckende Frage, was dann überhaupt noch Realität und was Fiktion war. Ihm kam der wahnwitzige Gedanke, dass er selbst vielleicht nichts als ein Protagonist in einer Geschichte war, die jemand anderes erzählte, dass seine Küche, sein Wohnzimmer, der Ohrensessel nichts als Kulisse, die Imagination eines anderen, waren, der über ihn schrieb, so wie er über den neuen König schrieb.
Er stand wieder auf, der Gedanke ließ ihm keine Ruhe, stand auf und ging im Wohnzimmer auf und ab, während er sich fragte, ob er seinem freien Willen folgte oder ob er ausschließlich deshalb auf und ab ging, weil dies irgendwo geschrieben stand.
Dann setzte er sich wieder, suchte andere, rationalere Erklärungen und die beste die er fand, war der eigene Wahnsinn, der ihn Dinge glauben ließ, die so nicht sein konnten. Wenn er jedoch wahnsinnig war, war es auch egal, was er tat, dann wäre er ebenso determiniert wie als Figur einer fremden Geschichte und während er diesen düsteren Gedanken folgte, kam ihm eine Idee, die vielleicht die Situation verändern konnte. Er war sich inzwischen sicher, dass er das Buch nicht vernichten würde, dass er damit endgültig verloren, niemals gewonnen hätte und dann nahmen seine Gedanken eine Richtung, die als die einzig richtige erschien. Nicht die Geschichte, den neuen König in dieser Geschichte würde er vernichten, sich für all das rächen, was ihm gestohlen worden war. Er würde diesen neuen König zerstören und dann dessen Welt so ordnen, wie sie ihm gefiel. Die Pakete und Koffer würden wieder sorgsam verschnürt und weiter die Straße entlanggetragen werden, er würde diese Welt ordnen und seinem Willen unterwerfen. Er hatte bereits zweimal probiert gegen den neuen König zu intervenieren. Dreimal, wenn man die Fluten, den Traum des Königs mitrechnete. Er hatte ihn degradiert, versucht durch einen Boten zu überzeugen, war in jeder Hinsicht diplomatisch gewesen, aber nun würde er ihn einfach vernichten. Ohne sich darüber bewusst zu sein, hielt er bereits einen neuen Stift in der Hand, schlug eine neue Seite auf und schrieb:
„Der neue König sah die Gefahr nicht, die aus dem Westen auf ihn zuraste, immer noch dachte er nach, da Zeit in seiner Welt keine Rolle spielte, er wartete auf den anderen, dessen Bote nun sein Diener war, sah nicht die Geländewagen und den Hass auf deren Ladeflächen. Verkniffene Gesichter hatten sich dort versammelt, zornige Augen und automatische Waffen, Macheten und Sensen, Söldner und fanatische Anhänger des alten Königs, Terroristen. Sie hatten genaue Anweisungen, sie wussten, wo die Flüchtlinge sich versammelt hatten. Die Wagen fuhren schnell, so schnell, wie es auf der verfallenen schmalen Straße möglich war und hinter ihnen zog die Nacht herauf“, schrieb er, hielt kurz inne und dachte dann, dass dies ausreichen müsste und dass sie seinen Kopf auf einen Pfahl rammen würden. Wieder war da dieser Magnetismus, der ihn zwang zu schreiben, fast so stark wie beim ersten Mal, als er die Kontrolle verloren hatte, und obwohl er noch nicht genau wusste, wie er es fortsetzen sollte, schrieb er weiter.
„Auf einmal blickte der neue König auf, fühlte die Gefahr, die dort aus dem Westen auf ihn zuraste. Er spürte die nahe Konfrontation, spürte aber auch die Kraft, die mit jedem Schritt wuchs, als er aufstand, um dem Feind entgegenzugehen. Mit einer herrischen Geste, die alle verstanden und befolgten, wies er die anderen an zu warten, schritt zügig vorwärts, lange bevor er die Motoren der sich nähernden Fahrzeuge hören konnte. Er blieb stehen, als er die vier kleinen Staubwolken am Horizont sah und er begann zu lachen, als er die kleinen Menschen auf den Ladeflächen entdeckte. Laut lachte der neue König über jede einzelne dieser namenlosen Gestalten, die so fantasielos nichts als ihre Waffen symbolisierten. Lachend blieb er stehen, ließ sie herankommen, ihre Söldnerwaffen durchladen, ließ sie durch ihre aufmontierten Visiere starren, wilde Siegesrufe ausstoßen, als sie ihn sahen, dann dachte er, dass sie blind waren, und ihre wilden Siegesrufe gingen in Schreckensschreie über. Es dauerte einige Sekunden, bis die Fahrer gänzlich die Kontrolle über die Wagen verloren, ihre Militärmaschinen waren träge, schlingerten erst eine Weile, bevor sie aus der Spur brachen, er dachte, dass sie weiter schlingern und sich dann überschlagen würden und schon überschlugen sie sich, kamen dort zum Stillstand, wo er sie haben wollte, alle ungefähr beieinander, und wie Ameisen stoben diejenigen auseinander, die den Aufschlag überlebt hatten. Lauter lachte der neue König, als er sie betrachtete, wie sie in alle Richtungen liefen, mit den Armen durch die Luft fuchtelten, dann dachte er, dass sie brennen sollten, heißer brennen als die Hölle, weil sie es gewagt hatten, sich gegen ihren neuen König zu stellen und wie kleine hilflose Vulkane wälzten sie sich zischend und sprudelnd auf der Straße, schrien in den entsetzlichsten Tonlagen, bis er dachte, dass sie stumm und somit lautlos wären.
Er ließ sie eine Weile brennen, dampfende kleine Vulkane, die schnell in sich zusammensanken, ein Mahnmal für den, der sie geschickt hatte, dann dachte er, dass es genug sei und dass sie sterben durften. Immer noch lachend, lachend über diese Hyperbel an Frechheit und Selbstüberschätzung, blickte er nach oben in den sich lichtenden Himmel, wo er den anderen vermutete, der diese Brut zu ihm gesandt hatte.“
Plötzlich verließ ihn der Schreibanfall, er spürte, wie sich die Macht zurückzog, die seine Hände umklammert hielt, man ließ ihm den Rückzug, wieder schleuderte er den Stift gegen die Wand, einfach, weil es ein Ritual geworden war und gleichzeitig eine gute Gelegenheit, dem Zorn eine Ausbruchsmöglichkeit zu bieten. Er saß einige Minuten regungslos in dem Ohrensessel, atmete tief durch, roch dann den Kaffee, den er vor einiger Zeit – noch vor dem Anruf – aufgesetzt hatte, der bereits durchgelaufen war und den Zenit seiner Temperatur längst überschritten hatte. Wieder fühlte er sich besiegt, seine Angreiferschar war vernichtend geschlagen. Als er aufstand, um in die Küche zu gehen, dachte er dann, dass seine Idee gut, die Umsetzung jedoch plump und gedankenlos gewesen war, ein Söldnerheer, automatische Waffen, der amerikanische Weg ein Problem zu lösen, er hatte gesichtslose Rebellen gegen den neuen König geschickt, der diese einfach erblinden lassen konnte, wenn er nur daran dachte. Er hatte nur einen winzigen Bereich dessen ausgereizt, was möglich war und was der neue König so selbstverständlich benutzte, die Freiheit von physikalischen Gesetzen, von Logik und Rationalität. Er war der Autor dieser Geschichte, er hätte die Sonne explodieren lassen können. Er hing diesen Gedanken eine Weile nach, dachte an Asteroiden und Atomraketen, dachte an Seuchen und biologische Waffen, dann, als er mit Milch und Zucker wieder in seinem Ohrensessel saß, dachte er, dass es eine perfidere, eine gelungenere Lösung geben musste. Während er in seinem Kaffee rührte und auf das kleine Geräusch lauschte, das entstand, wenn der Löffel gegen das Porzellan schlug, war da kurz wieder dieser andere Gedanke, die Überlegung, sich einliefern, mit Tabletten mästen und therapieren zu lassen, die Kontrolle abzugeben. Wieder dachte er an Luisa und wie sie ihm gegenüber auf dem Rattansessel gesessen hatte, dachte an Luisa und konnte sich nicht an ihr Lächeln erinnern.
An diesem Tag schrieb er nicht mehr, plante und überlegte, verwarf dann alles, was er geplant und überlegt hatte. Der Flüchtlingsstrom fiel über seine Erinnerungen her, füllte die eigene Leere mit seinen persönlichsten Gedanken, und wenn er sie alle zerstören würde, wären wohl auch die Erinnerungen verloren. Der Gedanke an eine Therapie, an eine Medikation ängstigte ihn und er hatte das surreale Gefühl sich mit einer solchen Resozialisierung weiter von dem eigentlichen Problem zu entfernen und überhaupt, wenn es tatsächlich der Wahnsinn war, der diese Geschichte schrieb, dann drohten keine Konsequenzen, dann konnte er alle Möglichkeiten ausreizen, bevor er sich in einer Gummizelle wiederfinden würde. Er begriff, dass keine noch so grausame, noch so unbesiegbare Gestalt, die er ersann, dem neuen König gegenübertreten konnte, und irgendwann im Verlaufe dieses Tages entstand die folgenschwere Idee, dass er selbst Teil der Geschichte werden musste. Es war ein Gedanke, der wohl die ganze Zeit verborgen in seinem Kopf existiert hatte, aber erst jetzt, nach dem Tod von Gérard, war er ihm bewusst geworden. Schlaflos lag er in dieser Nacht in seinem Bett, rief sich die Erinnerungen vor Augen, die ihm lieb und kostbar waren, nahm gedanklich Abschied von dieser Welt, weil sein Entschluss gefasst war.