Die Straßenkinder

Erzählung zum Thema Außenseiter

von  Sanchina

Antonios Vater brüllte - mit geballten Fäusten - die Mutter an, dass sie eine Schlampe sei und was denn eigentlich die deutschen Nachbarn denken sollten. Dann drehte er sich zu Antonio um. "Und du ...", begann er, doch die Mutter kam ihm zuvor. "Antonio, komm her!" rief sie und streckte ihrem Sohn die Hand entgegen. "Komm, horch nach deinem Schwesterchen."

Nun musste Antonio -  wie so oft in letzter Zeit - seinen Kopf auf den prallen Schwangerschaftsbauch legen, lächeln und bestätigen, dass das Schwesterchen gluckste und sich bewegte. Dabei beruhigte sich auch der Vater ein wenig. Antonio hasste das Schwesterchen schon jetzt. Er hatte nur noch zwei Wochen Zeit, dann sollte nämlich das Schwesterchen zur Welt kommen.

Bis dahin wollte Antonio verschwunden sein. Viele Kinder in seiner Heimat, dem vom Krieg  erschütterten Jugoslawien, hatten sich in seinem Alter bereits selbst versorgt, so gut es eben ging. Man brauchte, um zu überleben, keine Eltern, und erst recht kein Schwesterchen.

Seinen ersten Verbündeten gewann Antonio auf Anhieb. Der große Manuel aus Albanien überragte Antonio um zwei Kopflängen. Er war zwölf Jahre alt und besaß bereits ein richtiges Jugendfahrrad. Man hatte ihn in einen Kindergarten gesteckt, weil er noch nicht Deutsch konnte. Im selben Schulhaus, in dem sich dieser Kindergarten befand, ging  Antonio zur Schule. Alle Schüler lachten über den großen Jungen im Kindergarten.

Die beiden kriegserfahrenen Kinder fanden schnell den Zugang zur Kanalisation. Da hatten sie sich daheim auch immer versteckt, wenn Bombenangriffe drohten. Sowohl in Jugoslawien wie auch in Albanien waren die Kanalsysteme von verwaisten und versprengten Kindern bevölkert gewesen, denn hier war es einigermaßen geschützt und es gab Wasser.

Wie sich Kinder so finden, gesellten sich dem Duo bald drei weitere Kinder hinzu: das 13jährige Hannchen war vom eigenen Vater missbraucht worden, sprach darüber aber nie. Anspruchslos, dankbar für alles und sehr schweigsam schloss das Mädchen  sich den beiden Jungen an.

Der Vater der 9jährigen Zwillinge Jonas und Max war schlimmer als Antonios Vater. Er hatte seiner Frau bereits schwere Verletzungen zugefügt und auch die beiden Jungen  nicht verschont. In der Wohnung hing kein Bild  mehr an der Wand, erst recht kein Spiegel. Des Vaters Fäuste hatten Zimmertüren ebenso zertrümmert wie das Toilettenbecken, den Kühlschrank verbeult und die Katze ins Jenseits befördert.

Unter den Straßen der Stadt war es allemal besser als in solchen Elternhäusern, zumal die Versorgungslage für die Straßenkinder bestens war.

Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren

Kommentare zu diesem Text

Anne (56)
(27.03.14)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 AZU20 meinte dazu am 27.03.14:
Guter Kommentar, dem ich mich anschließe. LG

 Ganna (29.03.14)
...neben der Betroffenheit über die umstände, unter denen Kinder aufwachsen, freut mich die Stärke dieser Kinder, sich nicht mit ihrem Schicksal abzufinden und Auswege zu suchen...ein trotzdem hoffnungsvoller Text,

LG Ganna
Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram