Der kleine Prinz und die Zauderin oder die Fahrt zum LeuchtturmNeu
Kurzprosa zum Thema Welten
von pentz
Mein Hörspiel „Der kleine Prinz und der Zauderer“
externer Linkhttps://www.youtube.com/watch?v=Ww8RGBRLvCc
wurde von sehr vielen nach Strich und Faden zerrissen. Vor allem die Stimme des Zauderers stieß auf erbarmungslose Kritik. Obwohl der Sprecher ein echter Stotterer ist und was könnte einen Zauderer sprachlich-sprechlich besser wiedergeben?, aber alle Hörer meinten, dass es ein schlechter Schauspieler sei. Also gut, dann einen anderen. Diesmal eine feminine Stimme. „Der kleine Prinz und die Zauderin!“ Eigentlich brauch ich nur mein bereits gemachtes Hörspiel heranziehen, den Sprecher mit der Sprecherin austauschen, lässt sich mit Technik problemlos machen, Passagen Zauderers markieren, löschen und in den entstandenen Leerraum nun einfach die Aufnahme mit der Zauderin einfügen. Ich bräuchte also nur mehr die Stimme des Zauderers mit der der Zauderin austauschen, kein großes Ding.
Die für die Zauderin in Frage kommende Person eine mir gut bekannte, alte Freundin hat ein piepsende, kleinmütig klingende Stimme – die Tonlage passt schon mal. „Was glaubst Du, was ich wegen meiner Stimme für Schwierigkeiten in der Schule hatte und mit welchem Hohn ich von meinen Mitschülern überschüttet worden bin? Und jetzt, jetzt ist das sogar die Grundlage für die Stimme in einem Hörspiel.“ Sie strahlte übers ganze Gesicht. Sie schien sich wahrhaftig zu freuen, diese Sprechrolle übernehmen zu dürfen.
Aber sie ist selbst eine Zauderin.
Damit fängt diese Geschichte an, die sich hier entwickeln wird...wohin, wie, wer weiß es?
Seit Monaten hat sie bereits den Text. Sie sagt, sie habe sich die Stellen dick unterstrichen, die sie sprechen müsse. Nichts liegt also der Aufführung mehr im Wege, sollte man meinen.
In letzter Zeit macht sie sich aber sehr rar. Ich erreiche sie kaum.
Wenn sie anruft, so erscheint nicht ihre Telefonnummer auf dem Bildschirm meines Gerätes. Ich weiß nicht, dass sie es gewesen ist, die mich versuchte zu sprechen. Schließlich kann ich ja auch nicht auf jeden Anrufer reagieren, wo stünde mir da der Kopf bei den unzähligen im Laufe des Tages. Ich unterhalte immerhin ein Geschäft und auf den bloßen Verdacht hin, wenn „Unbekannt“ auf dem kleinen Bildschirm meines Telefons erscheint, bei ihr anzurufen und nachzufragen, wäre hanebüchern.
Aber heute morgen bin ich zufällig in der Nähe des bimmelnden Telefons gewesen. Ich sehe „Unbekannt“, drücke auf den Empfangsknopf und meine Zauderin ist dran.
„Du kannst ja froh sein, dass du jetzt jemanden hast, der bereit ist, es Dir zu sprechen.“ Man meint, sie machte mir mit solchen Aussagen Mut. Darin täuscht man sich aber gewaltig. Denn seit Wochen geht das schon so hin und her.
„Ich muss mich ja darauf vorbereiten und ich habe es schon ein paar Mal vor mich hingesprochen“, hält sie dagegen, wenn ich sie dränge, Nägel mit Köpfen zu machen und endlich einfach die Aufnahmen zu machen. Aber diejenigen, die Zauderer kennen, wissen, wovon ich spreche. Man ist schier der Verzweiflung nahe, nicht wahr?
Ich erzähle ihr die Geschichte von den zwei Schnecken, die sich in die Wüste verirrt haben. Einer wird ausgelost, ein Getränk zu besorgen. Nach sieben Jahren wird die andere Kumpanin misstrauisch und schaut um den Stein, der nicht weit weg von ihr liegt. Dort entdeckt sie die lauernde andere Schnecke, die sich bislang keinen Zentimeter von dort wegbewegt hat.
„Aber ich habe den Hörspieltext erst vor kurzem bekommen. Irgendwann werden wir es schon machen!“, unterbricht mich die Zauderin. „Irgendwann?“, antworte ich ihr. Sie hat den Text schon vor einem Monat zugesendet und erhalten bekommen. Ist das nicht ein lange Zeit?
Okay, ich erzähle die Geschichte mit den zwei Schnecken zu Ende: „Wenn Du so misstrauisch bist!“, antwortet die dort entdeckte Schnecken-Gefährtin, dann gehe ich überhaupt nicht los, um unseren Durst stillen zu können!“
„Aber Du musst Dich gedulden und...“
„Oja, ich gedulde mich und beginne jetzt mit einer neuen Erzählung, die da heißen wird: DER KLEINE PRINZ UND DIE ZAUDERIN!“
„Ja, so wie ich mit meiner neuen Erzählung. Du weiß doch, nachdem wir uns das letzte Mal getroffen habe, da habe ich auch mit einer Geschichte begonnen.“
„Du meinst, die Geschichte von der Künstlerin, die ein Bild ausstellt unter vielen anderen, allerdings sichtbaren Werken anderer Künstler, wobei ihr nicht vorhanden, vielmehr nicht zu erkennen und erblicken ist, wozu man höchstens eine Tarnkappe bräuchte, um es wahrnehmen zu können!“
„Ja, gleich in der selben Nacht habe ich sie begonnen und im Laufe der Zeit einen Satz an den anderen gefügt, so dass schließlich eine Erzählung daraus geworden ist!“
„Hm, ich verstehe. Ich werde in meiner neuen Geschichte einen Satz nach dem anderen, wofür Du mir die Stichworte liefern wirst, aneinanderfügen, bis zu dem Zeitpunkt, wann das Hörspiel DER KLEINE PRINZ UND DER ZAUDERER fertiggestellt ist. Unterdessen wirft auf diesen Weg dorthin sich ein Abfallprodukt ab, an dem ich momentan hiermit bereits zu Gange bin: DER KLEINE PRINZ UND DIE ZAUDERIN.“
Wir verabredeten uns immerhin für die nächste Kunstausstellung, bevor sie auflegte.
So beginnt diese Geschichte, die Wort für Wort, Satz für Satz, Absatz für Absatz undsoweiter zusammen- und weitergefügt wird, während ich auf die Stichpunkte, die Wörter, die Sätze, kurzum den Inhalt dieser Geschichte warten werde. Ja, ich warte geduldig auf ihre Stichworte, im doppelten Sinne des Wortes. Irgendwann wird sie geschrieben sein, entweder, sobald ich die Geduld verliere und aufhöre, auf sie zu warten, oder wenn, so gebe Gott, das Hörspiel fertiggestellt ist (oder ist sie schon geschrieben worden, irgendwann in der Vergangenheit? Lasst es mich wissen. – kleiner Scherz).
Also, seid gespannt wie ich, seufz! Mittlerweile werde ich möglicherweise inspiriert, weitere, neue Facetten meines Hörspiels zu gebären, zum Thema Zaudern. Wäre doch schön. Dann könnte ich es mit neuen Handlungen bereichern und erweitern.
Nebenbei gesagt: Ich glaube, wichtig dabei ist es nicht, ob es dann heißen wird: DIE ZAUDERIN oder DER ZAUDERER. An einer Stimme wird man eh keinen Unterschied heraushören können, oder? Mal hören, wenn es soweit ist.
*
Seitdem ich ihr davon erzählt habe, dass ich über unsere Fahrt zum Leuchtturm, sprich Hörspiel-Projekt schreibe (die Metapher lehnt sich an Virginia Woolfs Roman an, in der dauernd von dieser Fahrt die Rede ist, die niemals zustande kommt), hat sie neue Argumente wie. „Wir haben das Hörspiel noch nicht begonnen. Aber immerhin hast Du jetzt Stoff für eine Kurzgeschichte (über die Absicht, ein Hörspiel zu machen).“ Ich solle also darum froh sein und mich begnügen.
Hierzu fällt mir ein erheblicher Aspekt ein, welche die Zauderin motiviert, so zu sein wie sie ist: ihre Hartnäckigkeit. Was soll das heißen? Nun, sie steht dazu, eine Zauderin zu sein. Umso mehr und stärker, je mehr ich sie mit ihrer Zögerlichkeit konfrontiere. Ich bin schlau genug, es zu vermeiden, zumindest versuche ich es.
Sie ist also eine Zauderin, die zu den ganz hartnäckigen Zauderern gehört.
Das Dumme ist, dass meine Schauspielerin zugleich Autorin ist, noch dazu eine konservative, eine wirklich, wirklich und richtig konservative nämlich. Einer von der ganz alten Schule sozusagen. So lehne sie jegliche moderne Geräte und Apperaturen strikt ab, bei ihr oder für sie findet, scheint’s, nur das Papier Gnade und Respekt, alle anderen Dinge, je mechanischer und modernen sie sind, desto mehr stoßen sie auf schärfste Zurückweisung.
Es fängt bereits damit an, dass sie sich standhaft weigert, die handschriftlichen Niederschriften ihrer Poesie in eine druckreife, zum Beispiel maschinenschriftliche, leserfreundliche Fasson zu übertragen. Dass durch diese sture, starrsinnige Haltung den Freunden der Poesie wohl das ein oder andere Schmackerler entgehen mag, bekümmert sie wenig. Ihr sind offenbar die wenigen Leser, die sich der Beschwernis der Entzifferung ihrer immerhin gut lesbaren Handschrift zu unterwerfen, genügend.
Dass ich sage, Autoren werden nicht nur wegen des fabulösen Inhaltes ihrer Produkte, sprich Gedichte und Erzählungen berühmt, sondern auch des Rampensau-Effektes, begegnet sie lediglich mit einem Schulterzucken.
Und wenn wir einmal auf einer solchen Kunstausstellung, die wir gerne zusammen besuchen, unter die Linse eines Fotografens geraten, flüchtet sie panikartig in die nächste Ecke, Hände über Kopf bis Schulter nach hinten geworfen, als wolle man sie mit einer Gerte schlagen.
Zurück zu unserer „Fahrt zum Leuchtturm“, sprich der Planung und Realisierung eines Hörspiels namens DER KLEINE PRINZ UND DIE ZAUDER(IN).
Als ich ihr am selbigen Abend den Inhalt von dem phänomenalen Roman „Die Fahrt...“ von Virginia Wolf erzählte - oh, ich liebe Virginia Woolf – kommentierte sie zunächst: „Am Schluss stirbt die Hoffnung!“, ein Allgemeinplatz. Ich dachte bei mir, ziemlich platt, aber bittesehr. –Glücklicherweise äußerte ich das nicht laut.
Des weiteren erzählte ich, dass ich aktuell „Ignaz oder die Verschwörung der Idioten“ las von einem gewissen Kennedy Toole, indem der Protagonist unter einer seltsamen Magenverstimmung litt und darüber klagte, dass ihm sein „Pyroluz“ oder so ähnlich, wohl ein Teil des Magen-Darm-Traktes, permanent unerträgliche Schwierigkeiten bereite.
„Aber wirklich!“, sagte sie, „ich bin wirklich krank!“ „Hm! Glaube ich Dir!“ So wollte ich es nicht gemeint haben, wenngleich ich wohl in die Wunde, obzwar unbewusst, gestoßen bin. „Geht es denn Dir jetzt schlecht?“ „Nein, vor ein paar Tagen noch. Momentan ist mein Magen wieder in Ordnung!“ „Na, denn!“ „Kannst Du mir denn einen Kaffee oder Tee anbieten, wenn ich komme?“ „Du kannst sogar etwas zum Essen bekommen! Diätessen, Haschee, was immer Du willst!“ Haschee ist allgemeiner Ausdruck für alles Kleingemachtes, insbesondere Hackfleisch oder Fleisch, hier meinte ich halt schlicht zubereitetes Essen für Kranke.
Wir entwarfen noch einmal auf das minutiöseste unseren Plan zur Hin- und Rückfahrt zum Aufnahme-Studio.
Wie ich sie vor ihrer Haustürschwelle quasi in Empfang nehme, zur U-Bahn-Station bringe, von der Ausstiegsstation zum Gleis des Hauptbahnhofes, wo der Zug zu mir aufs Land hinaus fährt, führe, von der folgenden Ausstiegsstätte, Punkt in meinem Wohnort, zum Parkplatzgelände weiterleite, um in mein Auto einzusteigen, zu mir zu fahren und bis zur Eingangstür zu gelangen, wo wir schließlich die paar wenigen Schritte zu meiner Wohnstätte hin laufen, in der sich das Aufnahme-Studio befindet: ein düsterer, kalter Keller, aber gut abgedichtet von äußeren Störquellen.
Mein Aufnahmezimmer hat anbei eine Küche, insofern stellte das Essenmachen, damit ihr Pyroluz oder so ähnlich nicht rebelliert, kein Hindernis dar. „Ich würde Dich sogar auf Händen zu mir tragen!“, ergänzte ich meine bedingungslose Bereitschaft.
„Hm!“
Ich glaube, diese Formulierung kam nicht gut an bei ihr. Sie hat ja also Autorin sehr feine Antennen für die Sprache.
Schon kam’s wieder. Wieder, wieder, wieder.
„Aber sei doch froh, dass wir das jetzt Planen. Und - die Fahrt zum Leuchtturm, hm - Du jetzt Stoff für eine Kurzgeschichte hast. Und Du schreibst ja daran, oder?“ „Allerdings!“, seufzte ich schwer, dieses Mal noch schwerer. Wie oft habe ich das jetzt schon gehört. Und ich wusste natürlich nur zu gut, dass das Schreiben für sie wichtiger war als so ein Hörspiel. Obzwar sie doch leidenschaftlich gerne auch Radio und also Hörspiele hörte. Ich war am Verzweifeln.
Sie meinte plötzlich: „Jetzt bin ich gar nicht mehr so entschlossen. Du hast mir die Entschlossenheit genommen!“ Das war natürlich das Letzte, was ich wollte. „War es die Fahrt zum Leuchtturm, die Dir Deine Entschlossenheit geraubt hat?“ „A l l e s einfach!“ „Hm!“ Ich wurde nachdenklich, kam aber – nach einigen Minuten – zu keinem Ergebnis. Diese Frau war wirklich die geborene Zauderin. Freilich, siehe den Stotterer, stand noch längst nicht fest, wenn sie auch eine Zauderin spielen würde, ob dies das Publikum überzeugte und würdigte. Ich hingegen war längst überzeugt. Leider! (Warum? Na egal, denn dadurch würden wir wahrscheinlich jedenfalls nicht dazu kommen, das Hörspiel zu realisieren!)
Immerhin hat sie sich für einen Termin breitschlagen lassen. Ja, wirklich! Sie glauben es nicht. Ich auch nicht. Aber es ist so. In einer Woche. Wir wollen uns an einem Platz treffen, wo wir uns nach langen Jahren wieder begegnet waren. Es ist ein Ort in einem Kulturzentrum, in dem ein sogenanntes Offenes Regal steht. Darin kann man Bücher hinein und herausnehmen, so ein Tausch-Buch-Regal.
*
Noch ist nicht Freitag.
Gestern hat erneut jemand angerufen, Herr oder Frau „Unbekannt“, wie es auf dem Bildschirm steht. Ob sie es war, die Zauderin?
Interessiert es Sie, ob das Hörspiel zustande kommen wird? Wenn nicht, dann wäre es wenigstens das allerbeste Hörspiel bezüglich dieses Themas Zaudern, ein menschlich-allzumenschliches Phänomen, geworden, oder auch nicht. Nein, Schauspieler und Menschen, befürchte ich, sind zwei sich ausschließenden Personen, oder?
Mal sehen, vielleicht wird’s noch was. Dann aber werden wir es wissen! Seufz! Lach! Grein! Schrein! Alle Gefühlsregungen hier bitte...
*
Zwei Stunden vor dem Termin habe ich sie vorsichtshalber angerufen, um ihn zu verschieben. Der öffentliche Nahverkehr wird zurzeit bestreikt. Ich habe kein Auto.
Sie sagte, sie wäre ohnehin nicht gekommen. Ob ich ihren Brief denn noch nicht gelesen habe?
Einen Brief? Ich habe keinen erhalten, sowohl gestern als auch heute nicht. Aber heute bedeutet in einer Stunde, denn da erst kommt mein Briefträger.
„Ich habe Dir eine Mitteilung geschickt, in dem zuvor noch einige Dinge zu klären angesprochen sind.“
Damit hat sie abrupt aufgelegt.
Ich schlug mir an die Stirn. Glück gehabt, Du Vorsichtler und Zauderer, dass du sie erst angerufen hast. Andererseits wäre die Fahrt zu unserem Treffpunkt eine Fahrt ins Leere geworden. Und ich hätte vor dem Eintreffen der Post losfahren müssen.
Ich hoffe, ich habe es so verstanden: dass sie beabsichtigte nicht zu kommen und davon ausgegangen sei, dass ich den Brief rechtzeitig erhalten hätte. Dass auf die Post kein Verlass ist, dies hat sie wohl nicht berücksichtigt. Ich grollte doch ein bisschen über sie.
Na gut, ich habe nicht umsonst die Reise zu ihr antreten müssen und warte nun auf ihren Brief.
Übrigens: Inzwischen sind mir einige neue Szenen zum Hörspiel eingefallen. Bei diesem Hin und Her bin ich entweder inspiriert oder weil ich momentan sehr viel Zeit habe und ein neues Spiel eröffnet ist, fällt mir Neues ein. Das Hörspiel, das da heißen wird DER KL... wird ein Neues werden, fragt sich nur, ein gänzlich Neues? Und zudem, wer wird es sprechen?
Sie ist natürlich nicht zu unserem Termin gekommen. Wundert’s wen außer mich? Ich habe sie zuvor noch einmal angerufen, ihren Grund heruntergespielt, sie ist auf ein weiteres Treffen eingegangen, aber nur zum Schein, wie sich herausstellte. Hat sie gedacht: Na gut, Du Unverbesserlicher, Nicht-Lernwilliger und Holzklotz, komm nur hin zum Verabredungsort, dem Offenen Regal, es wird Dir ein Lehre sein und hoffentlich eine Einsicht in Dir bewirken, wenn Du alleine vor vielen Büchern stehen wirst. Hoffentlich wirst Du Dich gründlich befragen. Weil Du mich dazu gezwungen hast. Vielleicht wird Dir endlich einleuchten, dass ich meinen berechtigten Grund dafür habe, nicht erschienen zu sein. Und die Wahrheit zu hören, weigerst Du Dich. Dir geschieht recht!
externer Linkhttps://www.youtube.com/watch?v=Ww8RGBRLvCc
wurde von sehr vielen nach Strich und Faden zerrissen. Vor allem die Stimme des Zauderers stieß auf erbarmungslose Kritik. Obwohl der Sprecher ein echter Stotterer ist und was könnte einen Zauderer sprachlich-sprechlich besser wiedergeben?, aber alle Hörer meinten, dass es ein schlechter Schauspieler sei. Also gut, dann einen anderen. Diesmal eine feminine Stimme. „Der kleine Prinz und die Zauderin!“ Eigentlich brauch ich nur mein bereits gemachtes Hörspiel heranziehen, den Sprecher mit der Sprecherin austauschen, lässt sich mit Technik problemlos machen, Passagen Zauderers markieren, löschen und in den entstandenen Leerraum nun einfach die Aufnahme mit der Zauderin einfügen. Ich bräuchte also nur mehr die Stimme des Zauderers mit der der Zauderin austauschen, kein großes Ding.
Die für die Zauderin in Frage kommende Person eine mir gut bekannte, alte Freundin hat ein piepsende, kleinmütig klingende Stimme – die Tonlage passt schon mal. „Was glaubst Du, was ich wegen meiner Stimme für Schwierigkeiten in der Schule hatte und mit welchem Hohn ich von meinen Mitschülern überschüttet worden bin? Und jetzt, jetzt ist das sogar die Grundlage für die Stimme in einem Hörspiel.“ Sie strahlte übers ganze Gesicht. Sie schien sich wahrhaftig zu freuen, diese Sprechrolle übernehmen zu dürfen.
Aber sie ist selbst eine Zauderin.
Damit fängt diese Geschichte an, die sich hier entwickeln wird...wohin, wie, wer weiß es?
Seit Monaten hat sie bereits den Text. Sie sagt, sie habe sich die Stellen dick unterstrichen, die sie sprechen müsse. Nichts liegt also der Aufführung mehr im Wege, sollte man meinen.
In letzter Zeit macht sie sich aber sehr rar. Ich erreiche sie kaum.
Wenn sie anruft, so erscheint nicht ihre Telefonnummer auf dem Bildschirm meines Gerätes. Ich weiß nicht, dass sie es gewesen ist, die mich versuchte zu sprechen. Schließlich kann ich ja auch nicht auf jeden Anrufer reagieren, wo stünde mir da der Kopf bei den unzähligen im Laufe des Tages. Ich unterhalte immerhin ein Geschäft und auf den bloßen Verdacht hin, wenn „Unbekannt“ auf dem kleinen Bildschirm meines Telefons erscheint, bei ihr anzurufen und nachzufragen, wäre hanebüchern.
Aber heute morgen bin ich zufällig in der Nähe des bimmelnden Telefons gewesen. Ich sehe „Unbekannt“, drücke auf den Empfangsknopf und meine Zauderin ist dran.
„Du kannst ja froh sein, dass du jetzt jemanden hast, der bereit ist, es Dir zu sprechen.“ Man meint, sie machte mir mit solchen Aussagen Mut. Darin täuscht man sich aber gewaltig. Denn seit Wochen geht das schon so hin und her.
„Ich muss mich ja darauf vorbereiten und ich habe es schon ein paar Mal vor mich hingesprochen“, hält sie dagegen, wenn ich sie dränge, Nägel mit Köpfen zu machen und endlich einfach die Aufnahmen zu machen. Aber diejenigen, die Zauderer kennen, wissen, wovon ich spreche. Man ist schier der Verzweiflung nahe, nicht wahr?
Ich erzähle ihr die Geschichte von den zwei Schnecken, die sich in die Wüste verirrt haben. Einer wird ausgelost, ein Getränk zu besorgen. Nach sieben Jahren wird die andere Kumpanin misstrauisch und schaut um den Stein, der nicht weit weg von ihr liegt. Dort entdeckt sie die lauernde andere Schnecke, die sich bislang keinen Zentimeter von dort wegbewegt hat.
„Aber ich habe den Hörspieltext erst vor kurzem bekommen. Irgendwann werden wir es schon machen!“, unterbricht mich die Zauderin. „Irgendwann?“, antworte ich ihr. Sie hat den Text schon vor einem Monat zugesendet und erhalten bekommen. Ist das nicht ein lange Zeit?
Okay, ich erzähle die Geschichte mit den zwei Schnecken zu Ende: „Wenn Du so misstrauisch bist!“, antwortet die dort entdeckte Schnecken-Gefährtin, dann gehe ich überhaupt nicht los, um unseren Durst stillen zu können!“
„Aber Du musst Dich gedulden und...“
„Oja, ich gedulde mich und beginne jetzt mit einer neuen Erzählung, die da heißen wird: DER KLEINE PRINZ UND DIE ZAUDERIN!“
„Ja, so wie ich mit meiner neuen Erzählung. Du weiß doch, nachdem wir uns das letzte Mal getroffen habe, da habe ich auch mit einer Geschichte begonnen.“
„Du meinst, die Geschichte von der Künstlerin, die ein Bild ausstellt unter vielen anderen, allerdings sichtbaren Werken anderer Künstler, wobei ihr nicht vorhanden, vielmehr nicht zu erkennen und erblicken ist, wozu man höchstens eine Tarnkappe bräuchte, um es wahrnehmen zu können!“
„Ja, gleich in der selben Nacht habe ich sie begonnen und im Laufe der Zeit einen Satz an den anderen gefügt, so dass schließlich eine Erzählung daraus geworden ist!“
„Hm, ich verstehe. Ich werde in meiner neuen Geschichte einen Satz nach dem anderen, wofür Du mir die Stichworte liefern wirst, aneinanderfügen, bis zu dem Zeitpunkt, wann das Hörspiel DER KLEINE PRINZ UND DER ZAUDERER fertiggestellt ist. Unterdessen wirft auf diesen Weg dorthin sich ein Abfallprodukt ab, an dem ich momentan hiermit bereits zu Gange bin: DER KLEINE PRINZ UND DIE ZAUDERIN.“
Wir verabredeten uns immerhin für die nächste Kunstausstellung, bevor sie auflegte.
So beginnt diese Geschichte, die Wort für Wort, Satz für Satz, Absatz für Absatz undsoweiter zusammen- und weitergefügt wird, während ich auf die Stichpunkte, die Wörter, die Sätze, kurzum den Inhalt dieser Geschichte warten werde. Ja, ich warte geduldig auf ihre Stichworte, im doppelten Sinne des Wortes. Irgendwann wird sie geschrieben sein, entweder, sobald ich die Geduld verliere und aufhöre, auf sie zu warten, oder wenn, so gebe Gott, das Hörspiel fertiggestellt ist (oder ist sie schon geschrieben worden, irgendwann in der Vergangenheit? Lasst es mich wissen. – kleiner Scherz).
Also, seid gespannt wie ich, seufz! Mittlerweile werde ich möglicherweise inspiriert, weitere, neue Facetten meines Hörspiels zu gebären, zum Thema Zaudern. Wäre doch schön. Dann könnte ich es mit neuen Handlungen bereichern und erweitern.
Nebenbei gesagt: Ich glaube, wichtig dabei ist es nicht, ob es dann heißen wird: DIE ZAUDERIN oder DER ZAUDERER. An einer Stimme wird man eh keinen Unterschied heraushören können, oder? Mal hören, wenn es soweit ist.
*
Seitdem ich ihr davon erzählt habe, dass ich über unsere Fahrt zum Leuchtturm, sprich Hörspiel-Projekt schreibe (die Metapher lehnt sich an Virginia Woolfs Roman an, in der dauernd von dieser Fahrt die Rede ist, die niemals zustande kommt), hat sie neue Argumente wie. „Wir haben das Hörspiel noch nicht begonnen. Aber immerhin hast Du jetzt Stoff für eine Kurzgeschichte (über die Absicht, ein Hörspiel zu machen).“ Ich solle also darum froh sein und mich begnügen.
Hierzu fällt mir ein erheblicher Aspekt ein, welche die Zauderin motiviert, so zu sein wie sie ist: ihre Hartnäckigkeit. Was soll das heißen? Nun, sie steht dazu, eine Zauderin zu sein. Umso mehr und stärker, je mehr ich sie mit ihrer Zögerlichkeit konfrontiere. Ich bin schlau genug, es zu vermeiden, zumindest versuche ich es.
Sie ist also eine Zauderin, die zu den ganz hartnäckigen Zauderern gehört.
Das Dumme ist, dass meine Schauspielerin zugleich Autorin ist, noch dazu eine konservative, eine wirklich, wirklich und richtig konservative nämlich. Einer von der ganz alten Schule sozusagen. So lehne sie jegliche moderne Geräte und Apperaturen strikt ab, bei ihr oder für sie findet, scheint’s, nur das Papier Gnade und Respekt, alle anderen Dinge, je mechanischer und modernen sie sind, desto mehr stoßen sie auf schärfste Zurückweisung.
Es fängt bereits damit an, dass sie sich standhaft weigert, die handschriftlichen Niederschriften ihrer Poesie in eine druckreife, zum Beispiel maschinenschriftliche, leserfreundliche Fasson zu übertragen. Dass durch diese sture, starrsinnige Haltung den Freunden der Poesie wohl das ein oder andere Schmackerler entgehen mag, bekümmert sie wenig. Ihr sind offenbar die wenigen Leser, die sich der Beschwernis der Entzifferung ihrer immerhin gut lesbaren Handschrift zu unterwerfen, genügend.
Dass ich sage, Autoren werden nicht nur wegen des fabulösen Inhaltes ihrer Produkte, sprich Gedichte und Erzählungen berühmt, sondern auch des Rampensau-Effektes, begegnet sie lediglich mit einem Schulterzucken.
Und wenn wir einmal auf einer solchen Kunstausstellung, die wir gerne zusammen besuchen, unter die Linse eines Fotografens geraten, flüchtet sie panikartig in die nächste Ecke, Hände über Kopf bis Schulter nach hinten geworfen, als wolle man sie mit einer Gerte schlagen.
Zurück zu unserer „Fahrt zum Leuchtturm“, sprich der Planung und Realisierung eines Hörspiels namens DER KLEINE PRINZ UND DIE ZAUDER(IN).
Als ich ihr am selbigen Abend den Inhalt von dem phänomenalen Roman „Die Fahrt...“ von Virginia Wolf erzählte - oh, ich liebe Virginia Woolf – kommentierte sie zunächst: „Am Schluss stirbt die Hoffnung!“, ein Allgemeinplatz. Ich dachte bei mir, ziemlich platt, aber bittesehr. –Glücklicherweise äußerte ich das nicht laut.
Des weiteren erzählte ich, dass ich aktuell „Ignaz oder die Verschwörung der Idioten“ las von einem gewissen Kennedy Toole, indem der Protagonist unter einer seltsamen Magenverstimmung litt und darüber klagte, dass ihm sein „Pyroluz“ oder so ähnlich, wohl ein Teil des Magen-Darm-Traktes, permanent unerträgliche Schwierigkeiten bereite.
„Aber wirklich!“, sagte sie, „ich bin wirklich krank!“ „Hm! Glaube ich Dir!“ So wollte ich es nicht gemeint haben, wenngleich ich wohl in die Wunde, obzwar unbewusst, gestoßen bin. „Geht es denn Dir jetzt schlecht?“ „Nein, vor ein paar Tagen noch. Momentan ist mein Magen wieder in Ordnung!“ „Na, denn!“ „Kannst Du mir denn einen Kaffee oder Tee anbieten, wenn ich komme?“ „Du kannst sogar etwas zum Essen bekommen! Diätessen, Haschee, was immer Du willst!“ Haschee ist allgemeiner Ausdruck für alles Kleingemachtes, insbesondere Hackfleisch oder Fleisch, hier meinte ich halt schlicht zubereitetes Essen für Kranke.
Wir entwarfen noch einmal auf das minutiöseste unseren Plan zur Hin- und Rückfahrt zum Aufnahme-Studio.
Wie ich sie vor ihrer Haustürschwelle quasi in Empfang nehme, zur U-Bahn-Station bringe, von der Ausstiegsstation zum Gleis des Hauptbahnhofes, wo der Zug zu mir aufs Land hinaus fährt, führe, von der folgenden Ausstiegsstätte, Punkt in meinem Wohnort, zum Parkplatzgelände weiterleite, um in mein Auto einzusteigen, zu mir zu fahren und bis zur Eingangstür zu gelangen, wo wir schließlich die paar wenigen Schritte zu meiner Wohnstätte hin laufen, in der sich das Aufnahme-Studio befindet: ein düsterer, kalter Keller, aber gut abgedichtet von äußeren Störquellen.
Mein Aufnahmezimmer hat anbei eine Küche, insofern stellte das Essenmachen, damit ihr Pyroluz oder so ähnlich nicht rebelliert, kein Hindernis dar. „Ich würde Dich sogar auf Händen zu mir tragen!“, ergänzte ich meine bedingungslose Bereitschaft.
„Hm!“
Ich glaube, diese Formulierung kam nicht gut an bei ihr. Sie hat ja also Autorin sehr feine Antennen für die Sprache.
Schon kam’s wieder. Wieder, wieder, wieder.
„Aber sei doch froh, dass wir das jetzt Planen. Und - die Fahrt zum Leuchtturm, hm - Du jetzt Stoff für eine Kurzgeschichte hast. Und Du schreibst ja daran, oder?“ „Allerdings!“, seufzte ich schwer, dieses Mal noch schwerer. Wie oft habe ich das jetzt schon gehört. Und ich wusste natürlich nur zu gut, dass das Schreiben für sie wichtiger war als so ein Hörspiel. Obzwar sie doch leidenschaftlich gerne auch Radio und also Hörspiele hörte. Ich war am Verzweifeln.
Sie meinte plötzlich: „Jetzt bin ich gar nicht mehr so entschlossen. Du hast mir die Entschlossenheit genommen!“ Das war natürlich das Letzte, was ich wollte. „War es die Fahrt zum Leuchtturm, die Dir Deine Entschlossenheit geraubt hat?“ „A l l e s einfach!“ „Hm!“ Ich wurde nachdenklich, kam aber – nach einigen Minuten – zu keinem Ergebnis. Diese Frau war wirklich die geborene Zauderin. Freilich, siehe den Stotterer, stand noch längst nicht fest, wenn sie auch eine Zauderin spielen würde, ob dies das Publikum überzeugte und würdigte. Ich hingegen war längst überzeugt. Leider! (Warum? Na egal, denn dadurch würden wir wahrscheinlich jedenfalls nicht dazu kommen, das Hörspiel zu realisieren!)
Immerhin hat sie sich für einen Termin breitschlagen lassen. Ja, wirklich! Sie glauben es nicht. Ich auch nicht. Aber es ist so. In einer Woche. Wir wollen uns an einem Platz treffen, wo wir uns nach langen Jahren wieder begegnet waren. Es ist ein Ort in einem Kulturzentrum, in dem ein sogenanntes Offenes Regal steht. Darin kann man Bücher hinein und herausnehmen, so ein Tausch-Buch-Regal.
*
Noch ist nicht Freitag.
Gestern hat erneut jemand angerufen, Herr oder Frau „Unbekannt“, wie es auf dem Bildschirm steht. Ob sie es war, die Zauderin?
Interessiert es Sie, ob das Hörspiel zustande kommen wird? Wenn nicht, dann wäre es wenigstens das allerbeste Hörspiel bezüglich dieses Themas Zaudern, ein menschlich-allzumenschliches Phänomen, geworden, oder auch nicht. Nein, Schauspieler und Menschen, befürchte ich, sind zwei sich ausschließenden Personen, oder?
Mal sehen, vielleicht wird’s noch was. Dann aber werden wir es wissen! Seufz! Lach! Grein! Schrein! Alle Gefühlsregungen hier bitte...
*
Zwei Stunden vor dem Termin habe ich sie vorsichtshalber angerufen, um ihn zu verschieben. Der öffentliche Nahverkehr wird zurzeit bestreikt. Ich habe kein Auto.
Sie sagte, sie wäre ohnehin nicht gekommen. Ob ich ihren Brief denn noch nicht gelesen habe?
Einen Brief? Ich habe keinen erhalten, sowohl gestern als auch heute nicht. Aber heute bedeutet in einer Stunde, denn da erst kommt mein Briefträger.
„Ich habe Dir eine Mitteilung geschickt, in dem zuvor noch einige Dinge zu klären angesprochen sind.“
Damit hat sie abrupt aufgelegt.
Ich schlug mir an die Stirn. Glück gehabt, Du Vorsichtler und Zauderer, dass du sie erst angerufen hast. Andererseits wäre die Fahrt zu unserem Treffpunkt eine Fahrt ins Leere geworden. Und ich hätte vor dem Eintreffen der Post losfahren müssen.
Ich hoffe, ich habe es so verstanden: dass sie beabsichtigte nicht zu kommen und davon ausgegangen sei, dass ich den Brief rechtzeitig erhalten hätte. Dass auf die Post kein Verlass ist, dies hat sie wohl nicht berücksichtigt. Ich grollte doch ein bisschen über sie.
Na gut, ich habe nicht umsonst die Reise zu ihr antreten müssen und warte nun auf ihren Brief.
Übrigens: Inzwischen sind mir einige neue Szenen zum Hörspiel eingefallen. Bei diesem Hin und Her bin ich entweder inspiriert oder weil ich momentan sehr viel Zeit habe und ein neues Spiel eröffnet ist, fällt mir Neues ein. Das Hörspiel, das da heißen wird DER KL... wird ein Neues werden, fragt sich nur, ein gänzlich Neues? Und zudem, wer wird es sprechen?
Sie ist natürlich nicht zu unserem Termin gekommen. Wundert’s wen außer mich? Ich habe sie zuvor noch einmal angerufen, ihren Grund heruntergespielt, sie ist auf ein weiteres Treffen eingegangen, aber nur zum Schein, wie sich herausstellte. Hat sie gedacht: Na gut, Du Unverbesserlicher, Nicht-Lernwilliger und Holzklotz, komm nur hin zum Verabredungsort, dem Offenen Regal, es wird Dir ein Lehre sein und hoffentlich eine Einsicht in Dir bewirken, wenn Du alleine vor vielen Büchern stehen wirst. Hoffentlich wirst Du Dich gründlich befragen. Weil Du mich dazu gezwungen hast. Vielleicht wird Dir endlich einleuchten, dass ich meinen berechtigten Grund dafür habe, nicht erschienen zu sein. Und die Wahrheit zu hören, weigerst Du Dich. Dir geschieht recht!