Die drei Schreie der Medusa

Gedicht

von  autoralexanderschwarz

- Hört ihr ihn? Könnt ihr den ersten Schrei der Medusa hören, wie er ausgezehrte Glieder zu einer letzten Gewalt in die Höhe reißt, wie er alles elend verdichtet und durch giftige Lungen die Kinder zu fetten leeren Bäuchen aufbläst, wie er die Innereien aussaugt und kümmerliche kleine Herzen quetscht, hört ihr, wie er in der Ferne anschwillt? Hört ihr ihn, hört ihr den Schrei dieses Elends?

Ihr hört ihn nicht? Ihr könnt ihn nicht hören?
Ihr müsst längst Stein gewesen sein.

- Hört ihr ihn? Könnt ihr den zweiten Schrei der Medusa hören, wie er sich über dem Meer sammelt, sich aufbäumt und dann durch die Wasserköpfe fährt, wie er aus den Mündern der Tausenden hervorbricht, das Wasser aufpeitscht und nur Trümmer und Tote an die Strände spuckt? Hört ihr ihn, hört ihr den Schrei der Verzweiflung?

Ihr hört ihn nicht? Ihr könnt ihn nicht hören?
Ihr müsst längst Stein gewesen sein.

- Hört ihr ihn? Könnt ihr den dritten Schrei der Medusa hören, wie er - ganz nah - durch die Mauern dringt, wie er Menschen mitreißt übereinander zu rennen und sich mit allen Träumen in den Stacheldraht zu werfen, hört ihr den Wahnsinn, wenn sich die Dornen immer tiefer in das Fleisch drehen, hört ihr den Schmerz, die Wut, das Sterben? Hört ihr ihn, hört ihr den Schrei dieses Hasses?

Ihr hört ihn nicht? Ihr könnt ihn nicht hören?
Ihr müsst längst Stein gewesen sein.



- Hört ihr ihn? Könnt ihr diesen einen letzten Schrei hören, wie er den Brustkorb anfüllt, um durch den engen Hals in die steinerne Welt zu brechen, wie er dort durch Flammen irrt und nirgendwo mehr Hoffnung ist? Hört ihr sie; die Angst, die Scham, die Erkenntnis? Hört ihr diesen letzten Schrei?

Es wird euer eigener sein.

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Kommentare zu diesem Text


 idioma (02.06.15)
Immerhin hab ich auf `überladenem Umweg´
nun diesen Text entdeckt,
der wirklich durch Mark und Bein geht !
der von eindringlichen Wortwiederholungen lebt
und mitnichten cool und gelassen geschrieben/gelesen werden kann !
"Ihr müsst längst Stein sein !"
= klingt dichter als " gewesen sein " und schließt Hoffnung auf Einsicht > Änderung > Steinerweichen - leider- brutal - aus ........
Und vielleicht :
" wie er dort durch die Kälte irrt und nirgendwo mehr Hoffnung ist ? "
- weil darin die Kälte der Hochsicherheits- Betonburgen und die Herzenskälte klirren würde, an der wir zugrunde gehn werden.....
und ich zweifle, ob dieser eine letzte Schrei EINER sein wird,
weiß aber keinen verbalen Lösungsvorschlag.........
PS : oben : "wie er alles -E-lend verdichtet"
idioma
(Kommentar korrigiert am 02.06.2015)

 autoralexanderschwarz meinte dazu am 02.06.15:
Vielen Dank für deinen Kommentar. Du bist immer sehr schnell mit "Verbesserungsvorschlägen". Wenn ich so einen Text hier poste, dann habe ich ihn unzählige Male Korrektur gelesen und jede Silbe (mehrfach) abgewogen. Damit sage ich nicht, dass sich nicht auch Fehler einschleichen, aber ob da in einer Zeile drei Silben mehr sind, oder ob ich das Präsens statt dem Perfekt verwende, habe ich schon hinterfragt (Das Perfekt soll die "Versteinerung" "steigern", weil sie bereits abgeschlossen ist; der gewünschte Takt "erzwingt" hier mehr Silben) Elend ist hier auch kein Substantiv. Über die "Flammen" hingegen denke ich jetzt auch nach. Kälte ist zu schwach, aber vielleicht finde ich noch was anderes, das keinen Kontrast zur allgemeinen "Regungslosigkeit" der skizzierten Welt bildet. Aber hörst du ungeachtet dessen den Unterschied zwischen "durch Flammen irrt" und "durch die Kälte irrt"- ich finde, dass die aufeinanderfolgenden Plosive den Takt stören würden.

Vielen Dank & Lieben Gruß
AlX
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