Betroffenheit

Kommentar

von  autoralexanderschwarz

Wer in den letzten Tagen die Nachrichten verfolgte, erlebte nahezu die gesamte politische Entourage in einem ansonsten eher unüblichen und ungewohnten Zustand: alle, die in diesen Tagen  vor die Kameras traten, waren betroffen. Diese Betroffenheit äußerte sich nicht nur in Floskeln und Metaphern sondern durchaus auch physisch in der Körperhaltung, in der Stimmfarbe, in Gestik und Mimik der Volksvertreter.  Auf einmal waren alle Augen feucht, alle standen unter Schock, alle waren betroffen und gaben vor den Schmerz der Angehörigen zu teilen. Kein Bild war zu groß, um die Solidarität und das Mitgefühl auszudrücken.
Mitgefühl ist eine natürliche menschliche Reaktion, aber das Ausmaß dieser Emotionalität ist verblüffend. Natürlich ist ein Schulleiter bewegt, dessen Schüler und Kollegen so unvermittelt aus dem Leben gerissen werden, aber gilt dies auch für einen Politiker, der eine Rede schreibt, der sich auf ein Statement vorbereitet, der Adjektive gegeneinander abwägt? Woher diese plötzliche ungezügelte Empathie mit dem Leid anderer Menschen, warum auf einmal dieser plötzliche Ernst, diese Feierlichkeit im Angesicht des Todes? Sind dies wirklich natürliche Gefühle? Ist dies eine Lehrstunde der Politik hinsichtlich Empathie und Menschlichkeit?
Natürlich ist die Betroffenheit der Kanzlerin auch eine Art Projektionsfläche für die Betroffenheit der Bevölkerung. Aber ist diese so groß? Niemand kann vernünftigerweise etwas Gutes daran finden, wenn unschuldige Menschen unverschuldet sterben, aber niemandem, mit dem ich bisher darüber sprach, geht dies so nah wie dem Bundestagspräsidenten, den Ministern, der Kanzlerin. Wir können alle ohne Probleme sprechen, wir haben keine feuchten Augen und keine gebeugte Körperhaltung. Wir kannten keines der Opfer und natürlich empfinden wir Mitleid, aber dabei keine größere Betroffenheit, als wenn Flüchtlinge wieder und wieder im Mittelmeer ertrinken. Auch wenn es zynisch erscheinen mag Flugzeuge in Boote umzurechnen, muss die Frage erlaubt sein, warum der Tod des einen Menschen so emotional reglos hingenommen, der eines anderen so leidenschaftlich beklagt wird, warum die Betroffenheit sich so selektiv regt und ob selektive Betroffenheit überhaupt noch Betroffenheit ist. Psychologen sind aktuell so gefragt wie Luftfahrtexperten, aber bislang gibt es in den Medien wenig Raum für diese Frage.

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Kommentare zu diesem Text

JamesBlond (63)
(27.03.15)
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 autoralexanderschwarz meinte dazu am 27.03.15:
Das ist ebenfalls ein guter Kommentar zu den aktuellen Ereignissen um den Flugzeugabsturz, der in dieser Woche fast ausschließlich die Medienlandschaft gestaltet.

Dank & Gruß
AlX
Sätzer (77) antwortete darauf am 27.03.15:
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 TrekanBelluvitsh schrieb daraufhin am 27.03.15:
Ich kann mich nur wiederholen: Das sind KEINE guten Kommentare, weil sie die politisch-gesellschaftliche Wirklichkeit ausblenden. Und - ich nehme die hier Schreibenden gerne aus - wenn die Politikern diesen Ritualen nicht folgen würden, wären dieselben, die diese nun kritisieren die, die die Gefühlskälte der Politiker anprangern würde.

Ganz ehrlich: Ich sehe in dieser Kritik nur den Reflex einer "erwischten" öffentlichen meinung, die ganz genau weiß, dass sie diese Riten einfordert, die sich selbst dann aber peinlich ist. DAS will sich aber niemand eingestehen, denn dann müsste man sich ja auch an die eigene Nase fassen und könnte nicht nur mit dem ausgestreckten Finger auf andere Nasen zeigen.

 autoralexanderschwarz äußerte darauf am 27.03.15:
Lieber Trekan (?),

was ist denn für dich ein Gütekriterium für einen Kommentar? Dass er dir gefällt? Dass er deiner Position entspricht? Ich denke, dass ein Kommentar gut ist, wenn es ihm gelingt eine Position oder eine Haltung darzustellen und zu veranschaulichen. Ich verstehe deine Bedenken bezüglich des von dir zitierten Satzes, der vielleicht dahingehend überflüssig ist, dass er selbstverständlich ist.
Deine Argumentation bezüglich der Ausblendung der politischen Realität halte ich für fragwürdig, zumal dieser Text ja eben ein Kuriosum politischer Realität spiegelt und dabei hinterfragt. Alles weitere, was du schreibst, sind bloße Unterstellungen und Anfeindungen. Intention meines Textes ist es mitnichten irgendjemanden den schwarzen Peter zuzuschieben (was ist denn in diesem Fall der schwarze Peter?), sondern lediglich meinen subjektiven Eindruck der letzten Tage in Form eines Kommentars hier zu veröffentlichen und ihn damit (natürlich) auch zur Diskussion zu stellen. Den "logischen Fehler" sehe ich nicht.
Auch wie du meine inhaltliche Beliebigkeit (also mit anderen Worten meinen vermeintlichen Opportunismus) herleitest, müsstest du mir erklären.

Gruß
AlX
(Antwort korrigiert am 27.03.2015)

 TrekanBelluvitsh (27.03.15)
Liest sich logisch. Ist es aber nicht.

Man stelle sich nur einmal vor, die hier gescholtenen Politiker würden sich nicht so verhalten, würden ein Statement mit deinem Satz "Niemand kann vernünftigerweise etwas Gutes daran finden, wenn unschuldige Menschen unverschuldet sterben, aber..." beginnen. Man braucht kein Prophet zu sein, was dann durch den Blätter- und Internetwald rauschen würde.

Und damit ist das auch nur eine der üblichen pseudokritischen Kommentare, die den 'bösen Politikern' den schwarzen Peter zuschieben will. Darum: NEN FETTEN DAUMEN RUNTER!
Sätzer (77) ergänzte dazu am 27.03.15:
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 autoralexanderschwarz meinte dazu am 28.03.15:
Lieber Sätzer,

vielen Dank für deinen Kommentar und für die Differenzierung. Ich möchte auch gar nicht Betroffenheit an sich kritisieren sondern vielmehr das Fehlen der Betroffenheit an anderer Stelle, dementsprechend "selektive Betroffenheit". Gerade diese Ambivalenz macht manches Statement so unglaubwürdig.

Lieben Gruß
AlX

 Irma (31.03.15)
"Auch wenn es zynisch erscheinen mag Flugzeuge in Boote umzurechnen, muss die Frage erlaubt sein, warum der Tod des einen Menschen so emotional reglos hingenommen, der eines anderen so leidenschaftlich beklagt wird, warum die Betroffenheit sich so selektiv regt und ob selektive Betroffenheit überhaupt noch Betroffenheit ist."
Es gibt so viel Unheil auf der Welt. Löste das alles in gleichem Maße Betroffenheit in uns aus, könnten wir es nicht (er-)tragen und gingen selber kaputt daran. Man kann nicht überall gleich stark mit-leiden. Es ist ein gesunder Selbstschutzmechanismus des Menschen, manches Unglück nicht so dicht an sich heran zu lassen.

Das gelingt uns umso leichter, je weiter weg etwas ist. Die hungernden Kinder in Afrika müssen uns über das Fernsehen in unser Wohnzimmer gebracht werden, damit uns ihr Leid anrührt. Ein Unglück im eigenen Land, der eigenen Stadt, vielleicht sogar der Nachbarschaft erreicht uns viel eindrücklicher. Und der alten Dame geht der Tod ihres geliebten Hündchens eventuell näher als das überfahrene Kind vor ihrer Haustür.

Betroffen macht uns auch, was uns zwar nicht selbst betrifft, aber theoretisch betreffen könnte. Es ist unwahrscheinlich, dass wir einmal in einem der Flüchtlingsboote sitzen werden. Aber die nächste Flugreise ist gebucht und das eigene Kind vielleicht auch gerade auf Klassenfahrt.

Ich denke, selektive Betroffenheit ist zwar nicht gut, aber sinnvoll. Die Wahrhaftigkeit und Tiefe des Gefühls sehe ich losgelöst von einem allgemeinen Betroffenheitsempfinden. Wenn mich etwas betroffen macht, dann bewegt es mich in hohem Maße. Und daraus lässt sich viel Gutes schöpfen (Wohltätigkeitsvereine, Spenden, Nachbarschaftshilfe etc.) Man kann zwar nicht die ganze Welt retten, aber vielleicht einen kleinen Teil davon besser machen.

Zu den Politikern: Ich möchte dem ein oder anderen nicht absprechen, dass ihn das Schicksal dieser Menschen tatsächlich berührt hat. Abgesehen davon darf man aber - wie Trekan meinte - auch erwarten, dass sie den Angehörigen der Toten aus dem eigenen Land in gebührender Weise das Beileid aussprechen. (Nach dem Tod ihres Mannes werde ich meiner Nachbarin meine Anteilnahme bekunden, auch wenn ich innerlich denke, dass sein Tod kein großer Verlust für die Menschheit ist.) Achtung und Respekt vor den Hinterbliebenen erfordern eben auch ein offensichtliches Zeigen und Bezeugen von Betroffenheit, insbesondere wenn es sich um die Stellvertreter unseres Landes handelt.

Ein interessanter, nachdenklich machender Text. LG Irma
(Kommentar korrigiert am 31.03.2015)

 autoralexanderschwarz meinte dazu am 31.03.15:
Liebe Irma,

vielen Dank für deinen (wirklich schönen) Kommentar, den ich so ebenfalls unterschreiben würde (auch wenn ich hoffe, dass deine Nachbarin dieses Portal nicht nutzt). Natürlich ist für einen Westeuropäer die Identifikation mit einem Flugreisenden einfacher als mit einem Bootsflüchtling und natürlich ist in einer solchen Situation auch die Anteilnahme der politischen Repräsentanten der Menschen geboten, keine Frage. Der Auslöser für meinen Text war die Rede Lammerts vor dem Bundestag, in der er (sinngemäß) folgenden Satz sagte: "Das Mitgefühl mit dem Tod unschuldiger Menschen macht nicht an Ländergrenzen halt." Dieser Satz wiederum hat mich wütend gemacht.
Ähnliches gilt für die (betroffenen) Worte unseres Innenministers, der vor einigen Wochen noch "Willkommenscenter" in Afrika forderte. Es gibt weitere Beispiele, die hier den Rahmen sprengen würden. Mit "selektiver Betroffenheit" (ich weiß nicht, ob es den Begriff so tatsächlich gibt) meine ich auch nicht, dass man (natürlich) mit dem einen stärker mitfühlt, als mit den anderen, sondern eine frei gewählte, bewusste Betroffenheit (aus was für Gründen auch immer). Deren Inszenierung empörte und empört mich.

Lieben Gruß
AlX
(Antwort korrigiert am 31.03.2015)
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