Zeitgeist

Kommentar zum Thema Zeitgeist

von  autoralexanderschwarz

In dem Film "Network" fordert ein von der Welt enttäuschter Fernsehmoderator seine Zuschauer auf ihren Zorn hinaus in die Welt zu schreien. Sie sollen die Fenster öffnen und bald hallen seine Worte tausendfach von den Straßen wieder. "Ich mach das alles nicht mehr mit", rufen die Menschen und "ihr könnt mich alle am Arsch lecken". Knapp vierzig Jahre später ist es sehr still auf den Straßen geworden, weil es so scheint als würden nun alle mitmachen. Der einstmals mündige Bürger hat das Gefühl der Selbstwirksamkeit verloren, alles ist im Fluss und alles, alles ist egal geworden. Die Reaktion auf "Lampedusa" ist die Idee eines drohnen- und satellitengestützten Überwachungssystems, um die Menschenströme, die dort im Meer versinken, besser überwachen zu können, die Menschen kaufen weiterhin Produkte, die in Elendsfabriken in Bangladesch oder in China produziert werden, in Syrien wird weiter auf Zivilisten geschossen und in Guantanamo werden die Häftlinge noch immer in Käfigen gefoltert. Nichts hat sich verändert und der durch Fernsehbilder evozierte Zorn ist schnell einem hilflosen Staunen gewichen. Der Aufschrei bleibt aus, alle sind stumm geworden. Wir leben in einer Dystopie, die totalitärer ist, als es sich die kreativsten Autoren vergangener Zeiten ausmalen konnten und wenn man nachts in einer Straßenbahn sitzt, leuchten die Gesichter gespenstisch im Licht der Smartphones. Es ist nicht so, dass Menschen- oder Bürgerrechte im großen Stil abgeschafft wurden; sie sind einfach wertlos geworden, weil niemand mehr für sie eintritt. Die Bildung ist zum Handlanger der Wirtschaft verkommen, die OECD spricht von Humankapital und noch immer verhungern Tag für Tag Kinder. Demokratie bedeutet nicht mehr Volkssouveränität sondern lediglich die Möglichkeit eine Partei zu wählen, die sich nicht an Wahlversprechen gebunden fühlt. Politische Entscheidungen fallen in Hinterzimmern und in Koalitionsgesprächen. Der Lobbyismus privater kapitaler Interessen ist mächtiger als der Volkswille geworden. In einer solchen Welt verliert der Einzelne den Glauben an Veränderung, man wird mitgerissen. Es gibt keinen Idealismus mehr, weil die Realität ihn nicht zulässt. Es gibt tausend weitere Beispiele, die sich beliebig ergänzen ließen, unzählige Härten und Grausamkeiten, die in den Nachrichten nun in HD aneinander gereiht werden. Die Ausbeutung von Rohstoffen in Ruanda, deutsche Panzer in Katar, U-Boote für israelische Besatzer. Dürrenmatt schrieb 1954, dass es "in der Wurstelei unseres Jahrhunderts [...] keine Schuldigen und auch keine Verantwortlichen" mehr gibt. "Alle können nichts dafür und haben es nicht gewollt." Diese Worte waren niemals wahrer und aktueller. Und dennoch sind wir kollektiv schuldig, schuldig wie die indischen Kollaborateure, die sich lange Jahre den englischen Kolonialherren beugten, aus Angst, dass es noch schlimmer wird und weil die Angst vor dem Hunger der eigenen Familie größer ist als das Mitleid für den Mitmenschen, der unter den Stiefeln seiner Unterdrücker verblutet. Und so machen alle einfach weiter, kaufen ihre mit Sandstrahlern gebleichten Jeans, ihre SUVs, ihr neues Smartphone und das bunte Plastikspielzeug für die Kinder, geben ihre Suchbegriffe bei google ein und posten ihren Status bei facebook. Alles ist im Fluss und alles, alles ist egal geworden. Wer wagt noch den Protest, wenn er um die Verlängerung seines befristeten Vertrages bangt. Wen interessiert der ausgebeutete Leiharbeiter, wenn nur das Paket pünktlich vor der Haustür liegt. "Empört euch", schrieb Hessel 2010, doch die Empörung hielt sich in Grenzen. "Wer kämpft kann verlieren", schrieb einmal Rosa Luxemburg, "wer nicht kämpft hat schon verloren."

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Kommentare zu diesem Text

Laudalaudabimini (59)
(06.11.13)
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 TrekanBelluvitsh (06.11.13)
Das (zugegebenermaßen geklaute) Klagen eines Misanthropen:
"Gut, jetzt weiß ich genug. Wenn ich selbst die größte Gefahr bin, dann ziehe ich mich zurück. Soll der Mann weiter morden. Wenn es das ist, was sie wollen. Er ist Teil ihrer Ordnung, ihrer kostbaren Gesellschaftsordnung - ohne solche Kreaturen haben sie keine Sündenböcke für ihre eigene verdammte Brutalität! Wer bin ich schon, dass ich mich da einmische? (...) "Nein." (...) "Ich spiele mit. Ich gehe zurück in (...) mein leeres, totes Haus und vergesse diesen Fall. (...) Und diese verdammte Gesellschaft, die sie für sich aufgebaut haben, die soll den Weg gehen, den sie dafür geplant haben, und verfaulen!"
- Laszlo Keisler, Psychologe; in: Carr, Caleb; Die Einkreisung; München 1994, ND Hamburg 2010; 382

(Ach ja, in dem Buch geht es um einen echten Fall, einen echten Mörder. Ich zitiere es metaphorisch, gell?)
(Kommentar korrigiert am 06.11.2013)

 autoralexanderschwarz meinte dazu am 06.11.13:
Danke für den Kommentar. Das habe ich sogar gelesen,
als ich noch jung war - es muss älter sein als 2010 -,
wobei ich mich hauptsächlich an Kutschenfahrten
und Leichenfunde erinnere. Nehme das aber als Anregung
es noch einmal zu lesen, weil mir diese Tiefe - damals -
nicht bewusst war.
Gruß & Dank
AlX

 TrekanBelluvitsh antwortete darauf am 06.11.13:
Habe tatsächlich das ND für Neudruck vergessen. Original ist es aus 1994. Habe das verbessert.
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