Meine Tante stand fensterputzend im Hausflur und hatte eine neue Frisur mit lauter bunten Spangen und sah mal wieder so unglaublich jung aus, als wäre sie 25 statt 52 Jahre. Ich musste schlucken, als ich ihre neuen, dunkelbraunen, orthopädischen Schuhe sah, die Betonklötzen glichen und die sie tragen sollte, seit sie letztes Jahr beim Rumwirbeln so unglücklich die Treppe heruntergestürzt war, dass sie zweimal operiert werden musste. Ein ganzes Jahr lang bekam sie das Essen von der Volkssolidarität. Wortlos streckte ich ihr den rosa Rosenstrauß entgegen, sie fiel mir um den Hals, der Rosenstrauß bohrte seine Stacheln unbarmherzig in unser beider Brüste und wir mussten ein bisschen weinen, vor lauter Liebe und lauter Schmerz.
Meine Oma hatte Besuch von der Nachbarin, die gerade aufbrach und glücklicherweise so noch sehen konnte, was meine Oma für eine gute Enkelin hat, die montags kommt, mit rosa Rosensträußen und rosa Vögeln, was meine Oma ziemlich stolz machte, gerade.
Und dann hielt ich den Strauß mit der linken Hand weit vom Körper weg, weil ich in der rechten Brust immer noch zwei Stacheln spürte vom Tantenstrauß und es ging auch alles gut, diesmal. Meine Oma sah eigentlich aus wie immer, was auch schon was ist, hatte ihre blütenweißen selbstgehäkelten und selbstgestopften Söckchen an, bei deren Anblick ich mir gerade noch die mütterliche Ermahnungen verkneifen konnte, dass man damit leicht mal die Treppe runtersegeln könne. Sie trug eine frische Kittelschürze mit rosa Rosen darauf, was ich mal so was von passend fand. Das Wohnzimmer, in dem ich, meine Mutter wahrscheinlich nicht sonderlich vermissend, meine ersten vier Lebensjahre verbracht hatte, sah auch aus wie immer. Was täuschte, weil meine Tante mich kurz darauf, mit leicht beleidigtem Blick, darauf hinwies, ob mir nicht auffiel, dass alle Fenster geputzt und die Gardinen neu seien. Dann gab es erst mal eine Moralpredigt, weil ich keine Bettwäsche zum Mangeln mitgebracht hatte und was ich denn für eine Hausfrau wäre und was das für eine schwere Arbeit sei, mit dem Mangeln, obwohl sie das furchtbar gerne für mich täte, aus Liebe.
Die Linsensuppe, wegen der meine Oma extra früh aufgestanden war, stand schon brodelnd zum Verzehr bereit, aber da ich um elf noch keinen Hunger hatte und auch der Kind-du-musst-doch-was-essen-Spruch nicht den gewünschten Erfolg brachte, bekam ich erst mal ein schöne Tasse Caro-Kaffee in der schönsten Rosentasse, weil richtiger Kaffee Gift sei und eh nicht schmecke. Und von dem Rosenstrauß wurde sofort die weißen Bandelage rundherum abgeschnitten, die mich bestimmt einen extra Euro gekostet hatte und die meine Oma affig fand. Genau wie den rosa Vogel. Phhhhhh. Meine Tante polterte stöhnend die Treppe herauf, mit ihren schweren braunen Schuhen und mit einer Tasse Bohnenkaffe und Orangensaft, so dass ich mit Getränken wunderbar versorgt war, für die nächsten Stunden. Meine Oma hatte in der Zwischenzeit einen Stapel Briefe herausgesucht, 77 Stück, wie ich später erfuhr, die mit einem rosa Schleifchen zusammengebunden waren und die von Werner Biel stammten, mit dem sie hundert Tage zusammen war, vor dem Krieg, und der dann gefallen ist, mit 21, im April 1945, in Berlin.
Und so erfuhr ich die ganze Geschichte, chronologisch geordnet, in Feldpostbriefe gefasst, durch Erzählungen und Fotos umfassend ergänzt. Und ich dumme Kuh saß da und heulte, weil das alles so verdammt traurig war, weil Werner Biel so verdammt nett geschrieben hatte und weil er meine Oma immer «Burgi» nannte, was ich furchtbar fand. Den letzten Brief schrieb er an seinem Geburtstag, ein paar Tage, bevor er starb und in dem er schrieb, dass er hoffe, nicht sterben zu müssen.
Und dann flüchtete ich erst mal auf den Balkon, weil ich nicht mehr aufhören konnte zu weinen und meine Oma nicht mehr aufhören konnte zu erzählen und ich versuchte, sie abzulenken, indem ich sie um jede Menge Linsensuppe bat, aber währenddessen las sie weiter und weiter vor und ich konnte mich nicht dagegen wehren und dann brachte meine Tante Obstsalat, Eis, Kuchen und Tee und ich aß und trank alles und heulte und ergriff die Flucht, gegen drei am Nachmittag. Ich lief noch meinem Onkel in die Arme, der gerade von der Arbeit kam und mich machtvoll mit seinen ganzen 136 Kilo ans Herz drückte, vor lauter Liebe. Und dann musste ich noch winken, weil alle vor dem Haus standen, so lange, bis ich nicht mehr zu sehen war in der Ferne.
Im Auto holte ich tief Luft und der Kopf tat mir weh, wegen vier Stunden Krieg und der Bauch tat mir weh, wegen vier Stunden Liebe und die rechte Brust tat mir weh, wegen der Stacheln, von dem rosa Rosenstrauß, dem blöden.