das Zimmer

Erzählung zum Thema Schule/ Studium

von  atala

Marie presst die Flächen der Unterarme auf die kühle Tischplatte, so wie sie es immer macht, wenn sie nervös ist. Sie starrt auf den zweifarbigen Radiergummi, während die Lehrerin die Prüfungen verteilt.
„Egal was passiert, danach kann ich in meine Höhle“ tröstet sie sich. Ihre Höhle, das ist ein Raum voller Bücher, der zwischen ihrem Klassenzimmer und dem nebenan liegt. Die Regale gehen von den Fusspitzen über Maries aschblondes Haar bis zur Decke. Sie muss den Hals recken um das obere Ende zu sehen, und einen Hocker nehmen um die höchsten Bücher zu erreichen. Die Regale sind hufförmig aufgestellt und der dicke Sessel, der Marie verschob, befindet sich immer noch hinter einem diagonal liegenden Regal. Wenn sie auf dem Sessel sitzt, die Knie zu sich gezogen und einem Buch unter ihrer Nasenspitze, ist sie von alle Seiten verborgen.
Heute scheint die Sonne. Marie denkt: das ist kein Zufall. Jeden ersten Donnerstagnachmittag des Monats, scheint die Sonne. Dann nehmen alle Kinder die Bücher mit nach draussen, wo sie nicht unter Beobachtung sind und andere Dinge machen als lesen. Marie bleibt dann allein im schmalen Zimmer. Wenn sie die Tür betritt, sieht sie den Staub im Sonnenlicht tanzen, das aus dem einzigen Fenster hineinscheint. Sie fährt mit der flachen Hand über die hölzerne Fensterbank, bevor sie durch das Tor der Regale tritt.
„Meine Höhle braucht mich genauso wie ich sie“, denkt sie dann. Wer streift sich die Schuhe ab um mit den Zehen den Teppich im Raum zu befühlen, wer zieht ein dunkles Buch aus der Reihe und atmet tief die Luft zwischen den Seiten ein. Wer rollt sich im Sessel zusammen wie ein Kätzchen und hört das Klingeln nicht, das alle Schüler in den Abend entlässt. Manchmal denkt sie, der Raum sieht für die Anderen anders aus. Erst wenn sie über die Schwelle des Klassenzimmers ins Bücherzimmer tritt, verwandelt er sich. Dann würde es sie jetzt noch nicht geben, ihre Höhle, wo sie noch mit feuchten Handflächen und wippendem Knie auf das Ergebnis der Matheprüfung wartet.
Die Lehrerin murmelt ihren Namen mit Blick aufs Papier, kommt mit grossen Schritten zu ihrem Pult und legte ihr die Blätter auf den Tisch. Marie sieht die rote Zahl zuoberst auf der ersten Seite und schluckt leer.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (06.09.18)
Zeichnet ein romantisch-verklärtes Bild einer Schülerin, die sich eines Art bibliophilen Eskapismus bedient.
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