Taoteking

Kurzgeschichte

von  Hartmut

Er hatte zum 70. Geburtstag ins  „Mandarin“ eingeladen. Die meisten waren gekommen, die Kollegen seines Lehrstuhls, die Professoren der Philosophischen Fakultät und sogar der Rektor, der sich bei der Begrüßung mit „Eure Magnifizenz“ anreden ließ.
Die Gespräche an den Tischen gingen meist um seine Nachfolge.
Seine Tischrede vor Eröffnung des Buffets begann mit einem Gedicht.  „Als er Siebzig war und war gebrechlich
Drängte es den Lehrer doch nach Ruh
Denn die Güte war im Lande  wieder einmal schwächlich
Und die Bosheit nahm an Kräften wieder einmal zu…“
Hannah Arendt –  so betonte er – bezeichnete es als das stillste und tröstlichste Gedicht unseres Jahrhunderts. Auch er habe es in seiner Jugend immer und immer wieder gelesen. Eine Kostbarkeit, wie das heutige Buffet. 
Das Buffet trug den Namen „Fernöstliche Kostbarkeiten“. Die einzige  Bedienung, die die Teller abräumte und für die zahlreichen Bestellungen  verantwortlich war, nahm sie mit einem Lächeln an, ein schöner Kontrast  zum lauten Lachen einiger Gäste.
Ein Gast fragte sie „in einer heiteren Regung“, ob sie jenes Gedicht kennen würde? „Wir haben Laotse in der Schule gelesen, mein deutscher Mann hat dieses Gedicht von Bertold Brecht mir vorgelesen: 
„Dass das weiche Wasser in Bewegung mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt.
Du verstehst, das Harte unterliegt“
„Die Weisheit der Gewaltlosigkeit“, sagte sie ernst.
Er bezahlte die Rechnung des Abends mit seiner Kreditkarte, kein Trinkgeld. Auf dem Nachhauseweg sagte er zu seiner  Frau: „Ich kenne meinen  Nachfolger – ein Arschloch".

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Kommentare zu diesem Text

Graeculus (69)
(30.08.16)
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 Dieter_Rotmund (31.08.16)
Ist mir zu hastig erzählt, aber dennoch leidlich gerne gelesen.
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