Lyntje
Zwischen Hecken und Himmel, Sandwegen und Strand, zwischen Wellen und Wolken lagen unsere Dörfer. Du wohntest in der Nähe der Kirche umgeben von Phlox, Rittersporn und Rosenstauden, ich gleich hinter dem Deich, auf dem die Schafe satt wurden. Um dein Haus breitete sich ein geordneter, üppig blühender Garten aus. Zu mir gehörte ein verfallener Zaun, durch den mein bescheidenes Häuschen, zwei verwilderte Forsythiensträucher und ein Kirschbaum lugten.
Heute ist Dienstag. Erinnerst du dich?
Weißt du noch, wie du eines Tages auf dem Fahrrad an meinem Gartenzaun vorbeikamst, während ich versuchte, eine schadhafte Zaunlatte auszuwechseln? Die Steinchen auf dem Kiesweg knirpsten. Ich stand gebückt da, weil ich die neue Latte anschrauben wollte. So sah ich nur deine nackten Füße auf den Pedalen und deine braungebrannten Waden. „Joakim uti Babylon…“ hörte ich dich im Vorbeifahren singen. „… hade en hustru Susanna …“, ergänzte ich unwillkürlich, richtete mich auf und schaute dir verwundert nach. Dein dunkles, langes Haar sah ich. Wie ein leichtes Tuch umspielte es deinen Rücken. Und du kanntest dieses alte schwedische Volkslied, das ich selber sehr mochte wie alles, was aus diesem Land kam.
Du warst noch nicht sehr weit geradelt, als ich beobachtete, wie aus deiner Hosentasche ein kleines Schlüsseltäschchen auf den Kiesweg fiel. Du bemerktest es nicht und fuhrst weiter. Ich jedoch rannte los, stolperte fast hinter dir her und rief laut: „Hallo!“ Und noch einmal „Hallo!“ Aber du hörtest mich nicht. Der Wind verschluckte meine Rufe und dann auch deinen Gesang. Der Weg machte eine Kurve, die Sträucher verdeckten dich. Ich hob das Täschchen auf, rannte zurück, holte eilig mein eigenes Fahrrad aus dem Schuppen und radelte dir hinterher.
Es gab ja nur einen einzigen Weg - am Deich entlang, am Leuchtturm vorbei und dann in den Ort, den wir später Lyntje-Ort nannten. Aber wie sollte ich dich finden? Wohin gehen junge Frauen, die Lyntje heißen, mit dunklen langen Haaren? Zu ihrer Freundin? Zu ihrer Tante, zu ihrem Onkel, zu ihrer Großmutter? Einfach nur nach Hause? Ich blickte im Fahren in die Gärten und Hofeinfahrten. Ich hielt vor dem Dorfladen und schaute mich um. Aber nirgendwo stand ein Fahrrad, vor der Apotheke nicht, vor der Post nicht. Zur Kirche auf der Anhöhe wollte ich nicht mehr fahren. Der Wind frischte auf, düstergraue Wolken zogen heran, und es schien, als wolle es anfangen zu regnen. Also kehrte ich um und fuhr unverrichteter Dinge zurück nach Hause. Unterwegs wurde es zusehends dunkler und ungemütlicher. Kaum war ich in der Stube, als es auch schon anfing heftig zu regnen und zu stürmen. Der Deich versank im Nebel.
Wenn es nach meinem Willen gegangen wäre, hättest du nach einer kurzen Weile verzweifelt an meiner Türe geklopft. Ich hätte aufgemacht, du hättest tropfnass vor mir gestanden und um Schutz vor dem Unwetter ersucht. Ich ertappte mich, dass ich tatsächlich angespannt nach draußen lauschte, ob sich irgendetwas tat. Ich lugte durch die kleinen Fenster. Aber nichts als Regen und Sturm. Die Wolken hingen schwer vom Himmel, die Büsche und Bäume an der Straße bogen sich, dem Kirschbaum wurde sogar ein Ast entrissen. Der Weg, der am Haus vorbei führte, füllte sich mit Pfützen. Das war alles.
Ich erinnere mich noch an jede Einzelheit dieses Tages, wie ich gedankenverloren einen Becher mit kaltem Tee vom Vormittag erwischte, einen Keks dazu aß und noch einen zweiten. Wie ich mich lustlos an den Schreibtisch setzte, um mich auf den Unterricht für den nächsten Morgen vorzubereiten.
Es könnte ein Thema aus der Wirtschafts-Geografie des Ruhrgebietes gewesen sein und Mathematik für die siebte Klasse. Umformulieren von Brüchen in Prozente. Jedes Jahr dasselbe. Wie viel Prozent meiner Zeit hatte ich heute schon auf unsinnige Weise damit verbracht, dass ich dir hinterhergefahren war, und damit, dass ich nur zu gern meine Gedanken abschweifen ließ, damit sie dich umkreisten? „So ein albernes Benehmen! Wie ein dummer Schuljunge!“, schimpfte ich und ertappte mich dennoch dabei, wie ich mir ausführlich vorstellte, wie ich dich in den nächsten Tagen doch noch finden und dir den Schlüssel übergeben würde.
Schließlich stand ich auf, briet mir ein Ei mit Speck, belegte zwei Brotscheiben mit Tomaten, Gurke und Schnittlauchquark und kochte eine weitere Kanne Tee. Dann setzte ich mich damit an meinen Küchentisch und entwarf neben dem Abendessen ein Übungsblatt für meine Schüler.
Da du nicht kamst, trug ich irgendwann das Schlüsselmäppchen zum Fundbüro im Rathaus, hinterließ auch meinen Namen und meine Adresse, denn insgeheim hoffte ich natürlich, dass sich daraus eine Begegnung mit dir ergeben könnte. Dann geschah lange nichts mehr, was erwähnenswert gewesen wäre. Die Zeit schlich dahin.
In der Schule benahmen sich meine Schüler mal so, mal so, machten meist unwillig ihre Hausaufgaben und bereiteten sich mal mehr, mal weniger gut auf die Klassenarbeiten vor. Ich war kein sehr engagierter Lehrer. Vielleicht spiegelte mein Unterricht diese leise Unlust wider, war deswegen womöglich langweilig und eintönig. Es war mir nicht in die Wiege gelegt, sehr unterhaltsam oder gesprächig zu sein. Ich kam mit wenigen Worten aus. Wenn ich im Haus und im Garten werkeln, hin und wieder ein Aquarell malen oder mit dem Segelboot draußen auf dem Wasser sein konnte, lebte ich auf.
Erinnerst du dich an unsere Holzbank, die ich gezimmert hatte? Sie steht immer noch vor dem Haus dort, wo noch lange am Abend die Sonne scheint. Du wolltest später immer, dass ich einen Birnbaum dazu pflanzte und dass ich endlich die Forsythien stutzte, die mit viel zu langen Zweigen überhingen und ungewollt Ableger bildeten. Ich jedoch fand es schön, wenn es hier in Svjogen-Ort, wie wir es nannten, ein bisschen verwildert war.
An einem Dienstagnachmittag klopfte es an meiner Haustür. Ich machte auf und schaute in dein Gesicht. Es gab keinen Zweifel: Nur du konntest es sein – es waren ja auch deine langen Haare und deine Beine. Ich erschrak. Damit hatte ich nicht gerechnet.
„Ich möchte mich bedanken“, sagtest du munter. „Ich bin so froh, dass jemand den Schlüssel für unser Gartenhäuschen gefunden hat.“
Du reichtest mir ein Büchlein mit Gedichten.
„Als Dankeschön.“
„Welch Überraschung.“ Mehr brachte ich nicht über die Lippen. Ich betrachtete den Buchtitel.
„Sind das eigene?“ fragte ich und bat dich herein.
„Ja. Ich schreibe seit einigen Jahren. Aber dies ist mein erstes Gedichtbändchen. Ich hoffe, es gefällt Ihnen.“
„Danke. Ich lese zwar wenig Literatur, eher Sachbücher. Aber dies hier ist sicher eine nette Abwechslung“, sagte ich wohlwollend.
Du standst in meinem Wohnzimmer und schautest dich um.
„Sind das eigene?“, fragtest auch du, als du die Aquarelle an der Wand entdecktest. Ich nickte. Das war der Anfang unserer Geschichte.
Deine Gedichte beschäftigten mich, ihre bildhafte Sprache regte mich an. Wie ein Betrunkener malte ich Aquarelle dazu. Du kamst nun öfter und setztest dich vor meine Bilder und ließest dir Texte dazu einfallen. Wir träumten davon ein gemeinsames Buch mit deinen Gedichten und meinen Bildern herauszugeben. Wenn ich bei dir und Pärtil, deinem Mann, zu Besuch war, sangen wir zu Dritt. Er begleitete unseren Gesang am Klavier. Schön war das. Gemeinsam fuhren wir jede Woche zur Chorprobe. Unsere Freundschaft war die natürlichste Sache der Welt. Vielleicht dachten wir das. Vielleicht dachtest du das. Ich wurde nach und nach unsicherer.
Einmal im Sommer erschrak ich, als du vom Schwimmen zurückkamst. Pärtil und ich saßen in eurem Garten. Wir hatten auf dich gewartet. Du lachtest etwas verlegen und sagtest, du hättest eben im Meer deinen Ehering verloren. Es sei zwecklos, nach ihm zu suchen. Das Meer hätte ihn verschluckt. Erstaunlich schnell fandest du in einer Schublade einen messingfarbenen Gardinenring und stecktest ihn stattdessen lachend an den Finger.
„Der tut es auch“, meintest du schelmisch. Dein Mann nickte und schwieg. Mir wurde ganz ungemütlich zumute.
Eines Tages kam Pärtil nicht zur Chor-Probe. Und auch du fehltest. Pärtil war schwer krank. Ich fuhr dich von da an jeden Tag zum Krankenhaus, weil du kein Auto hattest. Du kamst anschließend noch auf einen Kaffee zu mir, bevor ich dich wieder nach Hause brachte. Mehrere Tage ging das gut. Doch dann war es nicht mehr wegzudiskutieren - die Spannung zwischen uns wuchs. An einem Mittwoch war es soweit. Ich wollte mich eigentlich so verabschieden, wie wir es immer taten - eine kurze Umarmung und ein Kuss auf die Wange, wie Freunde es tun. Doch ich presste dich fest an mich, küsste und streichelte dich, bis deine Augen glänzten, dein Gesicht glühte. Unsere Hände und Lippen eröffneten ein betörendes Spiel, das wir genossen, dessen Gefährlichkeit wir jedoch ausklammerten.
Ganz benommen trat ich den Rückweg an, stieg noch hinauf auf den Deich, ging forschen Schrittes zwischen den Schafen auf der Deichkrone entlang und versuchte zur Ruhe zu kommen. Der Gegenwind machte mir mehr zu schaffen als sonst. Obwohl ich nur langsam vorankam, wollte ich unbedingt über das unruhige Meer schauen können, über Wiesen und Felder hinweg die kleinen Orte zu meinen Füßen liegen sehen. Die Tiefe des Himmels wollte ich sehen, beobachten, wie die Wolken wanderten, die späte Nachmittags-Sonne wollte ich über mir spüren. Ich brauchte beides, ruhendes Land und aufgewühltes Meer, Schutz und Gefahr, um mein Gleichgewicht zu finden.
Ich stieg wieder hinab und stapfte nachdenklich durch den Sand. Wie oft schon stand ich bewundernd hier am Strand, hingerissen von der Macht und der Würde der Meeresbewegungen. Manchmal umspülte sein Wasser sanft meine Füße in gleichmäßig wiederkehrenden, kleinen Wellen. Ein anderes Mal befeuchtete es mein Gesicht mit der Gischt der aufspritzenden Brecher, die laut und ungebärdig gegen die Küste prallten. Jedes Mal kam ich erfüllt und erfrischt, mit neuem Elan nach Hause. Es war dämmrig, als ich meinen Gartenzaun erreichte. Ich rüttelte an einigen Latten. Sie gaben nicht nach und machten den Eindruck, als seien sie fest genug, um den Herbststürmen zu trotzen.
Wir trafen uns nun oft am Deich, wenn du auf dem Weg zum Bauern vorbeiradeltest, um bei ihm Milch zu holen. Ich wartete hinter der Deichkrone, im Ufergras auf dem Rücken liegend und in die Wolken schauend, bis dein Schatten über mich kam.
Es dauerte lange, bis man feststellte, dass Pärtil unheilbar krank war. Sein Husten hörte sich hart an und quälte ihn, sein Atem ging schwer. So oft ich konnte, fuhr ich mit euch übers Land. Pärtil ging gerne eine kleine Weile am Deich entlang. Bis zur nächsten Bank schaffte er es gerade mit seiner Kraft. Dann setzten wir uns mit ihm hin und schauten über das Meer. Pärtil saß aber auch gerne einfach im Garten hinter dem Haus, wenn dort die Abendsonne noch wärmte. Ich besuchte euch, so oft es ging. Unsere Abschiede dauerten jedes Mal länger, wurden inniger und intensiver.
Ich hoffte, dass von außen alles normal aussah, wenn ich euch zu den Kirchenkonzerten begleitete. Wir saßen in aller Öffentlichkeit beisammen, als ob wir eine Familie wären - Pärtil im Rollstuhl in der Gangmitte, und wir neben ihm in der Kirchenbank. Nie haben wir darüber gesprochen, was es für Pärtil bedeutete, dass ich da war. Man konnte nicht wissen, ob er ahnte, wie nahe wir uns gekommen waren. Auch haben wir unsere Beziehung nie zu Ende bedacht, wir nahmen einfach die Gelegenheiten, die uns das Leben und unsere Liebe anboten. Und wenn ich in eurer Gegenwart unsicher wurde, begann ich zu singen, und ihr beide stimmtet mit ein.
So sicher wie nach den Höhepunkten im Leben der Alltag einkehrt, so sicher wie auf jeden Montag ein Dienstag und dann ein Mittwoch folgt, so beständig verlief im Übrigen unser Leben. Auf Ebbe und Flut kann man sich verlassen. Auf die Überflutung des Strandes bis zu den Dünen im Herbst kann man getrost warten. Das geschieht jedes Jahr aufs Neue. Immer wieder. Man hat sich an das Geschrei der Möwen gewöhnt, unsere ständigen Begleiter. Und des Nachts warnt in regelmäßigem Kreisen die Leuchtlampe im Turm die Seefahrer vor der nahen Küste. So kann man sicher sein, wenn man ein geübter Seemann ist und die Signale kennt. Die Welt ist geordnet hier. Wir können nachts beruhigt träumen und tags geruhsam zu Werke gehen. Alles hat seine Zeit. Alles hat seine Grenze. Dafür gab es die Deiche, die Zäune, die Schulhofmauer. Einzig die Fenster haben keine Grenzen, keine Scheiben-Gardinen, nur Blumen auf den Fensterbänken und Fensterläden, die meist offen stehen. Wir haben nichts zu verbergen.
Eines Tages schlief Pärtil ein ohne noch einmal aufzuwachen. Er war so still gegangen, wie er gelebt hatte. Euer Haus wirkte auf einmal leer. Seine Stimme fehlte, selbst sein Husten. Du sagtest nicht viel nach seinem Tod. Und ich hielt mich zurück, damit du in Ruhe trauern konntest. Wir sahen uns seltener.
An einem Montag standst du plötzlich mit ernstem Gesicht vor mir. Ich schauderte innerlich vor deinen auf einmal seltsam fremden und großen, dunklen Augen. Unsere Gräben seien zu groß, sagtest du entschlossen. Die Kraft unserer Hände und unserer Liebe reichten nicht aus, um sie zuzuschütten. Der Wind würde unsere Bemühungen zerteilen, der Sturm sie hinweg tragen, bevor wir einen Grund gelegt hätten, sagtest du.
Ich verstand dich nicht und war benommen, wie wenn ein Brecher mich weggespült und wieder an Land gekippt hätte. Ratlos streichelte ich dein Gesicht, deinen Nacken, strich über dein Haar, deine Schultern und deinen Rücken und hielt nicht eher inne, bis deine Hand Einhalt gebot. Du seiest nicht von hier, sagtest du ernst und gabst mir einen letzten Kuss. Du wolltest zurückkehren in das Land, aus dem du einmal gekommen warst. In diesem Moment ertrank ich in der auflaufenden Flut.
Ich habe vergessen, wie ich in den letzten Jahren gelebt habe. Meinen Garten würdest du nicht mehr wiedererkennen, so zugewachsen ist er. An meinem Zaun haben die Herbst-Stürme ihren Unmut ausgelassen. Meine Bilder sind vergilbt, dein Gedicht- Büchlein zerlesen. Die neuen Besitzer eures Hauses haben eure farbenfrohen Blumen und Sträucher durch eine einfache grüne Rasenfläche ersetzt. Niemand singt mehr „Joakim uti Babylon hade en hustru Susanna...“ Aber hin und wieder an einem Dienstag stelle ich mir vor, du säßest neben mir. Und dann rede ich mit dir, als ob ich dich an unsere gemeinsame Geschichte erinnern müsste, damit du sie nicht vergisst.
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