Das Leben kann einen schnell aus der Bahn werfen. Einmal eine Entscheidung getroffen die erst gar nicht nach Risiko gestunken hat, sich dann aber als ein Verhängnis herausstellte, das immer weitere Bahnen in immer erschreckenderen Richtungen zieht. Meistens trifft man solche Entscheidungen wenn einem die Zeit fehlt ernsthaft über das nachzudenken was man gleich tun wird. Es gibt Menschen die es sich leisten können ständig Fehler zu machen, vielleicht weil sie gelernt haben sich mit bestimmten Begebenheiten zufrieden zugeben. Mal ein Regal falsch eingeräumt, die Fracht zwei Stunden zu spät geliefert oder vergessen einfach die Miete zu zahlen. Es gibt Menschen die mit so was ganz locker umgehen können. Und dann gibt es Menschen die immer wieder versuchen müssen ihre Fehler zu korrigieren, nicht weil sie es wollen, sondern weil sie die Verantwortung dafür tragen. Eine Verantwortung die meist mit dem Leben anderer verknüpft ist. Nur selten fragt irgend jemand nach, wie es ihnen dabei geht. Genauso selten wie sich auch nur irgend jemand bei ihnen bedankt. Seit einer Stunde stand er nun bereits vor seinem Spielgel im Flur seiner Wohnung. Es war die einzige Umgebung die ihm noch vertraut vorkam. Doch selbst hier hatte sich schon einiges geändert. Es roch nach künstlichem Duft, auf der Obstschale war ungewöhnlich viel Obst. Doch keine Äpfel, es waren Mandarinen, grüne Bananen und eine Frucht die er nur aus dem Fernseher kannte. Ihm viel der Name nicht ein. Er setzte gerade seine Mütze ab, zog seine Dienstjacke aus als im Spiegel neben seinem Gesicht ein weiteres auftauchte. Ein vertrautes und liebliches Gesicht mit einem zarten Lächeln, das Gesicht seiner Frau. Langsam schmiegte sie sich an seinen Rücken, legte ihre Arme um ihn und fragte mit leiser Stimme. „Ist es vorbei?“ Er atmete tief ein, hielt die Luft kurz an bevor er antwortete. „Ja. Um sechzehn Uhr sollen alle die noch bleiben wollen in das Büro vom Polizeivorsitzenden kommen. Ich weiß nur nicht ob ich wirklich hingehen soll.“ Er legte eine kurze Pause ein, streichelte die Hände seine Frau die ihn nun etwas fester drückte. „Ich werde mich dort melden, aber ich denke ich bin zu alt.“ Er musste während er das sagte husten. „Du bist nicht zu alt, aber sehr erfahren, die brauchen sicher gute Leute. Niemand kennt sich so gut hier aus wie Du. Aber ich überlasse dir diese Entscheidung. Egal wie, wir werden für dich dasein“, sagte seine Frau und versuchte damit ihm Hoffnung zu zusprechen. Dann ging sie in die Küche und wieder stand er allein vor dem Spiegel. Er sah in sein Gesicht und verlor sich in Gedanken. <Es ist das dritte Mal das sich meine Heimat verändern wird. Mein zu Hause, die Straßen, die Menschen. Nichts wird bleiben, wieder einmal wird es sich anfühlen wie ein Neuanfang. Doch will ich das überhaupt? Ich hab dich gesehen, du mein Berlin, deine Pracht, deinen Untergang. Wie schön war meine Jugend, wie sehr hab ich das Baden in der Spree und im Wannsee genossen. Dann kamen die Alliierten, sie zerstörten vieles, mit einem Mal musste ich erwachsen werden. Ich verlor die Hälfte meiner Freunde, die Menschen um uns herum weinten um ihre verstorbenen, aber auch um all das was sie verloren. Andere feierten den Vormarsch. Siebzehn war ich da. Unser Haus in Kreuzberg war eines der wenigen die noch standen, meine Eltern nahmen so viel Mitmenschen auf wie nur möglich. Meine Mutter versuchte nur selten zu weinen, doch an diesem einen Nachmittag konnte sie die Tränen nicht bei sich halten. Sie hielt einen Brief in der Hand, adressiert an mich. Es ein Schreiben von der Wehrmacht, ich sollte mich umgehend melden. Das erste Mal stand ich vor dem Spiegel im Flur, sah in hinein und fragte mich selbst. Sollte ich das wirklich tun? Was ist wenn ich nicht gehe? „Ich muss gehen, sonst kommen sie hierher und holen mich. Ich werde morgen gehen“, sagte ich zu meiner Mutter. Das tat ich dann auch, Mutter begleitete mich. Es war eine Lange Schlange von jungen Menschen, viele in Begleitung ihrer Eltern die alles andere als glücklich aussahen, die meisten Eltern weinten um ihre Kinder. Viele wussten das der Krieg bereits verloren war. Die Schlange wurde immer kleiner, wir näherten uns langsam aber sicher dem Soldaten der die Leute weiter zur Aufnahme schickte. Ich konnte bereits seine Stimme hören als es direkt neben dem Gebäude einen Schlag ließ, es krachte so gewaltig das mir sofort schwindlig wurde, ich verlor das Gehör, es dauerte eine gefühlte Ewigkeit bis es zurück kehrte. Um mich herum war Panik ausgebrochen, ich sah nur starr gerade aus auf das nun in Schutt liegende Haus. Zwei Hände packten mich und rissen mich fort, es waren die Hände meiner Mutter. Schnell rannten wir in Richtung Kreuzberg, schnell einfach nur nach Hause. Eine Woche später war der Krieg vorbei.Ich erinnere mich noch wie meine Eltern versuchten die Normalität wieder herzustellen, doch es dauerte Jahre. Nie werde ich den Geruch von Schutt und Asche vergessen, der Geruch Berlins zu dieser Zeit war ein Gestank aus Tot und Zerstörung. Doch die Menschen die blieben ließen sich nicht unterkriegen, darunter war auch ich, wir bauten die Stadt mit Schweiß und Fleiß wieder auf. Dann kam die Teilung, wer konnte oder wollte ging solange er noch konnte in das Deutschland das unter den westlichen Alliierten aufgeteilte wurde. Wir blieben, mein Vater war bei der Polizei ein angesehener Mann, und so kam auch ich zur Polizei. Auch dies war wieder eine Entscheidung die ich genauso treffen musste. Die Jahre vergingen schnell, nun war es bereits das Jahr 1955. Es war das Jahr als auch die letzten DDR Bürger und Bürgerinnen begriffen das sie niemals wieder die Freiheit genießen konnten wie ihre Brüder und Schwestern im Westen. Doch die DDR bemühte sich zu dieser Zeit noch sehr die Bürger bei guter Laune zu halten. Außer an schnellen Autos, Südfrüchten und einem Urlaub in Amerika fehlte es uns an nichts. Der Sozialstaat bot eine Sicherheit auf die wir in Zukunft neidisch sein werden. Es war die Zeit, Ignoranz und falscher Stolz von nur wenigen die die DDR mit ihrer fehlgelenkten Politik zerstört haben. Ich liebte dieses Land, das nun bald Geschichte sein wird. Mielke hat die Grenzen als offen erklärt, de Maiziere wird die DDR auch nicht mehr retten können. Nun beginnt wieder eine neue Zeit, ein Leben das für die einen Überfluss bedeutet und für die anderen Armut. Die Aasgeier des Kapitalismus haben ihre scharfen Augen bereits hierher gerichtet. Die Menschen werden sich ändern, die Stadt wird lauter werden, Sicherheit wird nur noch auf dem Papier gewährleistet sein, wir, unsere Familie wird sich wieder ändern müssen. Eine Heimat, drei Länder, aber mein zu Hause. Also habe ich auch diesmal keine Wahl, ich werde mich melden, werde meine Erfahrung anbieten und hoffen das ich weiterhin als Polizist in dieser Stadt und für die Menschen arbeiten kann. Wieder ist dies eine Entscheidung die ich treffen muss, denn ich will nicht zu den Menschen gehören, denen ihre Fehler oder falschen Entscheidungen egal sind.>
27 Jahre später; „Du vermisst ihn, ich weiß, doch ihr hattet eine schöne Zeit. Sie mal, er würde sich freuen dich heute vor seinem Spiegel stehen zu sehen.“ Meine Frau findet immer die richtigen Worte. Mein Großvater wusste das sehr zu schätzen. Leise antworte ich. „Ich vermisse Beide, aber Großvater ganz besonders.“ Viele Jahre verbrachten wir noch gemeinsam, trafen uns regelmäßig, riefen uns gegenseitig an nur um zu fragen ob alles gut läuft. Heute ist sein sechster Todestag, und ich stehe vor dem Spiegel vor dem mein Großvater so oft stand und sich selbst oft fragte, welche Entscheidung denn nun die richtige sein wird. Mein Vater schenkte ihn mir nach dem Großvater gestorben war. Dieser Spiegel könnte Geschichten erzählen.....Doch mein Großvater erzählte mir viel aus seinem Leben, nicht selten weinte er dabei. Meistens liefen ihm die Tränen wenn wir über Großmutter oder über dem Krieg, seine verstorbenen Freunde sprachen. Ich hörte immer gespannt zu. Und wenn meine Frau und ich vor dem Spiegel stehen, habe ich Gefühl meine Großeltern wären immer noch hier. „Papa, können wir dann los? Mama wartet schon im Auto, sie sagt du sollst dich beeilen.“ Meine Kinder haben nie Zeit, das war früher anders. Heute werde ich eine kleine Rede an den Gräbern halten. Letztes Jahr war es mein Bruder, davor das Jahr mein Vater. Die Rede endet mit „Ich vermisse euch!“