Das Haus überlebte zwei Weltkriege. Von außen stechen die Wände des Gebäudes durch ihre morbide Fassade hervor, insbesondere durch das Efeu, welches sich tot an den Mauern festkrallt, um mit allen Mitteln den Sturz in die Tiefe zu vermeiden. Man könnte meinen, es sei bewusst verwahrlost worden, damit die vorbeigehenden Passanten stehen bleiben. Oft sehen sich die kleinen Gruppen Flanierender minutenlang das Haus an, manche machen sogar Fotos, bevor sie schließlich weitergehen. Das Haus scheint sie zu faszinieren, dabei ist das Schöne nicht offensichtlich, vielleicht ist es sogar vergangen, aber die Präsenz des alten Gemäuers hinterlässt noch immer eine nachdenkliche Ruhe, die sich seicht in den Gemütern der Passanten niederlegt, die in Wirklichkeit seit zehn Minuten bereits auf der Arbeit hätten sein müssen. Hier wohne ich.
Mein Zimmer besteht ausschließlich aus goldbraunen antiken Möbeln. Auf dem braunen Holzdielenboden aus einem vergangenen Jahrhundert stehen ein Doppelbett, ein alter Sekretärschrank, der als Schreibtisch dient, eine pragmatische Kommode und ein Regal, gefüllt mit zahlreichen Büchern. Dort stehen Haruki Murakami, Kafka, Nietzsche, Charles Bukowski und viele weiteren Autoren beisammen. Sie gehören zur klassischen Weltliteratur. Sie geben jedem Gast das Gefühl, hier wohnt ein belesener junger Mann, der sich weniger für die Oberflächlichkeit in der Trivialliteratur interessiert, sondern mehr für das große Erkenntnispotential der Bücher, die andere oft als „schwere Kost“ bezeichnen.
An den Wänden hängen Fotos von Erlebnissen aus allen vier Jahreszeiten, auch die Gesichter meiner Freunde und Bekannten sind dort zu finden. Sie sagen zwar nichts, aber sie grinsen dem Gast freundlich ins Gesicht, als würden sie ihn direkt für sympathisch halten, weil dieser ebenfalls als Teil meines Lebens erscheint. Auf dem Bild meines leiblichen Vaters liegt dagegen Staub. Seitdem er gestorben ist, bleibt der Rahmen unberührt. Neben der Kommode steht eine Gitarre, die abgenutzt wirkt, als hätte man jahrelang auf ihr gespielt, deshalb fragen die Gäste auch stets, ob ich ihnen nicht etwas vorspielen möchte. Auch ein Skateboard mit verschmutztem Deck befindet sich im kleinen Museum. Darunter fast klischeehaft für einen skatenden Studenten Krümmel des letzten Joints. Ja, im Sommer mit seinen Freunden durch die Viertel zu rollen, dabei Frauen strahlend träumen zu lassen und Typen neidisch zu machen, klingt nach Unbeschwertheit und Spaß. Außerdem habe ich ein Faible für Bahnhöfe und zeichne gerne zur Entspannung Mandalas, die ich dann in Briefumschlägen in der ganzen Stadt verteile, um den Menschen eine Freude zu machen.
Hey, ich muss euch aber etwas flüsternd gestehen, ich habe etwas zu beichten, ich habe ein großes Problem. Ich lese zwar gerne, aber viele der Bücher, die in meinem Regal stehen, wurden nie gelesen, die Seiten sind angeblich unberührt.
Im Grunde will ich dieses ganze Zeug auch gar nicht, aber wenn ich heimlich etwas wegwerfe, z.B. die Gitarre, taucht sie im nächsten Moment im vorletzten Absatz wieder auf. Mir gelingt es nicht, meinen Willen durchzusetzen. Ich fühle mich hilflos ausgesetzt, wie ein Stück Fleisch, welches den Haien zum Fraß geworfen wird. Eigentlich hätte ich viel lieber Rollschuhe, ich kann nicht einmal nicht skaten. Schon längst wollte ich den Namen des Puppenspielers mitteilen, aber ich kann es nicht. Ich fühle mich wie eine Marionette, die in seinen Händen nur die Bewegungen zustande bringt, die ihm gefallen, aber niemals die ihm missfallen. Ich möchte frei sein, losgelöst von den Ketten, die man mir bei meiner Geburt angelegt hat, die mich in Wirklichkeit schützen.
Mein Herz pocht zwischen diesen Zeilen. Wenn man genau hinsieht, vielleicht mit einem Mikroskop, kann man mich erkennen. Ich atme während der Leerzeichen ein und atme nach jedem Punkt wieder aus. Wenn ich um „Hilfe!“ schreie, sieht man zwar das Ausrufezeichen, aber man hört keinen Laut, als wäre meine Realität ein Vakuum, ohne ein Raum für das Hallen des Schalls. Ich entstehe in der Feder eines Füllers. Jede Eigenschaft, die ich besitze, wird mir mit der Geburt zugewiesen, obwohl ich doch viel lieber Filme schaue, als zu lesen, viel lieber Rollschuh fahre, als zu skaten, viel lieber alleine bin, als mich mit Freunden zu umgeben und Fotos zu machen oder Mandalas in der Stadt zu verteilen. Ich will das alles nicht, ich will nur frei sein! Trotzdem bleibe ich ein elaboriertes Konstrukt. Oh Vater, du Künstler, ich liebe dich! Das habe ich nicht gesagt, und auch nicht gedacht! Ihr müsst mir glauben! Ich bin der Protagonist eines Textes mit vielseitigen Charakterzügen, realisiert durch diesen Mann, diesem Ich-Erzähler, aber ich liebe ihn! Die erste Person Singular als Mittel zum Zweck, zur Funktion, dass jeder glaubt, es handele sich wirklich um mich, wirklich um einen Skater, der Gitarre spielt und belesen ist, der Frauen bezirzt und Männer neidisch macht, aber eigentlich bin ich nur das Produkt eines Gedankens, ein Gefangener eines Mitteilungsbedürfnisses, welches niemanden tangiert, er aber dennoch durch ein Fremdwort ausdrückt, um nochmals zu unterstreichen, dass das Ich in diesem Text ich bin. Mir platzt mein Kopf. Er liegt in seinem Bett und kreiert diesen Text. Er lässt mich ihn sogar hassen, mich gegen ihn auflehnen, nur um dem Leser meine Willensstärke zu demonstrieren. Was sage ich da? Goethe würde jetzt sagen: “Ich bin verwirrt und blind vor der Liebe zu meinem Vater.”