Gedanken zu Sucht und Vitalität

Essay zum Thema Leben

von  Hamlet

Gedanken zu Sucht und Vitalität (31.12.2017)

Abermals mein Thema, um dass sich in mir alles kreist: Vitalität. Wenn Aristoteles und ähnlich die Buddhisten sagen, dass alle nach Glück (sei es eudaimonia oder hedone) streben, so scheint mir ein gemeinsamer Nenner aller Glücksbegriffe in der Vitalität zu liegen. Jedenfalls erfahre ich die Sehnsucht nach größtmöglicher Vitalität gerade dann in mir, wenn sie ausbleibt. Ähnliche Bestrebungen erahne ich ebenfalls, ob es ihnen bewusst oder unbewusst ist, in allen Menschen.

Ein wesentlicher Grund für alle Süchte liegt in der Sehnsucht nach erhöhter Vitalität, sei es durch Alkohol, Drogen, Masturbation, Sex, Sport, Abenteuer oder sonstige Mutproben. Davon können manche Süchte zu hohem Ruhm führen. Andere dagegen zerstören von vornherein, weil sie nur verbrennen, ohne aufzubauen. In allen Süchten wird die Vitalität kurzzeitig gesteigert: Wer ein gutdiszipliniertes Leben führt, sich also regelmäßig bildet, Sport treibt, in seiner Arbeit Erfolg hat, gesund isst und gut schläft, der wird in geselliger Runde bei einigen guten Gläsern alles zum Besten geben können, weil der Alkohol wie ein leichtes Feuer alles wärmt und in Bewegung setzt, sodass er eine Begeisterung auslöst, aus welcher alles leichter fließt, sich spontaner und schlagfertiger äußert. Insofern ist der Alkohol auch gesellschaftlich anerkannt und wirkt wie ein Balsam gegen soziale Ängste, als ob sensible, angeschlagene, scharfe Kanten im Gehirn mit einer angenehmen Schutzschicht abgerundet und eingerieben würden.

Freilich  kann der Süchtige kein Maß halten, sodass der Umschwung von leicht angeheitert zu besoffen bis hin zur Unzurechnungsfähigkeit eine auf Dauer selbstzerstörerische Folge ist. Es ist der automatische Sog nach mehr und mehr Vitalität, insbesondere wenn die natürliche Müdigkeit sich bemerkbar macht und droht, einem den Abend zu verderben. Für den Rauschtrinker ist es sehr schwierig, den Übergang zu gewahren, an dem sein Zustand unattraktiv wird, und wenn er ihn gewahrt, ignoriert er ihn, weil ihm das Aufhören mit dem Trinken in solchem Moment wie ein Sterben-Müssen vorkommt. Wenn der Rauschtrinker dann am nächsten Tag kaputt ist und herum stöhnend nichts mit sich anfangen kann, wie ein Kranker, vermisst er die Vitalität, mit der er Lust erfahren könnte, sei es etwa darin, ein Buch zu lesen, dass die Erkenntnis vermehrt und begeistert. Es ist hier die Lust nach Lust, die umso stärker wird, desto ausgebrannter man sich fühlt.

Wer mit seiner Vitalität im Minus ist, macht es noch schlimmer, wenn er masturbiert und bei mehrmaliger Betätigung sogar noch als „Flachwichser“ letzte Lustreserven aus seinem Hirn wringt, sodass sich das Vitalitätslevel wie eine letzte Welle, die aus einem Becken schwappt, erhöht, wonach aber der Wasserstand um eben diese Welle niedriger ist und man mit seiner Vitalität noch weiter im Minus ist. Das ist ein Teufelskreislauf, den zu durchbrechen man Vitalität braucht, die man nicht hat. Denn man kann sich nur in einen anderen, heilsamen Zustand bringen, wenn ich etwa die Kraft habe, noch einem guten Buch oder wenigstens einem Film zu folgen. Und selbst die letzte Rettung, der Schlaf, ist für manchen Süchtigen keine Selbstverständlichkeit. Man kann sich todmüde dennoch schlaflos im Bett herumwälzen.

Diese beiden Süchte (Alkohol und Masturbation) scheinen mir die niedrigsten zu sein, weil sie ohne Mut und Können und ohne die Verbindung mit anderen Menschen vollzogen werden und ohne Ausgleich mit Sicherheit in den Untergang führen. Die Sex-Sucht ist daher schon ansehnlicher, weil sie nicht ohne den Mut, die Kraft und das Können auskommt, Frauen zu erobern. Außerdem bekommen solche Menschen ein Selbstwertgefühl vom anderen Geschlecht gespiegelt, sei es auch nur für die Potenz und die damit einhergehende Kraft, zu befriedigen. Wenigsten dürfen Sex-Süchtige keine Flachwichser sein – ein Bild für die erbärmlichste Armut.

Wenn nun aber jeder Mensch in irgendeinem Sinne seine Vitalität optimieren will, fällt der Alkoholiker scheinbar raus, weil er langfristig nur Verluste macht. Dennoch streben sie kurzfristig nach einer Bestform innerhalb ihres langfristigen Leidens. Wenn jemand beispielsweise dauerhaft depressiv ist, ohne jedoch zu trinken, fühlt sich sein Leben an wie ein Fluch, sagen wir, es ist im Sinne von leb- und lieblos grau. Wenn er aber trinkt entsteht ein anderes Bild: Die durch den Alkohol vorgeschossene Vitalität zeigt sich in farbigen Inseln, welche sich auf schwarzem Hintergrund bilden. Den meisten Süchtigen ist das zweite Gemälde lieber. Denn als Vitalisten macht ihnen der Unterschied zwischen grau und schwarz zur wenig aus. Sie zählen nur die farbigen Inseln, sodass z. B. der depressive Alkoholiker keinen echten Grund finden kann, mit dem Trinken aufzuhören.

Zur These des universellen Vitalismus‘ behaupte ich auch, dass alle traditionellen Kulturen die Optimierung ihrer Vitalität zum Ziel haben. Zuerst gehört natürlich die Identität durch Abgrenzung dazu. Jede gesunde Kultur will stolz auf sich sein. Große Kulturen haben sich sogar immer als Zentrum der Welt angesehen, indem sie die Stärken anderer Völker verkleinert oder ausgeklammert und die eigenen vergrößert haben, oder indem sie offensichtliche Stärken als Schwächen umgedeutet haben (etwa im Sinne von Nietzsches Genealogie der Moral). Auch in Familien, Banden und Peergroups gibt es Regeln, Rituale und Symbole, aus welchem nicht zuletzt durch das positive Identitätsgefühl Vitalität bezogen wird.

Da es in alten Traditionen noch das Weisheitsideal sowie das Mutterideal gegeben hat, ist das Alter nicht nur unattraktiv, wie es in der modernen Gesellschaft der Fall ist, wo der Jugendwahn in jeder Werbung Ausdruck findet. Mir fallen wenigstens zwei Traditionen ein, in denen der Respekt vor dem Alter nicht bloß institutionell vermittelt wird, sondern sich in einer besonderen Vitalität der Hierarchiespitzen zeigt: bei den japanischen Samurais und im tibetischen Lamaismus. Eigentlich kann man sagen, dass nur die Meisterschaft das Alter attraktiv machen kann, sodass auch kraftstrotzende Jugendliche mit Ehrfurcht nach oben sehen. In solchen Traditionen entwickelt der Meister zuweilen einen Heiligenschein. Den wahren Meister kennzeichnet, dass ihn seine konzentrierte, jahrelange, ernsthafte Tätigkeit leibhaftig eingeprägt worden ist. Auf jeden Fall gibt es eine Zunahme einer geistigen Vitalität, wohin nur die lange Praxis, keine Theorie, führt. In der modernen Kultur verlieren die Hochbegabten dagegen oftmals an Charisma. Die berühmten Schauspieler Helmut Berger und Alain Delon sind ein Beispiel für unwiderstehlichen Charme, der im Alter verschwunden ist. Für die Zunahme an Charme und geistiger Ausstrahlung verweise ich auf einige buddhistische Meister, etwa Thich Nath Hanh, Kalu Rinpoche, Dilgo Kyentse. Wenngleich das Ausnahmen sind, beweisen sie die Möglichkeit einer Vitalitätszunahme, wie sie in manchen traditionellen Lebensformen realisiert worden sind. [Leider konnten die Folgenden vier Fotos nicht koiert werden:]

Dilgo Kyentse  noch jung Dilgo Kyentse  im Alter

Helmut Berger jung Helmut Berger älter

Im Atheismus bleibt kaum weniger als ein Hedonismus übrig, der das Leben wertvoll macht, während in spirituellen Traditionen gemäß dem metaphysischen Horizont neue Wahrnehmungen verwirklicht werden, welche sich auch körperlich ausstrahlen. Insofern macht auch die Vernunft frei, als dass sie uns auf einen Gott oder auf andere Mythen führt, mit denen eine Gesellschaft so lebt, als wären sie wirklich.

Weise sein kann nur, wer alle psycho-physischen Zustände wenigstens in Ansätzen erlebt hat, die guten davon kultiviert und die schlechten verwirft. Das ist mein Weg.

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Kommentare zu diesem Text


 LotharAtzert (27.02.18)
Auch wenn ich nicht mit dir bezüglich des Begriffes Vitalität konform gehe (und in Ermangelung daran eine Begründung weglasse) hab ichs gerne gelesen, vor allem als der Name Kalu Rinpoche auftauchte, der mir und tausend anderen in Paris, schon sehr betagt, eine unvergessliche Kalachakra-Einweihung verpasste. Das war allerdings noch seine letzte Inkarnation. Inzwischen ist er ja wieder als junger Kagyu-Lama wiedergeboren.

Gruß
Lothar.
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