Gedanken über die Intimität (Fr, 31.05.2024)

Essay

von  Hamlet

Vom Weiten leuchtet vieles so schön, dass ich mir wünsche, ganz nahe zu treten. Doch trete ich näher, entzaubert sich der Gegenstand, während ein anderer an Leuchtkraft gewinnt. Der Rasen ist vorne viel grüner, bis wir fast dort sind und meinen, dass er hinten doch etwas grüner war. Und ein Fest vom Weiten klingt wie eine rauschhafte Einheit, eine Energie, mit der ich tanzen will. Auch hier löst sich vieles auf, sobald ich näher trete. Oft genug sitzen die meisten wartend, gelangweilt herum oder bemühen sich im Smalltalk, der eigentlich gar nicht interessiert. Oder nicht fähig zum Fest auf einem Fest wird sich in Prozessen verloren – aufbauen, abwaschen, die Toilette aufsuchen, jemanden anrufen, im Handy herumtippen. Gleichwohl gibt es gute Partys, wo mich die berauschte Sexyness und manche Schönheiten anzutanzen scheinen, wo sich der Einzelne zeitweise im Überschuss vergrößert und in seine Bestform verschönert. Zuweilen habe ich einige Stunden dazugehört, wenn ich entsprechend gesund, ausgeschlafen und berauscht gewesen bin.

Der Mensch vom Typus des Zaungastes, wie ich einer bin, ersehnt sich die Intimität umso mehr, da er zeitlebens nur vom Weiten gesehen und nirgendwo Heimat gefunden hat, außer bis ins Teenager-Alter ein wenig bei seiner großen Schwester. Da er sonst keine Heimat hat, sieht und beneidet er vielerlei Heimat, wenngleich er unfähig scheint, sich in irgendeiner zu beheimaten. Das hieße auch, aller anderen Heimats-Träume zu entsagen und eine eigene zu verabsolutieren. Mit dem frühen Verlust meiner mindestens leicht verrückten Mutter (woran ich keinerlei Erinnerung habe) verlor ich meine erste, stürmische Heimat. Seitdem habe ich keine stiefmütterliche annehmen können, außer notdürftig, in Distanz, als Fremdling, unterkühlt, abwesend.

Dennoch hofft solcher Zaungast dort einst die Heimat zu finden, wohin die begeisterte Schönheit ihn lockt. Hier will er intim werden, Nähe, Liebe finden, sagt er sich, ohne zu wissen, ob es denn wahr sei. Ob er eine schöne Frau lieben könnte, wodurch ihm Heimat wäre, weiß er nicht, weil er noch keine wirklich umarmen konnte. So liebt er auch (sexistische) Hollywoodfilme à la Hitchcock (z. B. Psycho, Rebecca, Vertigo oder das Fenster zum Hof), wo der Zuschauer der schönen Frau so nahe wie sonst nur im Traum kommt – gewiss näher als durch einen Porno, wo sich die Intimität auf die physische Reibung beschränkt, während Hitchcock, auch durch Angst, weit in die seelische dringt. Das ist die Gabe der großen Hollywood-Schönheiten, dass sie ihre Intimität mit der Welt teilen. Täten sie es nicht, geizten sie mit sich selber. Der Verdienst eines Menschen zeigt sich darin, dass er der Mitwelt von seinem höchsten Gut gibt. Während das Mathe-Genie die Lichtgeschwindigkeit errechnet und Beethoven die Neunte komponiert hat, gibt sich die erotische Schönheit der Kamera hin, durch welche die Welt gucken darf. Was sollte Hollywood Wertvolleres zeigen als die Vortrefflichkeit: den Mut, die Grenzsituationen, die Schönheit?

Wer will dagegen politisch korrekte deutsche Romanzen mit Durchschnittsmännern und -frauen sehen, naturalistisch, wo die Intimität obszön wird, Ekel oder Mitleid erregt?! Und weil mir die große, warme, begeisterte Schönheit unerreichbar war, habe ich einen Pathos der Distanz gepflegt. So war ich immer ein Zaungast, der sich die duftenden Blumengärten von oben ersehnte, ohne je gelernt zu haben, oder auch nur fähig gewesen zu sein, sich so einen Garten mit Arbeit, Geduld und Liebe zu bestellen. Ja, wenn die Liebe fehlt, folgt weder die Arbeit noch die Geduld. Die Liebe müsste als Vorschuss gegeben worden sein, damit gerne und geduldig dafür gearbeitet würde. Um bei der Metapher zu bleiben, bräuchte ich schon einen Blumengarten, um einen Blumengarten zu bestellen. Und um die Wahrheit aus einem Vorurteil zu pressen, leistet die attraktive, südländische Mutter einen kräftigeren Liebes-Vorschuss als die unterkühlte nordische Mutter oder die gar wenig attraktive Pflegemutter.

Die unterdrückte Sehnsucht nach Intimität bricht im alkoholischen Rausch heraus: anfangs wärmend, anziehend, viel versprechend; bald schon unkontrolliert, wo sie alles erobern will und misstrauisch macht; wenn weiter getrunken wird, entsteht eine ungezähmte Flamme, die schon bald gemieden, geflohen oder draußen gelöscht werden soll. Wer leben will, sucht Intimität, die sich in der Liebe am stärksten zeigt. Wer aber noch keinen konkreten Menschen mit allen seinen Schattenseiten liebt, der liebt nur das Schöne, weil es das sinnliche Symbol des Guten ist und weil es schon vor jeder Reflexion öffnet und den Sinnen gefällt. Zweifellos motiviert mich in der Welt nichts stärker als das Schöne. Wer aber auf das Schöne fixiert ist, tendiert zur Untreue, weil sich die Formen ständig verändern. Und der Untreue ist und macht unglücklich.

Wille, Leben, Liebe, Intimität gehören eng zusammen und tragen ihre Kehrseite in sich, wodurch das intensive Leben i. d. R. tragisch ist. Besonders das Schöne ist tragisch, weil es ein seltenes Gut ist, das alle begehren; weil es zugleich öffnet und Herzen bricht; weil es von den mächtigsten Eroberern wie von Löwen gejagt wird, die sich nicht selten selber zerfetzen. Die schöne Frau leidet, weil sie zunächst auf ihre Form reduziert wird und weiß, dass sie sowohl die Projektionen der gierigen als auch der romantischen Männer enttäuschen muss. Sie leidet, weil sie weiß, dass sie schnell altert und nicht wissen kann, wie sie altert und ob sie zu den seltenen Damen gehört, die noch mit sechzig eine Erscheinung sind. Sie leidet, weil nur die mutigsten, gut situierten, oft selber gutaussehenden, charismatischen Playboys an sie herantreten, die ihr einigen Schutz vor den anderen Jägern bieten, aber langfristig untreu sind wie ein Leonardo DiCaprio, der keinen Hehl daraus macht, seine Models nur im besten Alter zu halten. Das Schöne ist also meistens tragisch, weil es aus der höchsten Höhe fällt: „Da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle,/ dass das Schöne vergeht, dass das Vollkommene stirbt.“ (Schillers „Nänie“)

Dagegen hat die graue Masse keine Fallhöhe, wenngleich sie in Nahaufnahme durchaus mitleiderregend ist. Doch das Mitgefühl, welches uns hinunter sehen und helfen lässt, ist eine ganz andere Liebe als der Eros, der auf unsere höchste Sehnsucht zielt. Während das Mitgefühl im besten Fall moralisch ist, wirkt der Eros ästhetisch. Und während die Moral eine Notlösung zum Überleben ist, wirkt der Eros jenseits von Gut und Böse und zeigt, was jeder wirklich will. Moral ist Kultur, Eros Natur. Und am stärksten diskriminiert uns immer die Natur, insofern sie wie ein Gott über uns bestimmt, unser Schicksal ist. Ich komme zum vorläufigen Schluss, dass unser Wunsch zur Intimität auf das Schöne zielt, insofern wir Erotiker sind.

Julius Evola würde mir mit seinem Hauptwerk „Metaphysik des Sexus“ (1958) widersprechen, insofern er aus Platons „Symposion“ nur Aristophanes’ Deutung des Kugelmenschen gelten lässt, wonach der Eros nicht primär nach dem Schönen, sondern nach seiner zweiten Hälfte trachte. Auch das macht großen Sinn und wird von der Alltagserfahrung bestätigt, insofern natürlich nicht jeder Schönling die schon bestehenden Beziehungen entzweit, falls er es nur wollte. Und das ist nicht nur der Moral geschuldet, sondern der wahren Zuneigung. Aristophanes’ Deutung vom Kugelmenschen hat den Vorteil, dass Treue grundsätzlich möglich ist, wenn nur die zweite Hälfte gefunden wird, weil es dann egal ist, ob andere Partner noch schöner sind. Beide Deutungen lassen sich aber vereinen, dass nämlich der Eros sowohl auf das Schöne als auch auf die zweite Hälfte ziele: Während wir primär unsere zweite Hälfte suchen, um die verlorene Ganzheit wieder zu erlangen; suchen wir die Intimität mit dem Schönen, solange wir unsere zweite Hälfte nicht gefunden haben –. Da aber die Milliarden von Menschen nur in seltenen Fällen ihre zweite Hälfte finden, ist Sokrates’ Erfahrung noch evidenter, dass nämlich der Eros auf das Schöne ziele.

Obwohl uns außerdem unsere zweite Hälfte hinaufpotenzieren könnte, scheint es, dass nicht jeder seine zweite Hälfte will. Nur wer sich selber annimmt, wird durch seine Entsprechung bereichert und kann auch die andere Hälfte bereichern. Wer sich nicht annimmt, weil er sich nicht schön genug findet oder unter anderen Minderwertigkeitskomplexen leidet, liebt auch seine andere Hälfte nicht, sondern nur das Schönere. Dieses fällt ihm allerdings nicht zu. Und wenn es ihm zufiele, könnte er es kaum ertragen, weil er das Schönere nicht mit sich selber beflecken wollte. Jedenfalls will keiner aus Mitleid, sondern aus Eros geliebt werden. Wenn wir uns also gut fühlen, wollen wir mindestens mit unseresgleichen oder aber mit Besserem intim werden – natürlich nur falls wir für das Bessere auf irgendeine Art auch etwas Besseres sind, so wie manche Gegensätze, die sich anziehen.

Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen schützen vor Übergriffen in unsere Intimsphäre, natürlich auch den seelischen, insofern ein ganz unbewusstes Taktgefühl erworben worden ist. Dieses Taktgefühl ist den meisten selbstverständlich und wird wohl die letzte Herausforderung eines zukünftigen Roboters sein, um ihn noch vom Menschen unterscheiden zu können. Ich starre niemanden länger in die Augen, drücke nicht zu lange die Hand, betone den Namen des anderen nicht besonders ungewöhnlich. Der soziale Common Sense findet sich ganz ohne Metakommunikation beim durchschnittlichen Menschen von selber, während die nach innen oder nach außen gewendeten Extreme wie der Autismus oder der Narzissmus sowie extreme Unter- oder Überbegabung davon abweichen.

Freilich wird beim Flirten der Rahmen mit Absicht gebrochen, wobei es peinlich wird, falls die Signale nicht erwidert oder brüsk abgewiesen werden. Ebenfalls ist es der abweisenden Person i. d. R. unangenehm, diese heimliche Überschreitung der Intimitätsgrenzen zurückzuweisen, besonders wenn sie nicht in Form ist, sodass auch sie den Takt verliert. Denn für den feinsten Takt bedarf es nicht nur der Gesundheit, sondern einer gewissen Geisteshöhe und seelischen Feinheit. Das Flirten ist die Kunst, mit dem Taktgefühl zu spielen, das darauf zielt, die Intimsphäre der begehrte Person zu öffnen. Verträumte Blicke, ein charmantes Lächeln und die ganze Gestik und Mimik müssen einen attraktiven Zustand symbolisieren und vor allem echt sein, damit seelische Intimitäten ausgetauscht werden, die zur näheren Bekanntschaft führen können.

Besonders die Kinder sind Opfer einer seelischen Intimitäts-Beraubung, insofern sie jeder Penner anstarren kann, ohne dass sie sich wehren können, da sie noch keine bürgerliche Maske erworben haben. Gleichwohl fühlen sie die Qualität der Schwingungen, ob sie wohlwollend oder unverschämt, beschützend oder vampiristisch sind – wie eine klassische Musik, die düster oder heiter klingt. Wer vielen unattraktiven Maskenträgern begegnet oder attraktiven Menschen, die aber aufs Handy starren und sich die Ohren verstöpseln, hat wenige Möglichkeiten, sein Leben durch Intimität zu bereichern, sodass er sich über schöne Kinder freut, die noch nichts so richtig verstecken können. Freilich kann er sie auch bereichern, da die Kinder die Welt erforschen wollen. Eine wohlwollende, bejahende Geste ist auch ihnen zuweilen eine Wohltat, insofern viele selber sehr einsam sind, da sich auch ihre Eltern hinter Masken verstecken. Genauso entzücken die Teenager-Mädchen, die kichern und leicht erröten, sich durch die Haare spielen und ihre Augen auch immer seitlich und hinter dem Kopf haben. Der Wunsch nach Intimität bewegt wohl auch viele, sich einen süßen Hund zu kaufen, dem man ständig in die Seele sehen kann, der vor allem aber gezwungen wird, des Herrchens Seele nachzufühlen, ja sie sogar zu werden.

Nicht zu vergessen ist die Intimität, welche wir den großen Schriftstellern verdanken. So nahe wie einer Romanfigur kommt man einer Filmfigur selten. Die Ich-Erzählung etwa von Goethes „Werther“ erfüllt uns mit seiner zunächst übervollen und dann suizidalen Seele, sie umarmt den Leser, wo er Ähnliches erlitten hat. Ebenso befreunden wir uns mit dem Autor eines auktorialen Erzählers, der mit uns seine intimsten Weisheiten teilt. Vielleicht liegt sogar der größte Schatz der Weltliteratur in der unübertrefflichen Qualität der Intimität, die in der Lyrik einen Höhepunkt gefunden hat.

Zu meinem Wunsch nach Intimität schließe ich ab: Ich habe nicht richtig gelebt, nicht gewollt, nicht geliebt, obwohl ich das alles sehr stark gewünscht habe. Ich habe also das Wollen gewollt oder gewünscht zu wollen, weil Glück in der Erfüllung des Willens besteht – auch wenn der letzte Wille (wie bei Buddha und Schopenhauer) ein Nicht-mehr-Wollen sein mag. Wie gerne wäre ich ein Mann gewesen, der eine schöne Frau beglücken kann, ganz nach Nietzsches Weisheit: „Das Glück des Mannes heißt: Ich will. Das Glück des Weibes heißt: Er will.“ (Zarathustra) Im Leben zu sein und nicht richtig leben zu können, ist ein großer Fluch. Ein Zaungast zu sein hat zwar auch seine Vorteile, doch leuchten sie erst auf, wenn man aus dem intensiven Leben mit gefährlichen und krankhaft gewordenen Beziehungen wieder auf eine Ruheinsel fliehen mag. Die Ruhe wird erst geschätzt nach dem Sturm und der Sturm nach zu langer Ruhe, veranschaulicht eine Binsenweisheit. Fast niemand erträgt etwas lange ohne Abwechslung, wovon die Moden nur ein kleines Zeugnis sind. Alle Symbole des schönen, unbeschwerten Lebens führen mir meine Minderwertigkeit vor Augen, solange die Dolce Vita einer der höchsten Werte bleibt und ich sie nicht ausleben kann. Doch wenn schon leben, dann Dolce Vita leben, in welcher zugleich ein sinnvolles Werk angestrebt werden sollte. Niemand wünscht sich sinnlose Lust und niemand wünscht sich lustlosen Sinn. Im Glück sind Lust und Sinn immer vereint.

Die größte natürliche Diskriminierung zeigt sich in Gesundheit, Aussehen, Kraft, Intelligenz und Talenten. Auf der ästhetischen Ebene sind das die Bewertungskriterien für einen Menschen, freilich darauf bezogen, was er daraus macht. Und alles ist verloren, falls man im Leben leben will und alles im Ansatz vorhanden ist, doch eines schwächelt – nämlich die Gesundheit. Gewiss haben sich Friedrich Schiller und Franz Kafka aus der Dolce Vita weniger gemacht, sodass sie in ihrer Krankheit einer heroischen Bestimmung gefolgt sind, nämlich ihrem außerordentlichen Schriftstellertum. Die wenigsten Großen haben beides, so wie Goethe: Hohes Leben und Ruhm als Geistesgröße. Der ganzheitliche Eroberer, scheint mir heute, ist ein vortrefflicher Mann.

Von diesem Größenwahn abgesehen, fasse ich meinen Wunsch nach Intimität zusammen: Ohne Kommunikation gibt es keine Intimität. Bezieht sich die Intimität auf das Schöne oder auf die zweite Hälfte, wird sie zur Liebe im Sinne des Eros’. Wer schon erotisch befriedet ist, scheint mir, kann auch die Liebe nach unten (das Mitleid [Agape]) leben. Ohne die erwiderte Liebe von oben, bleibt meine Liebe nach unten ein unfruchtbarer Versuch. Denn nur der von oben Widergeliebte kann den Anfang der Liebe eines Leidenden machen.



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