Glück, eine vorläufige Definition

Essay

von  Hamlet

In der Wiederholung des Immer-Gleichen stellt sich mir die Frage nach dem Sinn, sobald auch keine Sinnenlust mehr von der Tätigkeit ausgeht und die Spuren der Vergänglichkeit zunehmen. Wenn ich beispielsweise müde oder gar an der Schwelle zur Erkältung noch meine Hantel schwinge, weil ich mir geschworen habe, mich möglichst in Stand zu halten – wenn ich also mühevoll meine Pflicht tue, ohne Lust, geschweige denn ohne einen Sinn darin zu sehen als den, dass ich mich instand halte oder bald den Abbau nur noch verlangsame, dann drängt sich mir die uralte Frage nach dem Glück auf und was es zurzeit für mich sei. Glück ist für mich sinn- und lustvolle Arbeit, welche sowohl durch rauschhafte als auch erholsame Pausen unterbrochen wird.  

 

Die Hauptsache muss der Sinn sein. Beim Sinn geht es um die letztendliche Bedeutung des eigenen Daseins, um Vollendung oder Erlösung. Freilich wird Sinn i. d. R. schon während der eigenen Lebensspanne bemessen. Es ist Sinn genug, dass mir das Bestmögliche gelungen ist im Sinne meiner Entwicklung, durch welche ich meinen Mitmenschen wertvoll geworden bin; im guten Fall ist das eine Berufung, wie etwa Arzt, Lehrer, Wissenschaftler oder ein Künstler zu werden; im besten Fall geht die eigene Entwicklung über die kulturelle Verwaltung hinaus, indem sie selbst kulturschaffend ist; ja im besten Fall geht sie mit Genialität einher, wodurch man in seiner jeweiligen Domäne niemals austauschbar ist. Sinn scheint mir gegeben, wenn ich zu einem guten, schönen Ganzen einen möglichst nicht-austauschbaren Beitrag leiste, wodurch ich mich gleichsam von diesem Schönen und Guten umfangen fühle. 

 

Sobald eine gewisse Genialität im Spiel ist, hat die Lust einen großen Anteil an der sinnvollen Arbeit. Auch wer die Kultur nur verwaltet, etwa als Lehrer oder mittelmäßiger Professor, kann eine Erkenntnislust genießen, indem er sich am Nachvollzug der Großen in der Geschichte erfreuen und einen hohen weiten Fensterblick auf die Welt genießen kann. Wer aber die Kultur schlecht verwaltet, trägt zur Dekadenz bei. Schlecht gebildete Lehrer oder Ärzte ohne Arbeits-Ethos gehören dazu. Die Qualität der Kultur nimmt ab, man arbeitet nicht gerne, ist nicht begeistert, ist eine Notlösung, bevor der gänzliche Tod irgendeiner Institution eintritt. Hier kann man sehen, dass die Lust an der Arbeit eng verbunden mit dem Glauben an eine sinnvolle Berufung verknüpft ist. Zwar gibt es keine Lust an der Arbeit, wenn ich keinen Sinn in der Arbeit sehe, was der Fall ist, wenn ich gewahre, dass ich die hohe Kultur meiner Institution, die ich vertrete, nicht halten kann, nicht mehr vermitteln kann, weil ich zu schwach, inkompetent oder einfach nur nicht mehr begeistert bin. Umgekehrt gibt es Lust ohne tieferen Sinn fernab der Arbeit wie etwa im Hedonismus, der in seinen dekadenten Formen auch die Drogensucht beinhaltet. Diese Lust muss immer schwächer werden, bis sie in suizidaler Depression endet, nicht nur weil die Vitalität eingebüßt wird, sondern auch weil der Sinnhorizont fehlt, gleichsam als Omega-Punkt von dem ich meine Lustspeicher auch wieder mit Dopamin, Serotonin und Oxytocin fülle. 

 

In meiner Glücksdefinition stecken neben der sinn- und lustvollen Arbeit die Elemente des Rausches und der Erholung. Wahrscheinlich brauche ich auch den Rausch, weil ich kein Genius bin, der von einer sinnvollen Arbeit besessen ist, wobei er ihr immer Vorrang gäbe und schaffend im Flow-Zustand schon genug Rausch erleben würde. Mit dem Rausch meine ich eine der vier Arten göttlicher Begeisterung wie sie Platon im Phaidros erwähnt, deren mythologische Vertreter Dionysos, Eros, Apoll, die Musen und nach Julius Evola fünftens vielleicht noch Mars sind. Vereinfacht wird der Rausch also bewirkt durch 1. Alkohol und Drogen, 2. Liebe und Sex, 3. Religion und Mystik, 4. Kunst, 5. Krieg. Während in dem Wort Arbeit (arebeit) noch aus dem Mittelhochdeutschen Beschwernis, Leiden, Mühe stecken, gibt es im göttlichen Rausch idealerweise keine Spur davon.  

 

Es scheint mir außer Frage zu stehen, dass langfristig jeder zumindest nach der Liebe strebt, wenngleich manche diese Hoffnung auf ein fernes Jenseits verschoben haben. Ich denke, dass alle Arten des göttlichen Rausches auf die Liebe zurückzuführen sind, selbst der Krieg, nämlich als Reaktion auf den versagten Eros, sodass der Thanatos tobt und gerne zerstört, was nicht integrierbar ist. Wenn ich die Liebe im Wesen als eine lustvolle und freiwillige Verbindung verstehe, dann scheint dies auch im Alkohol- und Drogenrausch angestrebt zu werden – wenngleich auf manchmal recht stiefmütterliche Weise, wobei sich viele jedoch öffnen und angenehm abgepolstert wie vitalisiert fühlen.  Die Hoffnung auf ewige Liebe gibt oftmals einen Lebenssinn. Liebe ist der letzte Sinn, ist Selbstzweck, ist für viele Gott. So geht auch der Glaube an Gott verloren, wenn es keine Hoffnung mehr auf Liebe gibt, wie es zum Beispiel Ingmar Bergmann in seinem Film “Licht im Winter” darstellt, wo ein Priester seinen Glauben verloren hat, nachdem ihm seine Frau verstorben war, nach der er keine andere mehr lieben konnte. Wenn Gott Liebe ist und die Liebe gestorben ist, so ist auch Gott gestorben. 

 

Schließlich bedarf es selbstverständlich der Erholung, nämlich von der Arbeit und vom Rausch, um die Kräfte wieder so herzustellen, dass die Arbeit lustvoll bleiben kann. Wer ausgebrannt ist, kann weder Gutes leisten noch Lust erleben. Das (moralisch) Gute bezieht sich auf Sinn, während sich die Lust auf das Angenehme bezieht. Beides gehört mir zum Glück. Problematisch in meiner Glücks-Definition sind die widersprüchlichen Komponenten. Wer die Welle nicht zu reiten vermag, wird von ihr überschwemmt. Wer den Rausch nicht richtig dosieren kann, verliert seine Gesundheit. Glück ist für mich sinn- und lustvolle Arbeit, welche sowohl durch rauschhafte als auch erholsame Pausen unterbrochen wird. 

 

Noch habe ich keinen Auftrag, keine Berufung, von der ich besessen bin und der ich alles unterordne. Zwar bin ich Lehrer und habe das Gefühl, den Schülern in Erinnerung zu bleiben, indem ich sie manchmal motivieren kann. Zwar bin ich gelegentlich poetisch und habe ein paar gute Gedichte sammeln können. Doch insgesamt sind das zu wenige Momente, sodass ich großenteils doch nur verwalte und manchmal sogar nur notdürftig. Wenn ich begeistert bin, kann ich mitreißen, wobei die Begeisterung kommt, wenn ich Vitalität habe, in der ich poetisch gestimmt sein kann. Doch eben diese Vitalität ist nicht immer selbstverständlich im Fluss. Zu viele kränkliche, angeschlagene Phasen haben mein Leben vergraut. Wohl ist es auch eine Quelle der Liebe, die mir gefehlt hat, sei es auch nur darum, da ich Stiefmütterliches nicht an mich herangelassen habe. 

 

Statt eine richtige Berufung zu fühlen, bin ich besessen vom Willen zum Rausch. Meine Entsagung und Disziplin sind eigentlich nur darauf ausgerichtet, eine gewisse Vitalität anzusparen, damit etwa einmal wöchentlich ein Rausch genossen werden kann – Momente gesteigerten Lebens, deren Nachwirkungen mich plagen, insofern mir die Regenerationszeit zu lange dauert. Weil es zu oft vorgekommen ist, dass man mich im Alkohol-Rausch nach einem kurzen Hoch einige Stunden später nur noch dicht gesehen hat, vitalisiere ich mich während des Trinkens neuerdings auch mit Kokain, während ich eine Nacht in einem Club verbringe, damit es zu keinem Absturz kommt. Am bloßen Überleben ist wohl keiner interessiert, sondern am Wohlleben. Wenn ich mich recht besinne, impliziert der Wille zum Rausch die oben erwähnte Lust ohne Sinn – abgesehen von der Möglichkeit, durch Grenzerfahrungen weiser zu werden, indem das Bewusstseinsspektrum weiter erforscht wird. 

 

Ja, ich wünsche mir Sinn als umgreifenden Horizont, in welchem es Lust gibt. Ich habe aber nur einen schwachen Glauben, vor allem als Furcht vor einer schlechteren Wiedergeburt. Ich komme zum vorläufigen Schluss, dass ich den Primat des Willens zum Rausch hintanstellen könnte, wenn ich eine Berufung in mir wahrnähme. Dazu müsste ich Qualitäten in mir bemerken, die mich reizen, nach Vortrefflichkeit zu streben. Und zum Abermalsten: Die Grundlage ist ein Vitalitätsüberschuss, durch den ich eine Vision ununterbrochen aufrechterhalten kann. Ansonsten bleibt es beim Willen zum Rausch – eben weil die Vitalität fehlt, welche dem Dekadenten nur noch im Rausch gesteigert erscheint. Ich kann zurzeit nur darauf hoffen, dass ich neue Erfahrungen mache, eine Weisheit erlange, die meinen Willen verändert, auf einen Sinn, der mein Leben lenkt.  

 

Falls jemand die Begriffe Freundschaft und Liebe vermisst, betone ich zum Schluss, dass meine Definition diese Begriffe selbstverständlich impliziert. Ohne zu teilen, sind weder Sinn noch Lust fühlbar. Je stärker die sinnbezogene Berufung gefühlt wird, desto größer wird auch die Wirksamkeit nach außen, die ja i. d. R. bei den Geliebten, Freunden und Bekannten beginnt, wo also die Vernetzung beginnt – abgesehen von Institutionen, wo sich auch hochbegabte Einzelgänger berühmt machen könnten. Aber auch dort haben sie es ohne soziale Kompetenzen sehr schwer, wenn sie nicht sogar unterdrückt oder ignoriert werden. Gegenwärtig scheint mir das Glück in sinn- und lustvoller Arbeit zu bestehen, welche sowohl durch rauschhafte als auch erholsame Pausen unterbrochen wird. 

 

 



Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Augustus (22.11.22, 20:28)
Ein Selbstzeugnis, ein schonungsloser Blick in den Spiegel, in seine Seele, mit all seinen Vor- und Nachteilen, als der Prot. wagte hineinzublicken. Aber allemal ist es ein Leuchten in die eigene Persönlichkeitsstruktur, seine Wünsche, seine Ansichten, seine Lüste und Leidenschaften. So spricht zu uns kein gesteigerter, herumirrender Werther, wenn er von Genialität spricht und das kleinkarierte Bürgertum und die Bourgeoisie verachtet, sondern vielmehr ein junger Thomas Mann der uns in das Innenleben des Prt. entführt, der in einer kapitalistichen Welt als Lehrer arbeitet, um im nächten Zug uns von Pläsier und Konvivialität erzählt, denen er bewusst nachgeht, um einen Mittelweg zu gehen, einen Weg der zwischen den Anspruch einer Gesellschaft an ihn und den eigenen Ansprüchen an die seine Inidvidualität, führt.

Salve
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram