Warum ich ungerecht bin (17.09.2023)

Essay zum Thema Arroganz

von  Hamlet

Wenn ich darüber nachdenke, warum ich leide, ist zu erkennen, dass ich mich mit den Vortrefflichen in allen Bereichen vergleiche: früher als Kampfkünstler mit Bruce Lee, als Erotiker mit zeitgenössischen Don Juans, als dämonischer Einzelgänger mit Robert De Niro, als Lehrer mit Robin Williams in “Der Club der toten Dichter”, als philosophischer Schriftsteller mit Nietzsche, als Dichter mit Goethe, Hölderlin, Benn und Rilke – und sehe nur Mängel an mir, aber besonders das Laster der Sucht, dann den Mangel an grundlegender Vitalität, durch welche mit Talent und Willenskraft gepaart bestenfalls eine Meisterschaft erreicht werden könnte – eine Meisterschaft und nicht alle zusammen. 

 

Aber selbst einer dieser Bestfälle würde mich unzufrieden lassen, insofern die übrigen Meisterschaften verkümmert blieben. So wäre mein Ideal also der Dandy, der sowohl intellektuelle als auch lebemännische Genialität verströmt, der sowohl dichtet als auch fechtet, der (wie Goethes Faust) erobernd die Weisheit sucht. Früher waren das vielleicht Lord Byron oder der junge Goethe, um zwei Dandys zu nennen, die keine physischen Hemmungen hatten im Gegensatz zu Schiller, Nietzsche, Thomas Mann, die viel aus Krankheit schufen. Dem (idealen) Dandy strömt die Poesie aus Überschuss und nicht aus Lebensmangel. 

 

Heutzutage bleibt eher die Identifikation mit einem Superstar, der sich auf vielen Ebenen entwickelt hat, wie etwa ein Robert De Niro, ein Al Pacino, ein Tom Cruise, ein Leonardo Di Caprio. Allesamt übertreffen mich in den Tätigkeiten, die meine Werte ausmachen: gut aussehen, erotisch verführen, mutig kämpfen, anführend siegen, spielend erobern, durchs Leben tanzen, aber auch groß scheitern. 

 

Gerechtigkeit heißt, jedem das Seine: Gleichen das Gleiche (absolute Gleichheit), Ungleichen Ungleiches (proportionale Gleichheit). Ich habe woanders schon darüber nachgedacht, dass es gerecht sei, dass Superstars mehr geliebt werden. Sie bekommen mehr Liebe, weil sie auch viel mehr geben als ein Durchschnittsmensch. Der geniale Superstar geniert sich, zeigt sich nackt vor der Kamera, gibt Prinzipielles, Extremes, offenbart Dämonisches, opfert sich und verbrennt in seiner starken Lebensflamme. Der Zuschauer profitiert von seinem Licht, lernt die Lebensprinzipien, entwickelt also Weisheit, womit mancher Superstar das Höchste gibt. 

 

Der naturgegebene Unterschied zwischen den Menschen wäre gerecht, wenn sich jede Hochbegabung durch den Fleiß in einer Prä-Existenz verdient worden wäre. Gerecht wäre die Welt nur, falls einst alle gleichbegabt und willensfrei gewesen wären und sich jeder die langfristig krassen Unterschiede erarbeitet hätte. Wer eine metaphysische Gerechtigkeit (Karma, vielleicht auch Gottes unerklärlichen Ratschluss) annimmt, kann dem natürlichen Neid entkommen. Der natürliche (nicht pathologische) Neid entsteht meistens aus dem Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein. Wenn also die naturgegebenen Unterschiede durch eine metaphysische Gerechtigkeit zustande kommen, ist es nicht ungerecht, dass ein gesunder Hochbegabter, der mit aller Energie auf ein Ziel hinarbeitet, als Stern am Himmel leuchtet.  

 

Ich leide aber, weil ich ungerecht fühle. Denn obwohl ich den Ruhm wünsche, würde ich selbst mit entsprechendem Talent und der nötigen Gesundheit für den Ruhm nicht so viel arbeiten wollen, da ich ihn kaum feiern könnte. Wer viel feiert, verliert unter den Spitzenleuten schnell die ersten Ränge. Jedenfalls können beim Spitzensport wenige Biere schon den Unterschied ausmachen. Der Spitzensportler ist ein Asket, jemand, der trotz seines Reichtums nicht hedonistisch, luxuriös leben darf. Die härteste Arbeit zielt auf Ruhm, der nur dann das Sahnehäubchen mit Kirsche ist, wenn der Künstler seine Kunst über alles liebt, wenn sie ihm Selbstzweck ist, wenn er von ihr besessen ist, wenn sie ihm existenziell oder gar zum überschüssigen Spiel geworden ist. 

 

Meine Ungerechtigkeit zeigt sich nicht schon dadurch, dass ich mindestens 90% Schlechtere unter mir brauche, dass ich in Schulnoten gesprochen mindestens eine Eins sein will, damit ich von den Gewollten gewollt werde. Meine Ungerechtigkeit zeigt sich darin, dass ich nicht willens bin zu entsagen. Meine Ungerechtigkeit zeigt sich darin, dass ich beiläufig erreichen will, wofür sich ein anderer fast zu Tode quält. Meine Ungerechtigkeit zeigt sich darin, dass ich nur das Filet, ohne die Knochen und Schalen will. Meine Ungerechtigkeit zeigt sich darin, dass ich nur zur Arbeit bereit bin, wenn sie als spielerischer Flow erfahren wird – also eigentlich darin, dass ich ein Genie sein will: die große Ausnahme, die Arbeit nicht als Mühe, sondern als Spiel genießt, wobei eben das Leben keine große Askese, sondern ein großes Fest sein sollte. 

 

Ich leide, weil ich ungerecht fühle und ignorant gehandelt habe: ignorant gegen meine Voraussetzungen, indem ich zum Beispiel nicht auf meinen Körper gehört habe, wenn er mir zu empfindlich und zu müde schien; indem ich den Flow in Betäubungsmitteln gesucht habe. Auch wenn oftmals kein Überschuss in Lust aufgelöst werden konnte, war ich besessen von der Lust nach Lust (quasi ein Flachwichser). Meine Ungerechtigkeit liegt nicht darin, dass ich mehr bekommen will als ich bin, sondern darin, dass ich mehr sein will, damit mir im Rahmen der Gerechtigkeit das Beste zufällt. 

 

Klar, ich kann mir den psychologischen Rat selber geben: Wenn du darunter leidest, zu glauben, ungerecht zu sein, so versuche gerecht zu werden. Bleib, wie du bist. Vergleich dich immer nur mit den Schlechteren und freue dich darüber, was du hast. Sei realistisch und sieh ein, dass es einen Ausgleich gibt zwischen dem, was du deiner Umwelt gibst und dem, was du zurückbekommst. Denn im Ganzen irrt sich die Natur niemals. Wenn dir zu wenig Gutes zufällt, hast du auch zu wenig gegeben. Und wenn du trotz gutem Willen nicht mehr geben kannst, so kehre schnell zurück, dich mit den Schlechteren zu vergleichen, damit du dich nicht frustrierst. 

 

Oder wenn deine Obsession nicht von den Vortrefflichen wegkommen kann, akzeptiere deine Gegebenheiten und sei bereit, hart an dir zu arbeiten, wo du wenigstens ein kleines Talent zu meinen glaubst und es deine Gesundheit erlaubt. Doch entscheide dich für einen übergeordneten Wert und subordiniere diesem alle anderen. Vermeide den Widerspruch. Suche die Übereinstimmung von deinen Werten mit deinen Talenten. Vielleicht wirst du einst (falls es eine Wiedergeburt gibt) so ein durchs Leben tanzender Genius, dem alle Arbeit selbstgenügsames Spiel aus Überschuss ist – aber was ist dann? Wohin dann? “Der Tod ist groß. / Wir sind die Seinen / lachenden Munds. / Wenn wir uns mitten im Leben meinen, / wagt er zu weinen / mitten in uns. (Rilke) 



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Kommentare zu diesem Text


 FRP (17.09.23, 19:02)
Ich bin auch ungerecht. Zum Beispiel gegenüber Rilke, den ich nicht mag. Der Tod weint nicht. Wenn wir uns mitten im Leben wähnen / wagt er zu gähnen. So wäre ein Schuh draus geworden.
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