Bedürftige

Kurzprosa

von  autoralexanderschwarz

Wenn man tagsüber vom Balkon hinunter auf die Verkaufsstraße blickt, kommt man nicht umhin die Bedürftigen zu bemerken, die wie kleine Inseln reglos im Passantenstrom verharren und vor sich zumeist einen kleinen Becher und häufig auch ein kleines Schild mit einer emotionalen Botschaft aufgestellt haben. „Ich habe Hunger“, steht häufig auf solchen Schildern oder „Ich bin auch ein Mensch“.
So wie man sich an eine schwächende Krankheit gewöhnt, haben sich manche von ihnen dort in ihrer Bedürftigkeit eingerichtet und diese notgedrungen und im Widerstreit mit anderen  professionalisieren müssen, sie haben ihr Schild aufwändig laminiert, um es vor der Feuchtigkeit und dem Schmutz der Straße zu schützen, vielleicht sogar einen Hund, den man streicheln kann, sie sitzen sehr aufrecht und achten darauf, dass ihr Becher niemals zu voll wirkt; andere haben gänzlich unleserliche Schilder, Mühe ihre Bierflasche zu verbergen und überlassen es der Phantasie der Passanten eine entsprechende Botschaft zu ergänzen.
All dies ist aber nichts als Makulatur, entscheidend sind ihre Blicke, ihre Blicktechnik. Wie geduldige Angler harren sie aus und werfen über ihre Schilder hinweg routiniert ihre stumme Klage in die Menge. Wenn dann ein unaufmerksamer Passant jenen Punkt überschreitet, an dem sich nicht mehr unauffällig die Straßenseite wechseln lässt, wenn er so unmerklich in den Einflussbereich des Bedürftigen gerät, wenn der Blick über das Schild zum Gesicht und vom Gesicht wieder zurück zum Becher springt, wenn im Kopf des Passanten plötzlich komplizierteste Rechnungen und Gleichungen aufgestellt, Gedanken und Handlungsoptionen gegeneinander abgewogen werden, für die das Gehirn, das bis zu diesem Moment mit ganz anderen Überlegungen beschäftigt war, nur wenige Schritte Zeit zur Verfügung hat, dann sieht man selbst vom Balkon aus das Zittern an der Spitze der Angelrute.
Die meisten retten sich dann durch ein entschuldigendes Nicken, das grundsätzliche Sympathie und die ausschließlich durch einen besonderen Grund gerade unmögliche Hilfe erklären soll, andere bleiben kurz stehen oder veranschaulichen im Vorbeigehen pantomimisch das nicht vorhandene Kleingeld oder die nicht vorhandene Zeit. Nur wenige Passanten werfen etwas in den Becher.
Egal aber, wie sie sich entscheiden, die meisten gehen danach ein wenig gebeugter als zuvor. Vielleicht sind sie nur verärgert, weil man ihnen etwas genommen hat, denkt man oben auf dem Balkon, während man hinunter auf die Verkaufsstraße blickt, vielleicht haben sie aber auch in diesem Moment begriffen, dass alles relativ und jeder in dieser großen Stadt irgendwie bedürftig ist.

Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren

Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (10.08.18)
Schluss (mit direkter Rede!?) ist mir persönlich etwas zu moralinsauer, aber insgesamt gerne gelesen, diese scharfe Borbachtung.

 autoralexanderschwarz meinte dazu am 10.08.18:
Danke für den Kommentar. Ich habe die direkte Rede am Ende entfernt.
Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram