Ouvertüre eines pessimistischen Manifests

Essay zum Thema Apokalypse

von  Ephemere

Inzwischen bin ich überzeugt, dass die Geschichte der Menschheit - zumindest der menschlichen Kultur, und welche Menschheit gäbe es außerhalb der Kultur? - ihren Zenith überschritten hat und nun in immer bunteren Farben ihrer Dämmerung entgegeneilt:

Wir träumen von den Verheißungen der Digitalisierung mit der Melancholie dessen, der erlöst werden möchte - der den Cyborg, die starke KI oder die Sublimation in ein Weltnetz herbeisehnt, weil er seine eigene Last, seinen eigenen Anblick nur noch schwer ertragen kann und überwältigt, überwunden, zur Not sogar vernichtet werden möchte, nur um aus diesem goldenen Gefängnis auszubrechen.

Wir wissen nicht nur, dass wir uns unsere eigenen Grundlagen entziehen - wir können mit zunehmender Präzision das Minus berechnen und sehen mit pornografischer Faszination das Grauen, das auf uns zurollt und jedes Jahr ein wenig mehr Realität wird - doch während wir, wenn wir nur wirklich wollten, mit viel Mühe das Rad noch herumreißen könnten, bekommen wir reflexhaft noch ein paar wenige Kinder, doch suhlen uns lieber fatalistisch seufzend im Luxus zwischen SUV, Billigschnitzel und Erdbeeren im Winter, als uns vom Sessel zu erheben... die Mühe, uns oder unsere Nachkommen zu retten, scheint uns den Aufwand nicht mehr wert.

Unsere Debatten, Diskurse, vielleicht bald sogar wieder unsere Kriege dienen keinen Lebensgrundlagen und existentiellen Fragen mehr, sondern bloßer Selbstvergewisserung. Mann-Frau, links-rechts, Stadt-Land...die Haltung wird höher gewertet als ihr Gegenstand, das Sein längst unterm Bewusstsein begraben - genauer: dem Selbst-Bewusstsein. Die einzige Frage, für die heute noch jemand von uns kämpft: Wer bin ich, wie definiere ich mich und wie kann ich das erzählen. Ob es mich morgen noch gibt, ob ich von jenen, die mir Brot für meine Identität geben, zugleich meines Bluts und Atems beraubt werde, ob es nicht Wichtigeres gibt als dieses "Ich" und sein "Wie"... nämlich das "Was" - diese Frage, sie darf nicht gestellt werden, darin sind sich über die immer hysterischeren Fronten hinweg Alle einig und steinigen den Ketzer. Das "Was", erst recht das "Ob" haben wir längst schon aufgegeben, weil es dort für uns nichts mehr zu holen, nichts mehr zu lieben, ja nicht einmal mehr etwas zu hassen gibt.

Nicht zuletzt ist unsere Kultur schrecklich müde geworden: wir sind ungeduldig, unleidlich, dünnnervig, in unserer Abgeklärtheit entsetzlich oberflächlich - Zynismus, Ironie, Metaebenen über Metaebenen tanzen den Reigen mit der masochistischen Anbetung des Banalen, Trivialen, zunehmend auch des Abgefuckten...nur die schrillsten Töne, das stärkste Gift dringt noch durch, die Perversion wird zum Tonikum. Wird nur noch dem Kaputten Authentizität beigemessen und der Verdacht gegen alles Schöne, Glänzende, Gelingende, Siegreiche zur allgemeinen Doktrin - blicken wir in einen Spiegel, dessen schnellbewegte Geisterbahn nur kaschieren soll, dass wir unseren eigenen Tag der Toten feiern, dass sich unser Fleisch faul an unseren Knochen anfühlt und wir uns selbst und einander zu den lebenden Toten werden, die Sartre ausriefen ließen: "l'enfer, c'est les autres".

Die Frage stellt sich nicht: Woher diese Dekadenz kommt und was das Gegenmittel sei. Das Fest für das große Absterben ist längst bereitet. Sondern: Wie leben in einer Welt, die sich innerlich vom Leben verabschiedet hat und manisch seine Restsubstanz konsumiert, während sie ins Grab tanzt? Was wird die Minderheit tun, denen das Feuer in den Herzen, den Lenden und im Geist nicht erloschen ist, die der Erde treu bleiben wollen? Werden sie ihre selige Insel finden, von der aus sie indifferent dem Untergang zusehen können? Werden sie geächtet, gar gejagt werden?

So oder so: sie werden sich von "der Menschheit" beizeiten - sehr bald schon - lossagen müssen.

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Kommentare zu diesem Text


 Habakuk (16.10.18)
Yeap!

 Dieter_Rotmund (16.10.18)
Aber hallo.

Zenith -> Zenit

Die Schreibweise "Zenith" hat sich hier und da noch in Schiffsnamen u.ä. erhalten ist aber nicht (mehr) korrekt.

Man spricht zwar oft von der "Insel der Seligen", aber "selige Insel" eher nicht, die Landmasse an sich kann ja nicht seelig, d.h. trunken, glücklich o.ä. sein.

In einem Text die Frage zu stellen, ob es denn nicht etwas wichtigeres gäbe als das "Ich", denselben aber mit einem "Ich" beginnen zu lassen, finde ich etwas unglücklich gelöst.

Kommentar geändert am 16.10.2018 um 12:22 Uhr

 Ephemere meinte dazu am 16.10.18:
Die "selige Insel" ist eine Verneigung vor Nietzsche (Zarathustra: "die glückseligen Inseln"), der es sehr, sehr früh und recht präzise kommen sah.

Vor dem "Ich" ins "man" oder "es"+Passiv zu flüchten, nur um den Fetisch ums "Ich" zu kritisieren, fände ich feige.

Liebe Grüße!
J

 Dieter_Rotmund antwortete darauf am 17.10.18:
Ja, sicher, sehe ich auch so, aber man könnte den ersten Satz so unstellen, dass das "ich" nicht mehr ganz vorne steht. Ist nur ein Vorschlag.

 Ephemere schrieb daraufhin am 18.10.18:
word...siehe edit
Graeculus (69)
(16.10.18)
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Echo (34) äußerte darauf am 17.10.18:
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 TrekanBelluvitsh (16.10.18)
In so gut wie allen Punkten stimme ich deiner kurzen knackigen Analyse zu. Auch die Polemik tut ihr keinen Abbruch. Im Gegenteil. Es ist auch kein Zeichen von Zynismus bei dir als Autor. Du schreibst über eine zynische Welt. So einfach ist das.

Deiner Schlussfolgerung stehe ich jedoch ambivalent gegenüber. Auf der einen Seite wünsche ich mir ein Zusammenkrachen, den der Mensch lernt nur durch Schmerz. Auf der anderen Seite waren die Lerneffekte z.B. durch die Finanzkrise eher bescheiden. Man denke nur daran, dass die Deutschen sich monatelang über die bösen Griechen beschwert haben, landauf, landab, in allen Medien, ganz gleich ob diese klassisch oder neu waren. Nein, was haben wir Deutschen doch unter den Griechen gelitten *ächtz* (Wie neulich bekannt wurde, hat allein der deutsche Staat an der Griechenland-"Hilfe" 3,8 Milliarden € verdient - psst, nicht weitersagen...)

(...) tanzen den Reigen mit der masochistischen Anbetung des Banalen, Trivialen (...)
Auch das findet meine Zustimmung. Allerdings sehe ich darin keine neue Entwicklung.

Ich meine, früher haben wir aus dem Urlaub Postkarten versendet. Dem aufmerksamen Beobachter ist damals schon aufgefallen, dass sich auf den Karten aus Rimini oder Mallorca zwar der Strand im Hintergrund unterscheidet, die barbusige Frau im Vordergrund aber dieselbe und zum Zeitpunkt der Kartenversendung womöglich sogar schon tot war.

Immerhin konnten wir die Banalität dann immer noch auf die Postkartenhersteller schieben. Auf die Dauer hatte dies (die Banalität) sogar etwas Belustigendes, eine Art kulturkritischen Nährwert.

Heute laufen wir mit unseren Klugscheißtelefonen herum und fotografieren selbst. Nun können wir die Banalität nicht mehr auf andere schieben. Sie ist das direkte Ergebnis unseres Tuns. Und heute können wir hunderte oder gar tausende Fotos schießen. Wie kurzweilig kommt einem da doch Onkel Erwins Diashow vor. Immerhin hatte der nur vier 36-Bilder-Filme verschossen. Und manche Aufnahmen waren gar nichts geworden!

Dies ist ein harmloses Beispiel. ich könnte es noch auf andere Bereiche ausdehnen, wie z.B, die Religion. Das lasse ich jedoch mal. Auch schon daran sieht man, dass der "Reigen mit der masochistischen Anbetung des Banalen, Trivialen" keine Erfindung unserer Zeit ist. Doch während man sich früher noch in seiner Kammer einschließen und bei Goethe und Schiller so tun konnte, dass es anders sei und z.B. von Deutschland als dem Land der Dichter und Denker schwadronieren konnte, macht die Digitalisierung, mit der wir ja auch unserem Zählfetisch frönen (Count Count), das Banale und Triviale so sichtbar, dass man es nicht mehr übersehen kann.

Das hat natürlich auch sogleich die Problemlöser auf den Plan gerufen. Religionen, Konsumismus und Rechtpopulisten versprechen die Befreiung. Dabei zeiget deren "Denken" ebenfalls genau auf, dass es sich um ein uraltes Problem der Menschheit handelt. Schon zur Zeit des antiken Griechenlands hatten die Menschen den Untergang redlich verdient. Es gibt uns bis heute.

Die Welt mag sich dahingehend geändert haben, dass wir mit Bevölkerungswachstum und Umweltverschmutzung und -zerstörung mittlerweile wirklich in der Lage sind, die Gattung Menschen einer "Endlösung" zuzuführen. Das konnten die alten Griechen sicherlich nicht. Sollte dies geschehen, sind die Gründe dafür jedoch nur zu einem geringen Anteil Banalität und Trivialität, viel eher Dummheit und Faulheit (gerne auch Denkfaulheit).

Wir werden es erleben...

 Ephemere ergänzte dazu am 16.10.18:
Mit Sicherheit ist die Dekadenz von Kulturen nichts Neues. Neu ist, dass a) diese Seuche sich durch Digitalisierung und Globalisierung weltumspannend ausbreitet, statt nur lokale Zivilisationen dahinzuraffen, b) wir in der Tat die Möglichkeiten zu unserer Überwindung in der Hand zu halten wähnen und darüber ganz geil werden und c) wir nicht nur die Fähigkeit zur kollektiven Selbstzerstörung haben, sondern diese auch täglich ganz praktisch auf uns zukriechen sehen, doch passiv bleiben, statt sie aufzuhalten (wo z.B. im kalten Krieg der Protest im Angesicht eines möglichen nuklearen Holocausts recht heiß war).
Ich wünsche keineswegs den Untergang und gönne es auch niemand. Man sägt nicht am Ast, an dem man sitzt, egal wie es stinkt! Doch sägen wir eben doch, und derzeit erscheint mir der Untergang wahrscheinlicher als andere Szenarien. Zumindest für ein pessimistisches Manifest.
Wobei: heute am Bahnhof stand ein altes Klavier herum und Menschen jammten einfach spontan darauf, virtuos und leidenschaftlich, und alle standen stundenlang mit glänzenden Augen. Vielleicht gibt es doch Hoffnung.
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