Die Glasperle

Märchen zum Thema Egoismus

von  tastifix

Es war einmal ein kleines Mädchen. Emmi war fünf Jahre alt. Ihr fehlte es an nichts: Sie hatte liebevolle Eltern, nette Freundinnen im Kindergarten, schöne Kleider und ganz viele Spielsachen.
Eines Tages schenkte ihr die Mutter eine Glasperle. Die hing an einem bunten Band. Hielt Emmi sie ins Helle, funkelte sie in allen Farben. Kein anderes Spielzeug machte Emmi soviel Freude wie die Perle.  Doch diese barg ein Geheimnis:

Eines Abends - Emmi war mit ihren Eltern in einem tollen Freizeitpark gewesen – war sie schrecklich müde und kaum, dass sie im Bett lag, war sie eingeschlummert. Sie lächelte im Schlaf, denn sie hatte viel Schönes und Aufregendes erlebt, war Achterbahn gefahren, hatte sich in die Geisterbahn getraut und zwischendurch hatten ihr die Eltern sogar ein Eis spendiert. Aber es gab noch einen zweiten Grund, weshalb sie so froh ausschaute. Den aber kannte nur Emmi.
Sie war sehr eitel und träumte nämlich, eine Prinzessin mit einer Krone auf dem Kopf zu sein und auch, dass die Glasperle nicht mehr nur aus Glas, sondern ein echter blitzender Diamant war. Alle in ihrem Schloss, die Kammerzofen, die Diener und selbst die Köche aus der Schlossküche bewunderten den Schmuck. Doch noch viel mehr ihre kleine Prinzessin, denn Emmi war ein sehr hübsches Mädchen mit riesigen blauen Augen und langem, blonden Haar.
Während Emmi also im Traumland herum spazierte und sich die Stunden damit vertrieb, die vielen romantischen Kleider und Schuhe aus den königlichen Kleiderschränken anzuprobieren und nur noch daran dachte, veränderte der Diamant um ihren Hals seine Farbe. Nicht länger funkelte er hell, dass es fröhlich stimmte, sondern er verlor immer mehr sein Glänzen, bis er schließlich gar nicht mehr schimmerte.
„Prinzessin, Prinzessin, Ihr Diamant!“, riefen die Kammerzofen erschrocken.
Emmi wurde blass und jammerte:
„Mein schöner Schmuck. Der muss doch leuchten!“
Und sie weinte bitterlich, so, als ob es nichts Wichtigeres auf der Welt gäbe als diesen Schmuck. Sie dachte mit keinem Gedanken daran, dass manche Kinder in anderen Ländern gar kein Spielzeug hatten und nur froh waren, wenn sie genügend zu essen bekamen. Nein, anscheinend war ihr das völlig egal. Hauptsache, sie besaß Kleider aus Seide und teueren Schmuck und ihre größte Sorge war es, bloß niemals den Diamanten zu verlieren. 
Nach einem ihrer Spaziergänge durch den Park sank sie abends erschöpft in ihr Prinzessinnenbett mit der rosa Bettwäsche. Um den Hals trug sie wie stets noch die Perle. Doch diese Nacht träumte sie einen Traum, der ihr gar nicht gefiel:  Ihre Perle, ihr Diamant war nicht länger ein wertvoller Stein, sondern ein unscheinbarer grauer Kiesel, der ständig dicker wurde und dann ganz schwer an ihrem Hals hing.  Und dieser hässliche Kiesel konnte sprechen: 
„Emmi, Emmi! Ist dir dies alles so wichtig? Ist nicht Anderes viel wichtiger? Ich werde dir zeigen, wie es draußen in der Welt zugeht!“
Mit weit aufgerissenen Augen starrte Emmi ihn an. Wie konnte der wagen, so mit ihr zu sprechen? Schließlich war sie eine Prinzessin und einer Prinzessin gegenüber geziemte sich das wirklich nicht.
„Ich will nicht! Ich bleib` hier in meinem Schloss, in dem alles toll ausschaut und in dem vor allem alles mir gehört! Der Rest der Welt ist mir egal!!“
„Emmi, Emmi! Ob Du willst oder nicht: Du stehst sofort auf und ziehst dich an!!“
Erschrocken setzte sich Emmi auf. So streng redete sonst niemand mit ihr und nun  ausgerechnet ihre einst geliebte Perle.  die jetzt so hässlich war. Ärgerlich wollte sie das Band mit der Perle vom Hals streifen, doch es umschloss jenen wie eine bedrohliche Fessel. Verunsichert erhob sich Emmi, schlüpfte in ihr Seidenkleid, knüpfte sich noch ein Schmuckband ins Haar und streifte die königlichen Sandalen über. Kaum war sie fertig angekleidet, zerrte die Halskette sie zum Fenster und hinauf auf das Fensterbrett. Die Fensterflügel waren geöffnet und Emmi wurde ins Dunkle der Nacht gestoßen.
„Hiiilfe!“, schrie sie, doch niemand vernahm ihr Schreien.
Ein starker Wind brauste auf und trug Emmi fort. Ihr Schloss blieb weit hinter ihr zurück wie auch ihr geliebtes Pony auf seiner Weide. Sie flog über Berge und Täler. Es war alles völlig fremd für sie. Hier gab es keine bunten Blumen, keine prachtvollen Bäume und erst recht keine glitzernden Seen wie im Land ihres Vaters, in ihrer Heimat. Dagegen war alles karg und armselig. 

Da befahl ihr die Perle:
„Ich verbiete dir, den Blick abzuwenden. Gleich wirst Du Kinder sehen, völlig abgemagert und halb verhungert, die kein Bett ihr Eigen nennen, sondern auf nackter Erde liegen und sich notdürftig mit ein paar Blättern zudecken. Sie haben keine Eltern, keine Freunde und sind froh, wenn sie am nächsten Tag noch aufwachen, wenigstens Luft atmen können. Niemand ist da, der ihnen helfen würde.“
Was Emmi sah, war so grausam, dass es endlich ihr Herz rührte.
„Die Armen!“, flüsterte sie.
Unwillkürlich betrachtete sie ihr eigenes wunderschönes Kleid und die hübschen Schuhe an ihren Füßen. Und ohne es zu wollen, streifte ihr Blick die Perle, die doch so hässlich geworden war. Aber jetzt schien es ihr, als ob jene ein wenig kleiner geworden wäre und auch wieder etwas schimmerte. Emmi schämte sich so wie noch nie in ihrem Leben.
„Ich will, dass sie nicht mehr leiden müssen. Was kann ich nur tun?“

Zum ersten Male grübelte sie darüber nach, wie sie Anderen vielleicht helfen konnte.
´Ich hab alles, was sich ein Kind nur wünschen kann: Mama, Papa, ein tolles Zuhause, Spielsachen und ganz viele schöne Kleider. Und jene dort unten haben gar nichts!`
Plötzlich ging ein Leuchten über ihr Gesicht.
„Ich schenke denen meine Kleider und auch Spielsachen. Und dann bitte ich Mama und Papa, dass sie dafür sorgen sollen, dass keines dieser Kinder mehr Hunger und Not leiden muss!”
Eigenartig: Auf einmal wurde ihr so wohl und warm ums Herz. Sie war viel glücklicher als wenn sie schon wieder neue Kleider oder Spielzeug bekommen hätte. Zunächst zeigte sich nur ein kleines Lächeln in ihrem Gesicht, das aber schnell zu einem glockenreinen Lachen wurde.
Nochmals schaute sie auf ihr Prinzessinnenkleid und rief, ohne deswegen etwa traurig zu sein: 
“Auch das schenk ich einem der Kinder!!”

Im selben Moment trug sie nicht länger den grauen, hässlichen Kiesel um den Hals, sondern dort leuchtete und strahlte eine Perle, die noch tausendmal schöner glänzte als die, die sie bislang wie einen Schatz gehütet hatte.
“Du hast Dich geändert. Du bist ein gutes Kind!”, lobte die Perle.
Wieder blies der Wind, doch nun war es eine sanfte Brise, die das Mädchen fürsorglich nach Hause wehte. Niemals mehr würde Emmi vergessen, wie gut es ihr selber ging und was dagegen Andere entbehren mussten.

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Kommentare zu diesem Text


 Alex (16.05.19)
Was für eine wunderschöne Geschichte.

 tastifix meinte dazu am 16.05.19:
Liebe Xenia!

Dankeschön für Deinen lieben Kommetar und danke auch für die Empfehlung des Textes.

Hab ein schönes Wochenende.

Liebe Grüße
Tastifix


Ta
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