Niemand

Märchen zum Thema Einsicht

von  tastifix

Es sass unglücklich inmitten einer schönen Wiese. Rundum zwitscherten die Vögel, surrten die Insekten und blühte es in allen Farben. Keiner kümmerte sich um jenes Häuflein Elend, dessen Eltern beim Baden ertrunken waren und das weder seinen Namen kannte noch eine Ahnung davon hatte, wer oder was es eigentlich war. Es war eben niemand.

Nun konnte es ja nicht ewig dort sitzen bleiben, denn, wenn es Nacht wurde, kam die Kälte und es fror jämmerlich. Denn wo sein Zuhause war, wusste es natürlich auch nicht.

Irgendwann knurrte ihm der Magen und es wanderte durch die Wiesen bis in den Wald. Dort pflückte es sich Beeren gegen den Hunger und trank ein paar Tropfen des Regenwassers, dass von den Blättern der Bäume perlte. Das musste genügen.

Wäre es doch nur nicht so einsam gewesen, hätte es doch einen Kameraden an seiner Seite gehabt, dem es seinen Kummer hätte klagen können. Aber da war keiner. Es blieb nach wie vor allein.

Doch damit wollte es sich nicht abfinden. Die Einsamkeit machte es nämlich traurig und trauriger und schließlich fast krank, so sehr litt es darunter. Weil es hoffte, irgendwann, irgendwo Freunde zu finden, wanderte es weiter und weiter, über fremde Wiesen und Felder und auch durch ausgedehnte Wälder, die es vorher noch nie gesehen hatte.

Nachts suchte es sich eine Höhle und wühlte sich in einen Laubberg, der es vor der grimmigen Kälte schützte. Des Tags hielt es nichts an einem Orte, denn es war auf der Suche nach seinem Ich.

Als es so mehrere Tage unterwegs gewesen war, spazierte es einmal durch ein kleines Dorf am Waldesrand. Es grüßte die Leute freundlich mit einem Kopfnicken und siehe da, sie grüßten genauso höflich zurück.

Ein Mann fragte:
„Wer bist du und woher kommst du?“
„Ich bin niemand und komme von weither“, antwortete es.
„Niemand...ein wunderlicher Name!“
Der Mann schüttelte verständnislos den Kopf.
„Dann wünsch` ich Dir noch eine gute Reise, Niemand“, setzte er noch hinzu und schaute ihm noch nachdenklich hinterher, als es seines Weges ging.

Wieder verging fast ein halber Tag. Die Sonne stand hoch am Himmel und es wurde glühend heiß. Niemand war müde vom anstrengenden Wandern, durstig war es auch und bummelte auf der Suche nach einer Raststätte durch eine kleine Stadt.
„Wie heißt du?“, fragten es neugierige Passanten.
„Niemand“, entgegnete es.
„Wiiee?“, staunten sie und meinten:
„´Niemand` ist doch kein Name. Wer oder was bist du?“
Niemand blieb ihnen die Antwort schuldig. Was hätte es denn auch sagen sollen? Sie hätten es nicht verstanden und es vielleicht sogar verspottet.

Seufzend nahm es sein Ränzlein und verliess die gastliche Stadt.
„Träfe ich doch nur ein Wesen, das mir sagen könnte, wer und was ich bin und woher ich komme. Als Niemand werde ich bald zugrunde gehen!“
Mit hängendem Kopf marschierte es weiter und hatte fast schon die Hoffnung aufgegeben, als es am Waldesrand auf einem Baum eine Eule sitzen sah.
„Hallo!“, rief sie es fröhlich an. „Wart` doch mal. Wer bist denn du?“

Die Neugierde liess dem Vogel keine Ruhe. Er flatterte herab und setzte sich vor ihm auf den Boden.
Verschämt und ganz leise gab es Auskunft:
„Ich bin niemand, kenne meine Eltern nicht, weiß nicht, was ich bin und woher ich stamme“.

Mitleidig meinte die Eule:
„Du weißt nicht, wer Du bist??“
Irgendwie konnte sie sich so etwas einfach nicht erklären. Jeder, den sie kannte, wusste, wo er zuhause war, wer er war und wer seine Eltern waren.
„Hm!“, machte sie und gleich noch einmal: „Hm hm!“
Sie schaute in das ratlose Gesicht da vor ihr und dachte:
„Dem muss geholfen werden! – Aber wie?“

Das arme Niemand hatte schrecklichen Durst:
„Du, Eule, ich brauche unbedingt etwas zu trinken! Weißt du zufällig, ob es hier in der Nähe Wasser gibt?“
Da die Eule ein sehr kluger Vogel war, brachte diese Bemerkung unseres Niemandes sie auf die einzig richtige Idee:
„Gleich da vorn, ein paar Meter weiter, ist ein kleiner See. Komm, ich begleite dich dorthin.“

Ein wenig getröstet lief es an der Seite der Eule zu dem klaren See. Es wehte kein Lüftchen und der See lag vollkommen ruhig da. Die Wasseroberfläche war so glatt und durchsichtig wie ein Spiegel. Niemand beugte sich über das Wasser und schöpfte von dem herrlichen Nass, bis es sich erfrischt und seinen Durst gelöscht hatte. Die Eule stand neben ihm und lächelte.

„Guck` doch mal ins Wasser. Was siehst du da?“
Verwirrt sah es die Eule an und konnte dann doch nicht umhin, einen scheuen Blick ins Wasser zu werfen. Ein braunes Gesicht blickte ihn an.
„Und?“. fragte der Vogel gespannt.
„Ich sehe mich, einen Niemand!“, entgegnete es traurig.
„Irrtum!“, behauptete die Eule und erklärte weise. „´Niemand` würde sich nicht im Wasser spiegeln. Also, was siehst du?“, hakte sie nochmals nach.

Es überlegte und grübelte, aber dann begann es zu verstehen. Ungläubig gab es Antwort:
„Ich sehe jemanden!“
Die Eule lachte und freute sich mit ihm.
„Ich sehe mich! Ich bin`s, ich bin jemand!!“
Laut lachend sprang es jubelnd in die Luft, wieder und wieder.
„Eule, ich bin kein Niemand. Ich bin Wer!!“

All sein Trübsinn war verflogen. Es genoss den Anblick des Sees, der zum See der Erkenntnis geworden war, liess seinen frohen Blick über die Wiesen und Felder streifen und freute sich am Gesang der Vögel dort oben am Himmel.
„Danke, Eule!“, sagte es innig.
„Wie schön wäre es, wenn sie mir auch verraten könnte, wer eigentlich ich bin und wo mein Zuhause ist.“, dachte unser Niemand, das jetzt ein Jemand war.

Als ob sie seine Gedanken gelesen hätte, verriet ihm die Eule:
„Du bist ein Frischling aus dem Wald jenseits des Sees. Dort lebt deine Familie. Du hast eine Menge Verwandte, Tanten, Onkel und viele Geschwister. Komm, ich bring` dich zu ihnen nach Hause.“

Auf dem Wege dorthin trafen sie eine Gruppe von Spaziergängern.
„Hallo, wer bist du denn?“
Stolz mit hoch erhobenem Kopf sagte es, dass jetzt kein Niemand mehr, sondern ein Jemand und sogar ein Wildschwein war:
„Ich heiße Wildschwein und meine Familie wohnt dort hinten im Wald!“

Glücklich strahlte es die Eule an. Nie mehr wäre es gezwungen, allein zu bleiben. Es war Jemand, kannte seinen Namen und wusste auch, wo sein Zuhause war.

Von da an wurde es von allen geachtet.

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Kommentare zu diesem Text

The_black_Death (31)
(25.11.06)
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 tastifix meinte dazu am 30.11.06:
Guten Morgen, The_Black_Death!

Dankeschöön für dieses tolle Kompliment!!

Liebe Grüße
tastifix
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