Thomas Collmer: Die Leerheit. Experimenteller Roman

Rezension

von  Hans

Thomas Collmer: Die Leerheit. Experimenteller Roman

Die europäische Philosophie betrachtet die Welt seit der Renaissance vorwiegend aus der Perspektive des Subjekts. Das Ich sieht die Welt, wie sie ihm erscheint. Ihr Wesen bleibt ihm nach Kant verschlossen, das berühmte „Ding an sich“ bleibt unerkannt.
Hegel gibt sich damit nicht zufrieden, sondern geht aufs Ganze. Ihm zufolge setzt die Welt der Erkenntnis kein Hindernis entgegen. Sein Werk formuliert die Gedanken Gottes, wie es sinngemäß in der „Wissenschaft der Logik“ heißt . Ein Wahnsinnsprojekt, dessen Faszination jeden, der sich damit beschäftigt, in seiner Maßlosigkeit und seinen Dimensionen beeindruckt.
Thomas Collmer erforschte jahrelang die Dialektik Hegels und schrieb dazu grundlegende Arbeiten.
Von März 2017 bis März 2019 (s. Seite 282) verfasste er den vorliegenden experimentellen Roman.
Die Perspektive seines Protagonisten Robert ermöglicht einen Abstand zu seiner eigenen Person und deren Erfahrungen.
Zunächst geht es dem Selbst an den Kragen. Schon in der dritten Zeile steht:“...ist das Münchhausentum des Selbst, das sich am eigenen Schopf aus dem Schlamm zieht“.
Das Ich, Dreh- und Angelpunkt der Phil- und Psychologie: ein Lügenbaron, der an seine eigenen Phantasmen glaubt und um sie kreist wie die Motte um das Licht.
Robert und Maleen.
„Robert merkte, dass sein Interesse an der Welt auf dem Rückzug war. Aber er dachte an Maleen. „Sex ist was für Teenager“, hatte sie gesagt. Sie hatte recht. Aber eine freundschaftliche Verbundenheit war da. Sie wog schwerer als etwaiges Sex-Getue. So machte man sich wenigstens nicht zum Narren.“ (S.2)
Nach der Kündigung seines Jobs leitet Robert eine Arbeitsgruppe zur Dialektik. Wichtige Teilnehmer: Juliane, Manfred, Wolfgang.
Robert entwickelt das Konzept der „offenen Dialektik“, das ich attraktiv finde.
Die kluge Juliane bringt den Buddhismus ins Spiel. Robert, der sich bisher damit nicht auseinandersetzte, verspricht sich damit zu befassen.
Nach drei Monaten Studiums entsteht der Aufsatz:
„Negative Dialektik im Buddhismus. Notizen zu Nagarjuna, Die Philosophie der Leere“ ( ab Seite 19).
Im Tagebuch beschreibt Robert seine Krankheitssymptome. Eine Psychose. Ich ertappe mich, wie ich über die Angaben zu den verschriebenen und eingenommenen Medikamenten hinweg lese und die präzise beschriebenen Gemütszustände. Harte Kost, vor der ich mich drücke.
Maleen, die Robert in dieser Phase hilfreich beisteht, lernt einen Mann kennen und lieben. Gilt der Spruch über den Sex auch für den ?
Robert vertieft seine Bemühungen um den Buddhismus.
Das Gedicht „Die Leerheit (I) (S. 151,152) wirkt wie eine Variation auf die fünf Wahrheiten des Buddha, angereichert mit stoischer Unerschütterlichkeit. Das Ich, eine Illusion, „Alle Anhaftungen sind aufzugeben“, die Gegensätze relativ, das Leben ein Traum. Dagegen (was nicht recht dazu passt): „Das Erwachen: Befreiung, Erlösung...“. Das Ziel (passt wieder nicht):“Leerheit der Leerheit“.
Darin besteht die Erleuchtung des indischen Prinzen, dem sein mächtiger Vater den Anblick des Leids ersparen wollte. Welcher Vater wünscht sich das nicht für seine Kinder? Für sie solls rote Rosen regnen, ihnen sollen alle Wunder begegnen, frei nach H. Knef. Liebe macht nicht nur blind, sondern kindisch. Der spätere Buddha verlässt Frau und Kind, zieht in die Welt, fastet, meditiert und findet schließlich einen Ausweg aus dem Kreislauf der leidvollen Wiedergeburt, der bis zum heutigen Tag viele Menschen in allen Erdteilen in seinen Bann schlägt.
Eine seiner Einsichten: Askese bringt nichts. Die Zumutungen des Lebens und des Leidens gründen im Verlangen oder Durst. Die „westliche“ Lösung und das Versprechen: erfülle das Verlangen und du wirst - wenn schon nicht glücklich – zufrieden. Die Schwundstufe dieser Ideologie zeigt sich in der nicht endenden Gier nach Konsum. Die Konsumenten wissen letztlich nicht mehr, was sie brauchen und wollen, weil sie ihre Bedürfnisse mit der Werbung verwechseln oder gleichsetzen oder sonst was. Ein Teufelskreis.
Dazu im Gegensatz Buddhas Vorschlag: überwinde das Verlangen mithilfe des achtfachen Pfads. Mit Achtsamkeit, Konzentration und Meditation gelingt es. Du durchbrichst den Kreislauf des Leids und wirst erlöst von der drohenden Wiedergeburt. Du befreist dich von den Anforderungen des Lebens und erfährst schon hier und jetzt die Leerheit als erstrebenswertes Ziel des Daseins.
Ist es das, was Janis Joplin meint, wenn sie singt. „freedom is just another word for nothing left to loose“? Vermutlich nicht. Fraglich, ob ein Westler in die Abgründe des Buddhismus eindringen kann. Thomas versucht es.
Dann ein Aufsatz: „Identität, Ich, Unbewusstes, Leib und Seele bei Friedrich Nietzsche“ (S.177 – 196).
Dann zwei Studien „Zur Kritik an von Menschen verursachter ökologischer Zerstörung bei Karl Marx (S.214 – 242) und „Notizen zur Dialektik beim jungen Marx“ (S. 245 -255), dazwischen „Aus Roberts Notizbuch“ ( S. 243 – 244) mit den eindrücklichen Sprüchen zur Widersprüchlichkeit, Haltlosigkeit und Vergeblichkeit des Ich.
„Das Ich ist ein Ausruf, der selbst nicht an das glaubt, was er (!) sagt.“
„Das Ich ist ein Barthaar, das bei der letzten Rasur stehengeblieben ist.“
„Das Ich ist ein Ton, der verklang, ehe er verarbeitet werden konnte.“
( S. 244)
Offensichtlich handelt es sich um ein Rätsel, dieses unerkannte Ich, an dem die Phantasie Roberts sich entzündet. Es bleibt ein vorbeihuschendes Phantom, das sich der Deutung und dem Zugriff entzieht. Aber nicht alles Vergängliche ist illusionär, wie schon Platon meinte. Vielleicht liegt in der Vergänglichkeit des Ich und damit unserer Existenz gerade deren Größe, die es gilt auszuhalten. Dazu gehört die quälende Ungewissheit, die damit verbunden ist. Eine schwierige Situation, auch für einen Agnostiker.
Robert ist psychisch krank: „Robert hat immer noch Angst, dass die Stimmen wiederkommen könnten...“ (S. 196)
In „Ausschnitte aus Roberts Tagebuch (2018)“ (S. 199 – 208) beschreibt er einen Fahrradunfall, bei dem er sich den linken Arm bricht. Ich lese die Zeilen mit Schweiß auf der Stirn. Kindheitserinnerungen. Nein, ich will das nicht.
Die Weite und Gedankenvielfalt des Buchs erfasst diese Rezension nicht. Ich will und kann nur einen Eindruck vermitteln. Leser mit Geduld und Durchhaltevermögen werden sich eigene Gedanken zu diesem Roman machen. Erschienen in:

Rollercoaster – Zeitschrift für Philosophie und Literatur  # 11/12  April 2019, 282 Seiten,  gibt es für 10 Euro bei:
Thomas Collmer , Elsterweg 4, 22926 Ahrensburg

Vom gleichen Autor:

„Pfeile gegen die Sonne
Der Dichter Jim Morrison“, 2 Bände, 1000 Seiten, 4.Auflage 2009, Maro-Verlag Augsburg, 34 Euro

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